Fühlen statt grübeln: Wie körperorientierte Methoden die Therapie bereichern

Wir sitzen, reflektieren und reden viel in der Psychotherapie. Doch der Körper bleibt immer noch zu sehr im Hintergrund. Das ist schade, denn jede Erfahrung ist verkörpert. Alles, was wir denken, sprechen und fühlen, ist mit körperlichen Empfindungen verbunden. Der Körper ist eine kraftvolle Ressource, die dabei hilft, sich zu beruhigen, aus dem Grübeln auszusteigen sowie Freude und Kraft zu spüren. Und im wahrsten Sinne des Wortes: in Bewegung zu kommen. Und das tut sowohl den Klient:innen und als auch den Psychotherapeut:innen gut.

Körperwahrnehmung – Eine Übung zur Selbsterfahrung

Körperorientierung fängt bei uns selbst an. Sie haben Schwimmen auch nicht dadurch gelernt, dass Sie Bücher über Pools und Ozeane gelesen haben. Also springen wir mal gleich ins Wasser:
»Schließen Sie die Augen oder lassen Sie den Blick entspannt nach vorne gerichtet. Und seien Sie neugierig, für einige Momente, den Körper bewusst wahrzunehmen. Spüren Sie die Füße im Kontakt mit dem Boden, wie fühlt sich der Kontakt zur Sitzfläche an? Nehmen Sie Verbindung zum Atem auf, wo können Sie ihn spüren? Lassen Sie sich Zeit, für einige bewusste Atemzüge. Spüren Sie, wie der Atem ein- und ausströmt. Alles darf genauso sein, wie Sie es wahrnehmen. Machen Sie sich bewusst, wo Sie Anspannung im Körper erleben und wo es sich ruhig und entspannt anfühlt. Verweilen Sie noch einige Momente bei angenehmen Körperempfindungen. Dann öffnen Sie die Augen, beginnen Sie sich zu bewegen und zu strecken.«

Machen Sie es sich zur Gewohnheit auch während der Therapiesitzung, Ihren Körper wahrzunehmen. Ihr Körper teilt Ihnen mit, wie Sie sich selbst fühlen und zeigt auch die Resonanz zu den Klient:innen. Wenn Sie sich entspannen und zentriert fühlen, strahlen Sie Ruhe aus. Und Sie nehmen Gefühle der Klient:innen wahr und werden emotional vielleicht »angesteckt«. Eine bewusste Körperwahrnehmung ist wie ein Seismograph.

Aller Anfang ist leicht – Der Einstieg in die körperbezogene Psychotherapie

  • Machen Sie sich Ihre eigenen Ressourcen bewusst: WelcheKörpermethoden und Sportarten kennen Sie (Achtsamkeitsverfahren, Yoga, Tanzen, Tai Chi, Joggen, Schwimmen) und wie könnten Ihre Erfahrungen und Kenntnisse für Ihre Klient:innen hilfreich sein? Nehmen Sie Ihren Körper bewusster in der Therapie wahr.
  • Orientieren Sie sich an den Zielen der Klient:innen: Machen Sie sich bewusst, was Ihre Klient:innen erreichen wollen. Die körperbezogenen Übungen müssen zu den Zielen passen. Das motiviert auch dazu, etwas Neues auszuprobieren.
  • Hören Sie zu und schauen Sie hin: Klient:innen sprechen über ihre Körpererfahrung. Greifen Sie das auf, bestärken Sie Bewegungsressourcen der Klient:innen. Und beobachten Sie mit Neugier und Respekt, wie die Klient:innen sitzen, sich bewegen, ihre Körperhaltung.. All das sind wichtige Informationen, um den Körper mehr in die Therapie einzubeziehen.
  • Der Praxisraum: Schauen Sie sich Ihre Praxisräume mal bewusst an. Was kann signalisieren, dass der Körper angesprochen und eingeladen ist? Gibt es ein Sofa, bequeme Stühle, Decken, Kissen oder Igelbälle? Blumen und Naturmaterialien, ein schöner Blick aus dem Fenster?
  • Anfangen: Setzen Sie sich eigene Ziele. Bei welchem/welcher Klient:in wollen Sie beginnen? Machen Sie sich bewusst, welche Übungen Sie schon kennen. Besuchen Sie ein Seminar, einen Kongress oder schauen Sie Videos zum Thema, um Ihr Repertoire zu erweitern.
  • Werkzeugkoffer: Sammeln Sie körperbezogene Übungen, damit Sie sich eine Toolbox mit körperbezogenen Methoden füllen, die Sie kennen und zielorientiert einsetzen können. Nutzen Sie Kartensets und Bücher, in denen diese Übungen bereits zusammengestellt wurden. Dann heißt es auswählen und ausprobieren.

Der Energieball – Tibetisches Heilyoga bei Depressionen

Herr M. ist sehr leistungsorientiert und leidet unter Grübeln. Er hat schon mehrere depressive Episoden erlebt. In den Gesprächen wirkt er angespannt und zu ergebnisorientiert. Er ist motiviert, Achtsamkeitsübungen in Bewegung auszuprobieren. Die folgende Übung »Energieball« aus dem tibetischen Heilyoga Kum Nye mag er sehr und nutzt sie für sich im Alltag.
»Nehmen Sie einen stabilen Stand ein und spüren Sie den Kontakt zum Boden. Spüren Sie wie der Atem durch den Körper strömt. Heben Sie die Arme und Hände vor den Bauchbereich. Stellen Sie sich vor, dass Sie eine Energiekugel umarmen. Sie können diesen Energieball langsam schwebend bis über den Kopf heben. Verbinden Sie sich mit der angenehmen Kraft der Kugel. Dann sinken die Arme und der Ball wieder. Lassen Sie die Bewegung fließen und den Atem fließen. Wiederholen Sie den Ablauf. Vielleicht kann die Bewegung wie von selbst entstehen. Laden Sie Langsamkeit ein. Erlauben Sie sich, die vielen kleinen Körperbewegungen zu spüren. Zum Schluss kommen Sie nochmal im ruhigen Stand an, die Arme hängen neben dem Körper und Sie spüren einige Momente nach.«
Herr M. erlebt bei der Übung Entspannung, er beginnt loszulassen und kommt mehr im Körper an. Gedanken kann er zulassen, ohne sich in ihnen zu verfangen. Ihm gefällt die Langsamkeit und es tut ihm gut, sich in der Gegenwart zu spüren.

Schüttelmedizin für die Psychoonkologie (Musiktitelvorschlag: Brent Lewis: Jungle Sugar)

Frau S. kommt während ihrer onkologischen Behandlung. Sie sagt: »Ich möchte nicht so viel reden. Ich will mich spüren und ich will mich trauen, zu tanzen.« Die folgende Übung hilft ihr, sich zu spüren, zu entspannen und ihren Gefühlen Raum zu geben.
»Beginnen Sie die Hände zu schütteln, die Arme und Schultern, seien Sie neugierig, wie sich das anfühlt. Der Oberkörper, das Becken, die Beine und Füße beginnen sich zu schütteln. Achten Sie auf Ihren Körper, die Bewegung soll sich gut anfühlen, wohltuend. Finden Sie heraus, ob Sie sanft schütteln möchten oder stärker. Schütteln Sie auch gerne etwas ab: So wie Sand vom Körper abschütteln. Sich befreien, weit in den Raum hineinschütteln. Und dann auch mal dem Körper das Schütteln überlassen, mehr geschehen lassen. Dann das Schütteln ausklingen lassen und nachspüren.«
Das Schütteln ohne oder mit Musik ist ein psychotherapeutischer Allrounder und gehört in jeden Werkzeugkoffer: Es hilft bei Belastungen, Grübeln und Starre, es fördert Beweglichkeit, Präsenz und Freude.

Und jetzt Sie!

Probieren Sie selbst die Übungen aus. Nehmen Sie Ihren Körper und die Körper Ihrer Klient:innen liebevoll in den Blick. Kommen Sie in Bewegung!

Die Autorin

Ulrike Juchmann arbeitet als systemische Therapeutin und Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis in Berlin. Sie liebt die ruhige Meditation, langsames Yoga, Tauchen und wildes Tanzen. Bei Beltz ist von ihr zum Thema der Therapie-Tools-Band »Körperorientierte Interventionen« und das Kartenset »Körperkompass, Energieball und Slow Motion« erschienen.

Beltz Online-Kongress »Körperorientierte Therapie«

Erleben Sie Ulrike Juchmann und viele andere am Freitag, den 14. November 2025, von 9–17 Uhr, in unserem akkreditierten Beltz Online-Kongress zum Thema »Körperorientierte Therapie«.

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