Generation Selfie – Beeinflussen soziale Medien den Selbstwert von Kindern und Jugendlichen?

Die medial vielfach beschworene »Generation Selfie« bezeichnet jene Kinder und Jugendlichen, die in die Welt der sozialen Medien hineingeboren wurden und mit sozialen Netzwerken wie Instagram, TikTok, Snapchat, WhatsApp und Facebook aufgewachsen sind. Wie Erwachsene verwenden auch Jüngere soziale Medien primär, um das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Nähe und Gemeinsamkeit zu stillen. Neben der Möglichkeit mit anderen in Kontakt zu bleiben, bieten Instagram und Co die Gelegenheit, sich selbst auszuprobieren, mit der eigenen Wirkung auf andere zu experimentieren und sich zu vergleichen. Anders als frühere Generationen, die auf die unmittelbare Umgebung (Familie, Schulfreunde) beschränkt waren, steht heutigen Kindern und Jugendlichen praktisch die ganze Welt offen. Was bedeutet das für den Selbstwert und wie kann dies im Rahmen einer Therapie berücksichtigt werden? 

Das Besondere an sozialen Medien

Zunächst ist es wesentlich festzuhalten, dass soziale Medien wie jedes andere Medium auch nicht per se gut oder schlecht sind. In erster Linie stellen sie eine Technologie dar, die vielfältig genutzt werden kann: zur Kommunikation, Kollaboration, Informationsvermittlung, Unterhaltung und zum Wissensmanagement. Zugleich ist unumstritten, dass soziale Medien soziale Interaktionen grundlegend verändern.

Online stehen uns andere Informationen über unsere Interaktionspartner:innen zur Verfügung als offline. Während wir also online unter Umständen keine Rückmeldung zur emotionalen Reaktion unseres Gegenübers erhalten, weil Informationen zur Mimik, Gestik und Stimmlage fehlen, erfahren wir wie groß das soziale Netzwerk der Person ist, wo sie Urlaub macht und was sie gerne isst. Auch kann »Impression-Management« online besser betrieben werden als offline. Positive Eigenschaften, herausragende Leistungen und günstige soziale Faktoren werden online vermehrt hervorgekehrt. Fotos können so bearbeitet werden, dass sie möglichst positive Reaktionen (»Likes«) hervorrufen, und Situationen werden so inszeniert, dass sie die erwünschte Message transportieren.

Zudem treffen wir in sozialen Medien vor allem auf Peers. Anders als in traditionellen Medien (TV, Presse) werden wir nicht mit Stars konfrontiert, sondern mit der Person von nebenan. Das vermittelt den Eindruck einer größeren Authentizität. Auch sind Peer-to-peer-Vergleiche wesentlich einflussreicher als jene mit Berühmtheiten. Likes von Freunden werden intuitiv mit sozialer Anerkennung gleichgesetzt und vermögen das Belohnungszentrum im Gehirn zu aktivieren.

Bedeutung für den Selbstwert von Kindern und Jugendlichen

Die Nutzung sozialer Medien hat über alle Altersgruppen hinweg einen nachteiligen Effekt auf den Selbstwert. Allerdings fällt dieser Effekt – im Gegensatz zu klassischen Medien wie TV – eher schwach aus. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass auf sozialen Medien nicht nur Stars, sondern auch Peers zu finden sind, d.h. die Variationsbreite der Themen und Darstellungen ist größer.
Hinzu kommt, dass typische Henne-oder-Ei-Problem: Es ist unklar, was im Einzelfall zuerst da war. Die Henne (also der niedrige Selbstwert) oder das Ei (der Konsum sozialer Medien). Angenommen wird, dass der Zusammenhang bidirektional. So kann eine verstärkte Nutzung zu einem geringeren Selbstwert führen. Umgekehrt greifen aber auch Personen mit einem niedrigen Selbstwert verstärkt auf Instagram und Co zurück, um soziale Schwierigkeiten zu kompensieren. Sie neigen zu einem passiven Konsum (sog. »Lurkers«), der zugleich – anders als das proaktive Posten eigener Beiträge – mit einem höheren Risiko für Depressivität einhergeht.

Während diese Zusammenhänge gleichsam für Erwachsene wie auch für Minderjährige gelten, stellen Jugendliche aufgrund der pubertätsbedingten körperlichen Veränderungen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Sie verfügen nicht nur über ein nachteiligeres Körperbild und einen geringeren körperbezogenen Selbstwert als Erwachsene, sondern nehmen auch mehr selbstwertschädigende Aufwärtsvergleiche mit Erfolgreicheren, Besseren, Attraktiveren vor. Mädchen sind im Vergleich zu Jungen häufiger von Störungen des Selbstwertes im Jugendalter betroffen, weil sie stärker dazu tendieren, medial propagierte Körperideale zu verinnerlichen.

Das Auftreten negativer Konsequenzen des Konsums sozialer Medien hängt jedoch stark von der Art der Nutzung ab. Wenn soziale Vergleichsprozesse in Bezug auf Produkte, sportliche Leistungen und Reisen angestellt werden, bleibt das Körperbild intakt. Auch wenn Jugendliche dafür sensibilisiert werden, welches Bildmaterial bearbeitet ist und überzogene bzw. unrealistische Ideale verherrlicht, entsteht kein Nachteil für das Körperbild. Ebenso zeigt das Betrachten von nicht bearbeiteten Bildern, die die Bandbreite verschiedener Körperformen darstellen, einen potenziell protektiven Einfluss.

Angesichts dessen ist es für die Praxis unerlässlich, die Medienkompetenzen von Kindern vor Eintritt in die sensible Phase der Pubertät möglichst dahingehend zu stärken, dass sie idealisierte, verzerrte und inszenierte (Körper-)Darstellungen als solche erkennen und ihre eigenen Bewertungsprozesse (Überschätzung der Fähigkeiten, des Erfolgs, des Wohlbefindens anderer) reflektieren lernen. In der Therapie und Beratung ist neben der Psychoedukation vor allem eine ausführliche und differenzierte Anamnese des Nutzungsverhaltens unerlässlich (Was konsumiert der/die Jugendliche online? In welche soziale Vergleichsprozesse ist er/sie verstrickt?). Zuletzt sollten negative Selbst-Schemata hinterfragt und der/die Jugendliche darin bestärkt werden, sich online möglichst authentisch darzustellen.

Tipps für die Arbeit mit Jugendlichen

In der therapeutischen Arbeit sollte…

  • eine differenzierte Analyse des konkreten Nutzungsverhaltens vorgenommen werden (Welche sozialen Medien werden weswegen genutzt? Welches Bildmaterial wird bevorzugt konsumiert?),
  • eine Psychoedukation über Körperideale, Geschlechterstereotype und verzerrte Selbstinszenierungen (Bildbearbeitungen, Marketing von Influencern) stattfinden,
  • eine Anpassung der eigenen Profil- und Privatsphäre-Einstellungen gemäß der eigenen Bedürfnisse erfolgen,
  • die Selbstdarstellung online reflektiert und gegebenenfalls adaptiert werden,
  • Vergleichsprozesse (aufwärts vs. abwärts) hinterfragt und ein realistisches Selbstkonzept entwickelt werden (basierend nicht nur auf dem eigenen Körper, sondern auf einer Vielfalt von Stärken), und
  • verschiedene Körperformen thematisiert und die authentische Darstellung des eigenen Körpers auf den Kanälen sozialer Medien gefördert werden.

 

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Die Autorin

A. Felnhofer

Mag. Dr. Anna Felnhofer arbeitet als Wissenschaftlerin und Klinische Psychologin an der Pädiatrischen Psychosomatik der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde, Medizinische Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Themenbereich der neuen Medien mit einem speziellen Fokus auf Virtuelle Realitäten. Bei Beltz hat sie die Therapie-Tools Bände »Problematische Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter« und »Selbstwert bei Kindern und Jugendlichen« veröffentlicht. 

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