»Auch mir darf es gutgehen« – Körperorientierte Ideen für mehr Selbstfürsorge im therapeutischen Praxisalltag

Das Thema Selbstfürsorge ist uns Therapeut:innen ein wichtiges Anliegen. Wir bestärken unsere Patient:innen darin, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu spüren und sich besser um das eigene Wohlbefinden und die eigene Gesundheit zu kümmern. Die eigene Selbstfürsorge genauso wichtig zu nehmen, fällt aber manchmal nicht so leicht. Auch von gestandenen Kolleg:innen höre ich oft Sätze wie »Eigentlich bräuchte ich ja ganz dringend endlich Erholung, aber ich muss am Wochenende noch drei Anträge schreiben«.

Ich möchte Sie nicht mit Theorie langweilen; Sie alle wissen, wie wichtig eine gute Selbstfürsorge ist, fürs Gesundbleiben genauso wie für die therapeutische Kompetenz (zumindest theoretisch, wenn nicht gerade jetzt so viel zu tun wäre!) und Sie haben sicher schon viele gute Texte über Embodiment und somatische Marker gelesen.

Stattdessen möchte ich Ihnen vorschlagen, sich mit Hilfe der folgenden Anregungen selbst zu überprüfen: Bin ich mit meiner Selbstfürsorge im Alltag noch zufrieden? Gibt es Bereiche, denen ich (wieder) mehr Gestaltungsphantasie schenken möchte? 

Woran merke ich, dass Selbstfürsorge JETZT angesagt ist? 

An welchen Körpersignalen merken Sie typischerweise im Alltag, dass Sie sich gerade zu sehr anstrengen? Woran erkennen Sie, dass jetzt in diesem Moment Selbstfürsorge eine gute Sache wäre?

  • Sie schlafen schlecht, brauchen mehr Kaffee, können nicht abschalten?
  • Sie haben Kopfweh, Rückenschmerzen, Augenbrennen, einen steifen Nacken?
  • Sie haben Heißhunger auf Süßes, Magensäure, Übelkeit, Herzklopfen, Tinnitus?
  • Ihr Gesicht fühlt sich angespannt an, die Stimme klingt gepresst, die Atmung ist beengt?
  • Sie fühlen sich ungeduldig und reizbar, verspüren Überdruss?


Auf diese Signale können und dürfen Sie hören! Sie sagen Ihnen ganz zuverlässig, dass es JETZT (nein, nicht erst heute Abend und auch nicht erst nächste Woche) so weit ist, dass Sie sich um sich selber kümmern sollten.
Auch wenn es nur für eine einzige Minute ist, in der Sie bewusst etwas für sich tun, vielleicht nur etwas ganz Kleines, aber Wirkungsvolles: z.B. das Fenster öffnen und hinaus in die Natur schauen, eine kurze Atem- oder Dehnübung machen, sich selbst den Nacken massieren, ein Lied vor sich hin summen und den Klang im Körper spüren, an eine schöne Erinnerung denken, die Hände aneinander reiben, bis sie warm sind, und kurz auf die müden Augen legen. 

Das Setting überprüfen: Tut es mir gut, so zu arbeiten? 

  • Wie wohl fühle ich mich mit meiner Zeitstruktur? Viele Therapeut:innen arbeiten im »Stundentakt«. Fragen Sie sich einmal selbst: Ist die Pause zwischen den Sitzungen lang genug für mich, um die Sitzung gut abschließen zu können, mich innerlich auf die nächste Sitzung vorzubereiten und zwischendurch noch kurz zu entspannen, die Toilette aufzusuchen oder eine Tasse Tee zu trinken? Wie lange müsste die Pause sein, damit ich entspannt und aufmerksam in die nächste Sitzung gehen kann? Wie viele Sitzungen am Stück / am Tag / in der Woche kann ich gut bewältigen, ohne hinterher »völlig erschlagen« zu sein? Halte ich mir genügend Zeit frei für den Bürokram? Wann nehme ich mir Zeit zum Essen und gibt es dann auch eine richtige Mahlzeit? Ist das alles stimmig so für meinen Organismus, geht es mir gut damit?
  • Raumgestaltung: Fühle ich mich wohl mit den Farben, dem Raumgefühl, der Inneneinrichtung, dem Lärmpegel, der Beleuchtung? Macht das Licht wach (z.B. Tageslichtlampe) oder ist es eher »gemütlich bis schummrig«?
  • Sitzmöbel in der Praxis: Setzen Sie sich hinein und nehmen Sie bewusst wahr, zu welcher Körperhaltung Ihre repräsentativen und formschönen Sessel den Sitzenden einladen: Aufrecht, aktiv, beweglich? Rückenfreundlich? Depressionsfördernd zusammengesunken?
  • Aktivitätslevel und Flexibilität in den Sitzungen: Sitze ich normalerweise 50 Minuten lang in derselben Haltung da? Wie könnte ich das flexibler und beweglicher gestalten? Ist genug Platz da, um aktive Bewegungselemente in die Sitzung einzubauen (aufstehen, herumgehen, Übungen machen, sich hinlegen)? Wie könnte ich das vielleicht sogar sinnvoll therapeutisch nutzen (z.B. mit einem depressiven, antriebslosen Patienten in der Sitzung aktiv zu werden, statt »über Aktivierung zu sprechen«)?

Glaubenssätze identifizieren und überdenken

Vielleicht stellen Sie bei diesen Überlegungen fest, dass Sie »eigentlich vom Kopf her schon wissen«, dass Sie etwas ändern sollten, es aber trotzdem bisher irgendwie nicht anpacken.

Identifizieren Sie die Glaubenssätze, die Sie daran hindern. Was ist Ihre tiefste Angst, was passieren würde, wenn Sie anfangen würden, wirklich gut für sich zu sorgen?
Vielleicht ist Ihnen das jetzt peinlich, weil Sie merken, dass das genau dieselben Sätze sind, die Sie von Ihren Patient:innen auch immer hören (und das, wo Sie doch schon so viel an sich gearbeitet haben!). Das ist in Ordnung, völlig normal, wir sind alle Menschen und haben unsere Geschichte.

Vielleicht möchten Sie mit Ihrer Intervisionsgruppe darüber sprechen? Oder Ihre therapeutische Lieblingstechnik für solche Fälle mal spaßeshalber an sich selber ausprobieren: Imaginativ verbinden mit einer Figur, die ganz anders tickt? Kognitives Umstrukturieren? Absorptionstechnik? Problem-Lösungs-Gymnastik? Formelhafte Vorsätze ins Autogene Training einbauen?

Körperwahrnehmung und Embodiment im Alltag selbstfürsorglich nutzen 

Hier ein paar kleine Beispiele dafür, wie das aussehen könnte:

  • Im Laufe des Tages immer mal wieder für eine Minute bewusst den eigenen Körper spüren (auch während einer Sitzung oder während der Büroarbeit): Nehmen Sie wahr, wie Ihre Füße auf dem Boden stehen, wie Sie dasitzen, wie sich Ihre Körperhaltung anfühlt, in welche Räume im Körper Sie atmen, wie eng oder weit sich das anfühlt, wo im Körper Anspannung spürbar ist. Manchmal reicht es schon, das alles wahrzunehmen, Sie brauchen es nicht sofort verändern zu können.
  • Wenn Sie in schwierigen Gesprächssituationen Impulse wie Wut, Kränkung oder Hilflosigkeit spüren: Lehnen Sie sich erst mal innerlich zurück und setzen Sie sich bequem hin. Spüren Sie, wie Ihre Füße auf dem Boden stehen und wie der Stuhl Sie trägt. Nehmen Sie ein paar tiefe Atemzüge in den Bauch. Sprechen Sie innerlich aus, was Sie jetzt gerne tun würden (z.B. diesem blöden Fatzke eine reinhauen), formulieren Sie es ruhig drastisch (aber nur innerlich!). Das reicht oft schon aus, um sich zu beruhigen und dann wieder sinnvoll und überlegt therapeutisch handeln zu können.
  • Wenn Sie sich nach einem anstrengenden Gespräch schlecht fühlen: Öffnen Sie das Fenster, atmen Sie tief durch, machen Sie ein paar Lockerungsbewegungen und stellen Sie sich dann aufrecht und stabil hin. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um das unangenehme Gefühl im Körper zu lokalisieren und zu benennen, was für ein Gefühl es ist. Dann rufen Sie absichtlich ein möglichst entgegengesetztes Körpermuster auf. Dabei könnte z.B. eine Qigong-Übung helfen, oder ein bisschen Lachyoga (einige Ideen für Übungen finden Sie hier), oder auch eine schöne Ressourcen-Erinnerung. 


Ich wünsche Ihnen gute Erholung und weiterhin viel Freude an Ihrer wichtigen Arbeit!

Ihre Sabine Ecker

Die Autorin

©Conny Ehm, Freiburg

Sabine Ecker ist Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Umkirch (Breisgau). Ausgebildet ist sie in Verhaltenstherapie, Hypnotherapie/Klinischer Hypnose, Systemischer Paartherapie sowie EMDR. Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Zusammenhängen zwischen psychischen und körperlichen Phänomenen. Bei Beltz hat Sie gerade den Ratgeber »Zuhause im eigenen Körper. Strategien für eine lebendige Körperwahrnehmung« in einer zweiten, ganz neu überarbeiteten, Auflage veröffentlicht. Er enthält auch zahlreiche praktische Übungen, um sich wieder mit Freude spüren zu können.

https://www.psychotherapie-sabine-ecker.de/

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