Suizidalen Patient:innen zuhören und sie begleiten

Suizidale Patient:innen machen Angst. Angst vor Fehleinschätzungen. Angst vor Schuldgefühlen. Angst vor juristischen Konsequenzen. Sechzig Prozent der Therapeut:innen kennen Ängste wie diese. Das ist unproblematisch. Schwierig wird es dann, wenn diese Ängste dazu führen, dass das Thema Suizidalität ausgespart wird oder der Umgang mit suizidalem Erleben und Verhalten nicht mehr mit Blick darauf erfolgt, was die betroffene Person braucht und sich wünscht.

Suizidales Verhalten lässt sich nicht vorhersagen

Im Umgang mit suizidalen Patient:innen stehen wir als Therapeut:innen vor dem Dilemma, dass von uns einerseits erwartet wird, abschätzen zu können, ob und wie suizidgefährdet ein:e Patient:in ist und wir andererseits wissen, dass dies schlichtweg unmöglich ist. Suizidales Verhalten lässt sich nicht sicher vorhersagen. Durch nichts und durch niemanden. Das ist keine Sache der persönlichen Kompetenz. Das ist eine Sache kleiner Zahlen. Ereignisse, die selten auftreten, lassen sich nicht sicher vorhersagen. Niemand hätte die Erwartung, vorhersagen zu können, wer an welchem Tag zu welcher Zeit einen Autounfall haben wird. Das geht nicht. Und das geht nicht, obwohl uns Risikofaktoren für Autounfälle, wie junges Alter und männliches Geschlecht, wohlbekannt sind. Suizidales Verhalten ist zum Glück selten. Und weil es so selten ist, können wir es nicht vorhersagen. Wir Therapeut:innen genauso wenig wie Forscher:innen oder Algorithmen künstlicher Intelligenz.

Wenn wir Therapeut:innen nicht mehr über das Suizidrisiko eines/einer Patient:in wissen als sie selbst, dann kann es nicht unsere Aufgabe sein, im Alleingang eine Risikoabschätzung und Behandlungsplanung vorzunehmen. Unsere Aufgabe besteht vielmehr darin, ein (Beziehungs-)Angebot zu machen und in einem gemeinschaftlichen Prozess herauszuarbeiten, wie die Suizidalität eines/einer Patient:in beschaffen ist und welche Form der Unterstützung unsere Patient:innen brauchen und sich wünschen. In diesem Sinne sollte das gegenwärtige und lebenszeitliche suizidale Erleben und Verhalten sorgfältig eruiert werden. Orientieren kann man sich hierbei an gängigen Leitlinien zur Risikoabklärung. Ziel des Gespräches ist es jedoch nicht eine Vorhersage darüber zu treffen wie wahrscheinlich suizidales Verhalten ist, als vielmehr herauszuarbeiten welche Form der Begleitung und Unterstützung Patient:innen brauchen, um sich sicherer zu fühlen. Therapeutisches Handeln bewegt sich hierbei im Spannungsfeld von patientenseitiger Selbstbestimmung und therapeutischer Fürsorge. Natürlich kann es Zuspitzungen suizidalen Erlebens geben, die ein solches gemeinschaftliches Vorgehen zeitweilig verunmöglichen. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Haltung. Im Übrigen gehört zu dieser Haltung auch, Patient:innen vorab genau über solche Eventualitäten aufzuklären, also transparent zu erläutern unter welchen Bedigungen ambulantes Arbeiten möglich ist und in welchen Fällen eine freiwillige und auch eine unfreiwillige stationäre Unterbringing von Nöten ist. Partizipative Entscheidungsfindung und informierter Konsens gelten eben auch und vor allem im Umgang mit suizidalen Patient:innen.

Prävention suizidalen Verhaltens ist möglich

Dass Prädiktion nicht möglich ist, bedeutet jedoch nicht, dass Prävention unmöglich ist. Wie beim Autofahren. Wir können Unfälle nicht vorhersagen, wir können aber viel zur Prävention von Autounfällen tun (was ja auch passiert). Und ebenso lässt sich viel zur Prävention von Suiziden tun – und dies auf nationaler, kommunaler, individuell-therapeutischer und mitmenschlicher Ebene. Zugangsbeschränkungen zu letalen Mitteln, Medienguides zur Berichterstattung über Suizide, Krisenhotlines, Krisendienste und Psychotherapie sind effektiv in der Prävention von Suiziden.

Foto_Teismann
PD Dr. Dipl.-Psych. Tobias Teismann

ist Psychotherapeut und leitet das Zentrum für Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschung beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Themen Suizidalität und depressives Grübeln. Bei Beltz hat er zusammen mit Sören Friedrich u.a. den Therapie-Tools-Band »Suizidalität und Krisenintervention“ veröffentlicht.

Literatur
 
Therapie-Tools Suizidalität und Krisenintervention, E-Book-ISBN 978-3-621-28801-9

Veranstaltung
Workshop mit PD Dr. Tobias Teismann: Psychotherapie suizidaler Patienten: Aktuelle Konzepte und Methoden im Umgang mit suizidalem Erleben und Verhalten | Termin: Mittwoch, 22. Juni 2022, 16 bis 19 Uhr
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