»Die Hebammentechnik ist der Königsweg der Gesprächsführung«: Ein Interview mit Norbert Lotz über den Sokratischen Dialog

Die Idee des Sokratischen Dialogs mag auf den ersten Blick einfach erscheinen: Ein Gespräch, das durch Fragen und Reflexion zur Selbsterkenntnis führt. Doch für angehende Psychotherapeut:innen ist das Erlernen und Einüben dieser Technik mitunter eine echte Herausforderung. Statt Antworten zu geben, müssen sie lernen, die richtigen Fragen zu stellen, um ihre Patient:innen zu eigenen Einsichten zu führen.

In unserem Interview mit Prof. Dr. Nobert Lotz, einem ausgewiesenen Experten und geschätzten Beltz-Autor, der sich in seiner beruflichen Laufbahn intensiv mit dem Sokratischen Dialog beschäftigt hat, wollen wir mehr über die Herangehensweise und die tiefgreifenden Veränderungen erfahren, die diese Technik bei Patient:innen bewirken kann.

Herr Lotz, können Sie uns zunächst verraten, wie der Sokratische Dialog zu seinem Namen kam?

Norbert Lotz: »Sokrates selbst hat nichts geschrieben. Die wichtigste Schriftquelle ist sein Schüler Platon, der die literarische Form des Dialogs zwar nicht erfunden, aber etabliert und bekannt gemacht hat. In seinen Dialogen ist Sokrates der maßgebliche Gesprächsführer, weshalb sie nach ihm benannt sind.«

Wie unterscheidet sich der Sokratische Dialog von anderen psychotherapeutischen Gesprächen?

Norbert Lotz: »Um den Sokratischen Dialog griffig und anwendbar einzusetzen, habe ich fünf Gesprächsstile herausgearbeitet, von denen sich vier auch in anderen therapeutischen Methoden wiederfinden. Die prägnanteste Methode, die den Sokratischen Dialog wirklich einzigartig macht, ist die sogenannte Hebammentechnik, griechisch ›Maieutik‹. Der Vergleich stammt von Sokrates selbst, der sich, in Anlehnung an den Beruf seiner Mutter, als ›männliche Hebamme‹ bezeichnete. Der Sokratische Dialog zeichnet sich durch ein Fragen, Zusammenfassen und Weiterfragen aus, das den Klienten anleitet, eigene Erkenntnis- und Wissenspotentiale zu entdecken und zu entwickeln und damit persönliche Ressourcen aufzubauen. Der Therapeut seinerseits bringt kein Wissen ein, sondern führt den Klienten durch Fragen auf den Weg, seine individuellen Erkenntnisse selbst zu finden.«

Welche Faktoren beeinflussen Ihre Entscheidung, welche Gesprächsmethoden Sie in der Therapie anwenden? Was gilt es dabei zu beachten?

Norbert Lotz: »Das Herausfragen eigener Erkenntnisse, die Hebammentechnik, bezeichne ich oft als den ›Königsweg der Gesprächsführung‹. Dennoch wäre es wahrscheinlich eintönig, nur diese Vorgehensweise anzuwenden. Hinzu kommt, dass sie die Fähigkeit zur Eigenreflexion betont, die nicht bei allen Klienten in ausreichendem Maße vorhanden ist. Daher kommt auch den anderen Vorgehensweisen eine große Bedeutung zu: der Wissensvermittlung (Didaktik), dem geleiteten Überprüfen bestehender Annahmen und dem humorvoll-pointiert provokativen Anzweifeln ungünstiger Glaubenssätze. Wann was sinnvoll ist, erfordert Methodenkompetenz und therapeutisches Einfühlungsvermögen.«

Bei welchen psychischen Störungen oder Problemstellungen ist der Sokratische Dialog aus Ihrer Erfahrung besonders effektiv?

Norbert Lotz: »Effektiv ist der Sokratische Dialog bei allen Schwierigkeiten und Leiden, die Folge von oder in einem engen Zusammenhang mit zugrundeliegenden dysfunktionalen, also unrealistischen und nicht hilfreichen Gedankenmustern sind. Das gilt nicht nur für psychische Erkrankungen, sondern auch für eine große Anzahl von Alltagssorgen, -ängsten und unglücklichen Gefühlen.«

Welche Vorteile sehen Sie im Sokratischen Dialog gegenüber anderen, modernen Verfahren der dritten Welle der Psychotherapie, in der eher eine Meta-Perspektive gegenüber Gedanken eingenommen wird.

Norbert Lotz: »Gemeinsam mit der sog. dritten Welle der Psychotherapie ist, dass Gedanken als solche wahrgenommen und betrachtet werden. Der bedeutsame Unterschied: Im Sokratischen Dialog werden dysfunktionale Gedanken verändert, neu konstruiert. In den Methoden der dritten Welle hingegen wird versucht, sich von den entsprechenden Gedankenprozessen zu distanzieren, so dass deren Wirkungskraft verblasst bzw. verloren geht.«

Wie reagieren die Patientinnen und Patienten in der Regel auf den Sokratischen Dialog? Gibt es typische Anfangsschwierigkeiten?

Norbert Lotz: »Vielen Menschen ist nicht klar, welche entscheidende Weichenstellung unsere Gedanken auf das Entstehen von Gefühlen und Verhaltensweisen haben. Dieses Wissen und diese Einsicht gilt es zunächst zu vermitteln und die Anwendung zu üben. Wenn Sie nach anfänglichen Schwierigkeiten fragen: Die Bereitschaft, dieses Wissen anzunehmen, nach entsprechenden Gedanken zu suchen, das ist etwas – ich darf das einmal so sagen –, was ›Arbeit‹ bedeutet. Entdecken und Verändern sind Aktivitäten, die oftmals anstrengender sind als zu klagen und sich zu beklagen.«

Welche Tipps würden Sie angehenden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten geben, die erstmals den Sokratischen Dialog in ihren Praxisstunden einsetzen möchten?

Norbert Lotz: »Machen Sie sich mit dem Sokratischen Dialog vertraut, indem Sie die entsprechenden Haltungen kennenlernen und einüben. In meinen Therapie-Tools-Band »Sokratischer Dialog« habe ich fünf Haltungen herausgearbeitet und mit Beispielen illustriert. Und: Wenn Sie den Sokratischen Dialog öfter anwenden wollen, erklären Sie im Gespräch Ihre Herangehensweise. Diese Transparenz kann sehr hilfreich sein. Außerdem unterstützt sie das Lernen zur eigenen Anwendung, zur Selbsthilfe.«

Gibt es eine besonders einprägsame Erfahrung oder einen Moment in Ihrer therapeutischen Laufbahn, in dem der Sokratische Dialog einen entscheidenden Unterschied gemacht hat?

Norbert Lotz: »Es ist eine mutmachende Erfahrung, wenn Menschen erkennen, dass sie ihre Einstellungen (spannendes Wort!) und damit ihre Gefühle und Handlungen verändern können. Ein entscheidender Beitrag zur Selbstbestimmung. Beeindruckend sind immer wieder die ›Muss-Diskussionen‹ z.B. mit der Hebammenmethode.

  • Ich muss heute Abend noch putzen. Musst du das?
  • Ja, weil morgen Besuch kommt. Wieso musst du putzen, wenn morgen Besuch kommt?
  • Naja, unsere Gäste sollen nicht denken: Wie sieht‘s denn hier aus! Du meinst, wenn du nicht willst, dass sie das denken, dann musst du eben putzen.
  • Genau, sage ich doch. Bitte noch einmal!
  • Ist das denn so schwer zu verstehen?! Wenn mein Besuch morgen nicht denken soll, wie sieht es denn hier aus, ich meine damit staubig und unaufgeräumt, dann muss ich heute Abend noch putzen. Ach ja, verstehe ich das richtig: Du musst nicht unbedingt putzen, es ist kein absolutes Muss. Du musst jedoch putzen, wenn, z. B. wenn du nicht willst, dass dein Besuch …
  • Genau. Du meinst, das ist so etwas wie ein Wenn-Müssen, ein bedingtes Müssen. Wie siehst du das?
  • Naja, irgendwie schon. In der Tat: Eigentlich müssen muss ich nicht. So kann es hilfreich sein, von einem bedingten Müssen auszugehen statt von einem absoluten, unbedingten.
  • Meinst du, man sollte eigentlich immer dazu sagen, wofür man muss bzw. »Ich muss, wenn …« Darf ich die Frage noch einmal zurückgeben?
  • Ja, ich glaube, das wäre anders – leichter, selbstbestimmter.

Vielen Dank, lieber Herr Lotz, für diesen eindrucksvollen Einblick in die Anwendung des Sokratischen Dialogs. 

Exklusiver Workshop

Erleben Sie unseren Autor Prof. Norbert Lotz am 05.07.2024 in einem Workshop zum Thema »Sokratischer Dialog« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!

Der Autor


Prof. Norbert W. Lotz ist Diplom-Psychologe, approbierter Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut, Qi Gong-Lehrer (Nei Yang Gong), Trainer und Lehrtherapeut für Rational-Emotive und Kognitive Verhaltenstherapie. Bei Beltz hat er mehrere Bücher, u.a. »Therapie-Tools Sokratischer Dialog« , »Metaphern in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie«, und Kartensets, u.a. »Qi Gong« (zusammen mit Christina Oxfort), »Akzeptanz- und Commitmenttherapie« veröffentlicht.

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