Das Jahresende ist für viele Menschen eine Zeit des Rückblicks und des Neubeginns. Nichts symbolisiert diesen Übergang so deutlich wie das Silvesterfest. Doch während für viele der Jahreswechsel mit Feiern und Vorfreude auf das neue Jahr verbunden ist, stellt diese Zeit für einige Patient:innen eine besondere Herausforderung dar: Zum Beispiel dann, wenn der Blick auf das vergangene Jahr geprägt ist von Gedanken an nicht erreichte Ziele, vertane Chancen oder wenn ein Gefühl der Vergänglichkeit vorherrscht. Und genauso kann es sein, dass es unseren Patient:innen schwer fällt, mit Hoffnung und Zuversicht in das neue Jahr zu blicken und Wünsche, Träume und Zukunftsperspektiven zu finden, die erreichbar scheinen.
Zusätzlich treten gegen Jahresende in den Therapiesitzungen häufig viele weitere Themen in den Vordergrund. Das können u.a. sein: Stressbewältigung, Selbstabgrenzung, Alkoholkonsum, der Umgang mit Familienmitgliedern der Patient:innen, oder aber auch mit Einsamkeit. In jedem Fall ist es wichtig, dass wir als Psychotherapeut:innen diese Zeit als eine für Patient:innen potenziell ausgesprochen vulnerable Zeit begreifen, gerade auch weil häufig in diesen Wochen nur eingeschränkt Therapiesitzungen angeboten werden können. Deswegen stellt sich die Frage, wie wir unsere Patient:innen auf diese Zeit möglichst gut vorbereiten können. Ein möglicher und vielseitig einsetzbarer Ansatzpunkt hierfür ist das Konzept der Selbstfürsorge.
Warum Selbstfürsorge in der Therapie?
Selbstfürsorge – oder »Selfcare« – ist ein Begriff, der sich in den sozialen Medien und in der Ratgeberliteratur großer Beliebtheit erfreut. Doch hinter dem, was oft als »ein Bad nehmen« oder »eine Tasse Tee trinken« dargestellt wird, verbirgt sich in der Therapie ein wesentlich tiefergehendes Konzept. Im Kern umfasst Selbstfürsorge alles, was Menschen tun – oder bewusst unterlassen –, um ihr mentales und körperliches Wohlbefinden zu erhalten oder zu verbessern. Dabei ist Selbstfürsorge individuell und situationsabhängig. Was für die eine Person wohltuend ist, kann für eine andere weniger geeignet sein. Außerdem können Handlungen in unterschiedlichem Maße selbstfürsorglich sein, je nachdem, ob ihre Auswirkungen kurz- oder langfristig betrachtet werden: Nicht alles, was sich im Moment gut anfühlt, trägt nachhaltig zum Wohlbefinden bei. Das Nachdenken über und die Anwendung von Selbstfürsorge schult die Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse. Herauszufinden, was für einen Patienten oder eine Patientin in welcher Situation selbstfürsorglich ist, ist keine triviale Aufgabe, sondern eine, die psychotherapeutische Begleitung erfordern kann. Gleiches gilt in einem zweiten Schritt bei der Umsetzung des Verhaltens.
Ein Fokus auf selbstfürsorgliches Verhalten empfiehlt sich vor allem für Patient:innen, die dazu neigen, zu hohe Ansprüche an sich selbst zu stellen, eigene Erfolge nicht zu würdigen, oder für Personen, die ein geringes Selbstwertgefühl haben oder Schwierigkeiten, sich von anderen Menschen abzugrenzen. In der Zeit um Neujahr herum kann ein selbstfürsorglicher Ansatz sowohl für den Rückblick auf das vergangene Jahr als auch für den Blick in die Zukunft genutzt werden.
Selbstfürsorgliche Rückschau: Ein wohlwollender Blick auf das vergangene Jahr
Wie wäre es, wenn Sie gemeinsam mit Ihren Patient:innen gemeinsam auf das vergangene Jahr zurückblicken? Und zwar vor allem durch die Brille der Selbstfürsorglichkeit? Das kann hier beispielsweise bedeuten, die Stimme des inneren Kritikers nicht zu laut werden zu lassen und den Rückblick aufbauend und konstruktiv zu gestalten. Hierbei können Fragen helfen wie zum Beispiel: »Was hat Ihnen im letzten Jahr gutgetan? Wo standen Sie zu Beginn des Jahres, und wo stehen Sie jetzt? Wann und wie waren Sie besonders wohlwollend zu sich und haben auf sich geachtet, und wie hat sich das angefühlt?« Ein bilanzierender Rückblick kann für Patient:innen ebenfalls hilfreich sein, um über Erreichtes und weitere Ziele bezogen auf den Therapieverlauf nachzudenken.
Selbstfürsorgliche Vorausschau: Ziele & Neujahrsvorsätze
Das Fassen von Neujahrsvorsätzen gehört für viele Menschen zu einem Ausblick auf das kommende Jahr: »Was möchte ich erreichen, was nehme ich mir vor?« Doch die guten Absichten, die so motiviert begonnen werden, scheitern oft. Häufig sind die Ziele zu allgemein, unrealistisch oder passen nicht zur Lebenssituation. Deshalb lohnt sich auch hier eine therapeutische Begleitung, damit die aufgestellten Vorsätze nicht zu Enttäuschungen führen. Ein bewährtes Konzept, um Vorsätze wirkungsvoll und umsetzbar zu gestalten, sind die sogenannten »SMART«en Ziele (nach Drucker, 1998), wonach Ziele spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert sein sollten, um erfolgversprechend zu sein. Wir versuchen also, mit den Patient:innen die »klassische«, häufig unspezifische Liste von Vorsätzen (»Ich möchte mich immer gut ernähren und kein Fernsehen mehr gucken«) zu hinterfragen und stattdessen Neujahrsvorsätze zu formulieren, die die SMARTEn Kriterien erfüllen. Anstatt beispielsweise »Ich möchte sportlicher werden«, könnte ein SMARTes Ziel lauten: »Ich gehe dreimal pro Woche für 20 Minuten joggen, für die nächsten drei Monate.« Durch diese Struktur werden Vorsätze greifbarer und die Wahrscheinlichkeit, sie umzusetzen, steigt.
Zusätzlich können Sie Ihre Patient:innen dabei unterstützen, die Ziele an sich selbstfürsorglich und bedürfnisorientiert zu formulieren: Sie können gemeinsam selbstfürsorgliche Ideen sammeln, vielleicht auch auf Grundlage des Rückblickes auf das vergangene Jahr (Was hat der Patientin bzw. dem Patienten besonders gut getan, wo gab es noch Schwierigkeiten?). Gerade bei selbstfürsorglichen Verhaltensweisen, die vor allem im sozialen Kontakt anwendbar sind (Nein sagen, eigene Grenzen schützen, um Hilfe bitten), lohnt es sich, Verhaltensweisen konkret zu besprechen und mögliche Hindernisse auszuloten. SMART können die Ziele auch dann sein, wenn man die Handlung selbst nicht konkret festlegt, sich aber für jede Woche zum Beispiel mindestens eine selbstfürsorgliche Verhaltensweise aus einer vorher festgelegten Liste vornimmt.
Weitere Ideen, um die Beschäftigung mit Selbstfürsorge als Neujahrsvorhaben zu unterstützen:
- Selbstfürsorgliche Verhaltensweisen im Rollenspiel üben
- Ein Poster mit Ideen gestalten
- Für jede Woche eine selbstfürsorgliche Verhaltensweise heraussuchen
- Kleine Erinnerungen gestalten, die an Orten aufbewahrt werden, die Patient:innen im Alltag häufig sehen (Geldbeutel, Spiegel, Handyhülle)
- Die möglichen Konsequenzen von neuen Verhaltensweisen diskutieren (»Was würde sich ändern, wenn ich stärker für meine Bedürfnisse einstehen würde?«)
- Routinen etablieren: Das Heraussuchen einer selbstfürsorglichen Verhaltensweise pro Woche als Abschluss der Therapiesitzung nutzen
- Für ein bestimmtes Verhalten darüber diskutieren, in welchem Fall dieses ein Akt der Selbstfürsorge wäre und in welchem möglicherweise nicht
Übrigens: Für manche Menschen kann es auch selbstfürsorglich sein, keine Vorsätze für das nächste Jahr zu fassen, z.B. wenn die Idee vor allem durch sozialen Druck entstanden ist. Unterstützen Sie hier ruhig die Freiheit und Kreativität Ihrer Patient:innen!
Ein frohes und selbstfürsorgliches neues Jahr für Sie!
Ihre Henriette Ptassek
Literatur:
Drucker, P.F. (1998). Die Praxis des Managements. Ein Leitfaden für die Führungs-Aufgaben in der modernen Wirtschaft (6. Aufl.). Düsseldorf: Econ.
Die Autorin
Henriette Ptassek ist psychologische Psychotherapeutin in Verhaltenstherapie für Erwachsene. Sie ist am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main tätig und verbindet die Themen Psychologie und Illustration gerne miteinander. Im Beltz-Verlag hat sie das Therapiekartenset »Was tut mir gut?« für Jugendliche und Erwachsene mit Impulsen zu Selbstfürsorge veröffentlicht. Im Januar 2025 erscheint ihr zweites Kartenset zum Thema Selbstfürsorge für Kinder: »Richtig gut für mich!«.