Fünf Übungen, um den inneren Kritiker in Schach zu halten – Impulse von Boris Pigorsch

Im Laufe meiner Tätigkeiten als Psychotherapeut und Supervisor erstaunt mich immer wieder, wie selbstkritisch viele Kolleginnen und Kollegen in Alltag und Berufsleben sind. Wie sehr sie an sich selbst zweifeln. Kennen Sie das auch? Oft geht diese Strenge mit sehr hohen Ansprüchen an sich und mangelnder Selbstfürsorge einher. Ich selber nahm früher zu viele Aufträge an und versäumte so, ausreichend Pausen und Erholungsphasen einzuplanen. Und wie ist das bei Ihnen? Kennen Sie das, sich manchmal zu viel für die Patient:innen einzusetzen, zu viel zu arbeiten oder im Privatleben zu viele Kräfte für andere zu lassen? Oder dass Ihre Leistungen Ihnen immer wieder als nicht gut genug erscheinen? Wenn ja, kann ich Sie beruhigen. Sie sind in guter Gesellschaft, vielen von uns ging oder geht es so. Hier habe ich für Sie 5 wertvolle Übungen zusammengestellt, um den inneren Kritiker in Schach zu halten. Viel Freude dabei!

Übung 1: Den inneren Kritiker (an-)erkennen

Um etwas verändern zu können, muss es zunächst anerkannt werden. Um aus einem Raum herauszukommen, muss ich erstmal reinkommen. Klingt einfach und logisch, ist aber herausfordernd! Denn was uns schmerzt, das ständige Nörgeln an sich selbst zum Beispiel, will man am liebsten loswerden. Oder nicht? Was würden Sie Ihren Patient:innen dazu sagen? Genau, erstmal geht es darum anzuerkennen: Ja, ich bin manchmal übertrieben selbstkritisch. Zweifle manchmal (zu) sehr an mir. Und das macht den Alltag anstrengend. Und es ist zwar anstrengend, aber okay so zu sein. Verlieren Sie keine Kraft im Kampf gegen Ihren inneren Kritiker.

Impuls: Wenn Sie übertrieben selbstkritisch sind, üben Sie in der kommenden Woche Folgendes: Ertappen Sie sich in Momenten der Selbstkritik und erkennen Sie an: »Ja, ich bin gerade zu selbstkritisch. Es ist halt gerade so, wie es ist.«

Übung 2: Dem Bedürfnis nachspüren

Wobei hilft Ihnen Ihr innerer Kritiker? Verschafft er Ihnen Anerkennung, Bewunderung, Erfolge? Oder gibt er Ihnen durch ein sehr kontrolliertes Verhalten viel Sicherheit z.B. in zwischenmenschlichen Beziehungen? Meine Erfahrung ist, dass dieser innere Anteil sich tief danach sehnt, geliebt und anerkannt zu werden und Kritik oder gar Ablehnung unbedingt vermeiden will. Dafür sind Menschen viel bereit zu tun! Überarbeitung, Perfektionismus oder Grübeln, manchmal aber auch das Sich-Zurücknehmen und Sich-extrem-Anpassen können dazu gehören. Klaus Grawe formulierte vier wesentliche psychologische Grundbedürfnisse: Bindung, Kontrolle, Lustgewinn bzw. Unlustvermeidung (Schmerz) und Selbstwerterhöhung.

Impuls: Schreiben Sie auf, welche Ihrer Grundbedürfnisse eine Rolle spielen, wenn Sie zu streng mit sich sind. Tauschen Sie sich gerne mit einer Vertrauensperson aus.

Übung 3: Zu den Wurzeln des inneren Kritikers

Auch Ihr innerer Kritiker hat seine Wurzeln. Wie ein »Abziehbildchen« im Inneren spiegeln sich so Beziehungserfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen wider. Das »Nachahmen« der äußeren Kritik – von Vater, Mutter, einer Lehrerin oder anderen Bezugsperson – dient meist dazu, Trennungen zu verhindern, indem versucht wird, den Erwartungen des Gegenübers zu entsprechen. Um eben etwas mehr geliebt zu werden oder auch Kritik zu entgehen. Können Sie für sich ähnliche Zusammenhänge erkennen? Hinter dem inneren Kritiker steht also fast immer eine verletzte kindliche Seite. Und diese braucht nun den Schutz von Ihnen als Erwachsenem. So können Sie wohlwollender mit sich werden – was sich auch günstig auf Ihre Arbeit mit Patient:innen auswirken wird. Wenn Ihnen also eine Bezugsperson klar wird, die den inneren Kritiker geprägt hat (oder die als Modell auch sehr selbstkritisch war), dann üben Sie Folgendes:

Impuls: Wenn die Selbstkritik stark wird, üben Sie einmal (nach dem „es ist halt gerade so“ aus Übung 1) innerlich STOP zu sagen. Als würden Sie der Bezugsperson von früher – nun als Erwachsene:r – STOP sagen. Oder »Hör auf!«. Oder Sie finden passende eigene Worte, um sich so gut wie möglich zu schützen.

Übung 4: Kümmern Sie sich! …um sich selbst.

Oft neigen wir Psychotherapeut:innen dazu, uns viel für andere zu engagieren. Für unsere Patient:innen, für unsere Freunde und Familien. Das Engagement an sich, das Sich-Kümmern um andere, ist wunderbar. So wie bisherige und aktuelle Erfolge, angetrieben durch den inneren Kritiker, ebenfalls wertvoll und kostbar sind. Geht das Kümmern für andere aber über ins Überengagement, ins Aufopfern oder starke Grübeln – dann ist es Zeit innezuhalten. Spüren Sie Erschöpfung von Geist und Körper? Dann nehmen Sie diese ernst! Geben Sie sich dieselbe Wichtigkeit und Wertigkeit wie Ihren Patient:innen oder Ihrer Familie. Manchmal kann es auch ganz praktisch guttun, Pausen zwischen Sitzungen länger einzurichten oder auch den Feierabend umzugestalten.

Impuls: Planen Sie gezielt selbstfürsorgliche Aktivitäten, Ruhezeiten – alles was Ihnen guttut. Vielleicht mögen Sie das Vorhaben mit einer Freundin besprechen? Oder in Ihrer Intervisionsgruppe? So können Sie auf die für Sie passenden »kümmernden« Aktivitäten kommen.

Übung 5: Wir sind wie eine Schale Obst.

In jeder (normalen) Schale Obst gibt es wunderschöne, glatte und perfekte Obststücke. Einen makellosen Apfel, vollkommene Trauben… und auch eine Banane, die eine »Macke« hat. Oder eine Orange, deren Schale Einkerbungen hat. So sind wir auch. Wir alle sind weder perfekt noch furchtbar. Weder makellos noch »voller Makel«. Können Sie heute schon beginnen, das so für sich anzuerkennen? Wenn nein, ist das auch ok. Dann braucht es noch etwas Zeit und das darf so sein. Wie würde es sich für Sie anfühlen, auch Ihre Macken zu akzeptieren? Achtung: Das bedeutet nicht, dass wir aufhören sollen, an veränderbaren Schwächen zu arbeiten! Wie in Übung 1 können Sie auch hier üben: Ja, es ist ok diese Macke zu haben. Ich finde sie nicht toll, aber sie ist da. Und dann prüfen Sie, ob Sie an ihr arbeiten können oder ob sie (wie unveränderliche Merkmale) zu akzeptieren ist. Aber auch die Akzeptanz darf mal leichter und mal schwerer fallen. Und dann schauen Sie auf Ihre Stärken! Können Sie sie wieder mehr erkennen? Würdigen?

Impuls: Notieren Sie auf einem Blatt zehn Ihrer wunderbaren Stärken. Als sehr gesundes »Eigenlob«! Um so immer wieder den Zugang zu den kostbaren Eigenschaften und Merkmalen zu spüren, die Sie einzigartig machen.

Auf diesem Weg wünsche ich Ihnen alles Gute! Auf dass Sie immer mehr Wohlwollen, mehr Selbstfürsorge und Freundschaft mit sich selbst entwickeln. Ihr Boris Pigorsch

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