Kennen Sie Therapiesituationen, in denen Sie nicht mehr weiterkommen? Kennen Sie Momente in der Beziehung zu Patient:innen, in denen Sie sich blockiert und schachmatt gesetzt fühlen?
In solchen Situationen kann es hilfreich sein, das therapeutische Handeln nicht nur auf die »psychische Störung« des Patienten auszurichten, sondern sich zunächst das Verhalten des Patienten ganz genau anzuschauen, um die Beweggründe hinter dem Verhalten zu verstehen. Wenn wir die Motive unserer Patient:innen kennen, können wir individuell auf diese reagieren. Wir können unser Verhalten und unsere Beziehung so massschneidern, dass die Motive ausreichend berücksichtigt werden. Schwierige Therapiesituationen ergeben sich häufig, wenn wir Therapeut:innen zentrale Bedürfnisse von Patient:innen nicht erkennen und diese übergehen, vielleicht sogar in ihre »motivationalen Fettnäpfchen« treten.
Dabei hilft uns die Plananalyse, das motivationale Funktionieren unserer Patient:innen individuell zu erfassen. Durch die Umsetzung der motivorientierten Beziehungsgestaltung stärken wir die therapeutische Beziehung, indem wir Ziele und Erfahrungen, die dem/der Patient:in wichtig sind, aktiv herstellen und verstärken, und Zustände und Erfahrungen, die für die Patientin oder den Patienten schlimm sind, nach Möglichkeit nicht aktivieren oder nur soweit, wie das für den therapeutischen Prozess notwendig ist. Ist es beispielsweise für eine Patientin sehr wichtig, ihre Autonomie zu wahren (Plan: Sorge dafür, autonom zu bleiben), wird der Therapeut die Patientin einladen, sich einzubringen und mitzubestimmen und ihr möglichst viel Freiraum und Wahlmöglichkeiten in der Ausgestaltung der Therapie geben. Hat ein Patient eine ausgeprägte Versagensangst (Plan: Vermeide Versagen), wird die Therapeutin besonders darauf achten, den Patienten nicht zu überfordern und Interventionen so zu planen (z.B. Verhaltensexperimente, Hausaufgaben etc.), dass diese vom Patienten bewältigt werden können.
Ein Beispiel aus der Praxis
Die Therapeutin Eveline sitzt zum ersten Mal dem Patienten Herrn Meier gegenüber. Er wurde durch seinen Hausarzt aufgrund einer Depression zur Psychotherapie überwiesen. Herr Meier redet ununterbrochen und schaut Eveline dabei nicht an. Er beschwert sich darüber, dass er am Arbeitsplatz nicht ernst genommen werde und man ihm nicht zuhöre. Er berichtet detailliert darüber, dass er so seine Arbeit nicht gut machen könne. Abends grüble er stundenlang über die Vorkommnisse am Arbeitsplatz. Dies lauge ihn aus, er sei immer erschöpfter, habe schon alle Hobbys aufgegeben. In einem Nebensatz erwähnt er, dass er ein »vernachlässigtes Kind« sei. Er habe schon immer für alles kämpfen müssen, so auch in seinen letzten Beziehungen und nun am Arbeitsplatz. Letzten Endes würden sich alle Menschen von ihm abwenden, und er wisse gar nicht, warum.
Eveline fühlt sich vom Redefluss erschlagen. Während sie die Details der Arbeitsbedingungen für therapeutisch weniger wichtig hält, würde sie bei anderen Themen gerne genauer nachfragen, kommt jedoch kaum zu Wort. Sie hat den Eindruck, dass Herr Meier es schätzt, dass sie ihm geduldig zuhört. Dadurch entsteht viel Vertrauen, weil sie seinen Erzählungen Platz lässt und Verständnis für seine Standpunkte zeigt.
Aus motivationstheoretischer Perspektive erhofft Eveline sich, dass, wenn sie das Bedürfnis »wahrgenommen« zu werden durch Zuhören ausreichend sättigt, der Rededrang von Herrn Meier abnehmen wird und es ihr zunehmend besser gelingen wird, selbst zu Wort zu kommen. Aus lerntheoretischer Perspektive sieht sie allerdings die Gefahr, den Redefluss noch zu verstärken, wenn sie ihn zu lange gewähren lässt. Sie vermutet, dass es sich hierbei um ein dysfunktionales Interaktionsmuster handelt, das in der Vergangenheit zu den wiederholten Beziehungsabbrüchen und auch zu den Schwierigkeiten am Arbeitsplatz beigetragen haben könnte.
Was kann Eveline in diesem Dilemma tun?
Eveline erstellt eine Plananalyse, um das Verhalten von Herrn Meier besser zu verstehen und daraus eine maßgeschneiderte Beziehungsgestaltung abzuleiten. Als zentrale Pläne identifiziert sie »Stelle sicher, dass du wahrgenommen wirst» und »Stelle sicher, dass du verstanden wirst«. Sie vermutet, dass diese Pläne dazu dienen könnten, Unverständnis und die daraus resultierende Ablehnung zu vermeiden, um somit die Beziehung zu sichern. Sie überlegt, wie sie diese Pläne bedienen kann, ohne das Verhalten »redet ununterbrochen« zu verstärken.
Zu Beginn der nächsten Sitzung sagt Eveline: »Mir ist aufgefallen, dass ich in den Sitzungen mit Ihnen immer wieder an die Grenzen meiner Verarbeitungskapazität stoße, da Sie viele Dinge auf sehr dichte Art und Weise erzählen. Ich würde gerne vereinbaren, dass ich Sie unterbrechen darf, wenn Sie etwas besonders Wichtiges gesagt haben. Dann kann ich nachfragen und so sicherstellen, dass ich Sie wirklich richtig verstanden habe. Wäre es für Sie in Ordnung, wenn ich Sie mit einem kurzen ›Das war wichtig, da möchte ich gerne einhaken‹ immer wieder unterbrechen dürfte?« Sie betont dabei das Wort »wichtig« ein wenig.
Herr Meier reagiert erstaunt, aber positiv auf die Bitte. Zwar wirkt er zu Beginn immer ein wenig irritiert, wenn Eveline ihn nach drei bis vier Sätzen unterbricht, er empfindet ihr Nachfragen und ihre Äußerungen jedoch offensichtlich als wertschätzend. In der zweiten Sitzung signalisiert er bereits mit Blicken und kurzen Pausen, dass er offen für Unterbrechungen ist. Nach weiteren Sitzungen kann Eveline das Thema auf die Reziprozität von Interaktionen lenken, worauf Herr Meier mit einer hohen Lernbereitschaft reagiert.
Fazit
Die Plananalyse und die sich daraus ableitende motivorientierte Beziehungsgestaltung bieten uns individuelle, therapeutisch zielführende Lösungen für schwierige Beziehungssituationen in der Therapie. In unserer Arbeit mit Patient:innen nutzen wir die Plananalyse seit Jahren und haben die Erfahrung gemacht, dass sich dadurch schwierige Therapiesituationen besser auflösen lassen, die Therapiebeziehung gestärkt wird und der therapeutische Prozess gefördert wird. Mit den Therapie-Basics-Band »Plananalyse und Motivorientierte Beziehungsgestaltung« möchten wir Sie einladen, neben der Ausrichtung der Therapie auf die Störung auch die individuellen motivationalen Beweggründe menschlichen Verhaltens zu berücksichtigen. Wir sind überzeugt davon, damit unseren Patient:innen besser gerecht werden zu können.
Die Autor:innen
Dr. med. Astrid Habenstein absolvierte ihre Ausbildung zur Fachärztin für Psychiatrie bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern. Ihre Grundausbildung in Psychotherapie nahm sie am Klaus-Grawe-Institut in Zürich wahr und ergänzte diese durch andere Therapierichtungen wie die Emotionsfokussierte Therapie (EFT) oder die Compassion Focused Therapy (CFT). Nachdem sie klinisch in vielen Bereichen Kenntnisse erwerben konnte – von der Psychotherapiestation über die Sprechstunde für Therapieresistenz bis hin zur Akutstation im Strafvollzug –, arbeitet sie seit über 10 Jahren in der Krisenintervention. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Anpassungsstörungen und präventive Psychiatrie.
Dr. phil. Christoph Stucki ist Fachpsychologe für Psychotherapie FSP. Seit 2012 ist er Leitender Psychologe an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD). Er ist als Ausbilder und Supervisor von Ärzt:innen und Psycholog:innen in verschiedenen Psychotherapielehrgängen tätig und seit 2024 zusätzlich in eigener Praxis in Bern.
PD Dr. phil. Anja Gysin-Maillart ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP mit kognitiv-behavioralem Schwerpunkt (Klaus-Grawe-Institut Bern / ZH). Sie ist leitende Psychologin an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bern (UPD), wo sie das Kompetenzzentrum Suizidprävention Schweiz leitet. Sie hat das Attempted Suicide Short Intervention Program (ASSIP), eine evidenzbasierte Kurztherapie zur Suizidprävention, mitentwickelt.
Im August 2025 ist bei Beltz von ihnen der Therapie-Basics-Band »Plananalyse und Motivorientierte Beziehungsgestaltung« erschienen.