In den Gesprächen in meiner Praxis setze ich sehr gerne Geschichten und Gedichte ein. Warum? Weil Geschichten oder poetische Texte auf besondere Weise berühren und verändern können. Geschichten und Poesie haben die Kraft, tief in das Erleben von Menschen einzutauchen. Sie berühren nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz und die Sinne. Oft sind es nicht die logischen Erklärungen, sondern die inneren Bilder, die nachhaltig wirken.
Die Wirkung von Bildern und Metaphern in der Therapie
Eine Geschichte kann etwas sagen, was Fakten allein nicht können. So entstehen emotionale Resonanzen, die weit mehr bewirken als rein kognitive Einsichten. Ein Gedicht kann tief berühren und innere Welten eröffnen. Geschichten erreichen das Unbewusste und laden Klient:innen ein, innere Bilder zu entwickeln.
Therapeut:innen können Geschichten einsetzen, um neue Perspektiven aufzuzeigen und Prozesse anzustoßen. Schon ein einzelner Satz kann manchmal einen kann Impuls setzen, der nachhaltige Veränderungen anstößt. Im therapeutischen Setting können Geschichten genutzt werden, um emotionale Zugänge zu schwierigen Themen zu erleichtern, Ressourcen sichtbar zu machen oder neue Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ein Bild, eine Metapher, ein Stück Poesie – Worte, die etwas in Bewegung setzen und helfen, innere Räume zu öffnen, in denen Veränderung leise und nachhaltig wachsen kann.
Manchmal braucht es nur ein Bild, um einen neuen Weg sichtbar zu machen. Ein wunderbares Beispiel dafür ist der Text »Blickwinkel« aus dem Buch »Ansichtssache – den Blickwinkel erweitern«.
Blickwinkel
In jeder Krise steckt eine Chance
Nein – die Wahrheit ist
dass eine Krise nichts als Schmerz bringt
ich glaube nicht
dass es besser wird
dass sich etwas an meiner Lage ändern kann
dass es ein Licht am Ende des Tunnels gibt
es ist doch ganz klar
dass alles so bleibt
ich kann unmöglich hoffen
nichts wird sich verändern
es wäre gelogen ich würde sagen
ich schaffe das
Und nun lesen Sie den Text noch einmal von unten nach oben!
Dieser Text zeigt: Die Perspektive entscheidet! Beide Blickrichtungen sind wahr und doch öffnet ein neuer Blickwinkel neue Wege. Texte wie diese bieten vielfältige Impulse für die therapeutische Arbeit und folgende Reflexionsfragen können dabei zusätzlich begleiten:
- Von welcher Seite aus betrachten Sie Ihre aktuelle Situation?
- Welche Grundhaltung bestimmt Ihr Leben?
- Was könnte sich in Ihrem Leben ändern, wenn Sie eine neue Perspektive einnehmen würden?
Geschichten und Metaphern sind in der Psychotherapie besonders wirkungsvolle Werkzeuge, weil sie nicht belehrend wirken. Sie ermöglichen es, eigene innere Erfahrungen entstehen zu lassen. Dabei wirkt eine gute Metapher wie ein Anker: Sie verankert das Erleben im emotionalen Gedächtnis und unterstützt die Integration neuer Sichtweisen auf eine Weise, die rationales Verstehen allein oft nicht erreicht. Dadurch öffnet sie neue Räume, schafft Erleben und ermutigt Veränderung auf einer tieferen Ebene.
Eine Geschichte, die zeigt, wie unsere innere Haltung und Wahrnehmung unser Leben beeinflusst
In der psychotherapeutischen Arbeit können kleine Geschichten große Wirkung entfalten. Die folgende Geschichte, die ich besonders gern nutze, zeigt auf einfache und zugleich eindrückliche Weise, wie unsere innere Haltung beeinflusst, was wir in unserem Leben wahrnehmen und hineinlassen.
Anziehungskraft
Es waren einmal zwei Magnete. Beide waren völlig identisch in ihrer Abmessung und ihrer Haftkraft. Der eine Magnet führte ein sehr zufriedenes Leben und war mit sich und der Welt im Einklang. Er genoss sein Leben und hatte Freude an dem, was er tat.
Der andere Magnet hingegen war oft mürrisch und schlecht gelaunt. Manchmal überfiel ihn sogar eine große Traurigkeit. An anderen Tagen schlug seine Traurigkeit in Zorn um. An einem solchen Tag traf der mürrische Magnet den zufriedenen Magneten.
Ärgerlich sagte er zu ihm: »Wie kann es sein, dass du ständig all die schönen Dinge mitbringst. Schau dich nur an. An dir hängen 1-, 2- und 5-Cent-Münzen, wunderschöne Ohrringe aus Nickel und glitzernde Ringe aus Kobalt. Wie kann das sein? Ich hingegen bringe immer nur Schrott mit: Eisenspäne, Blechabfälle, alte Deckel und Dosen oder Büroklammern. Wieso findest du immer die großartigen Dinge und ich nicht?«
Darauf entgegnete der zufriedene Magnet: »Du und ich wir haben dieselbe Kraft. Ich orientiere mich an den schönen Dingen. Ich ziehe das an, worauf ich mich ausrichte. Meine Energie folgt meiner Aufmerksamkeit.«
Diese Geschichte vermittelt eine kraftvolle Erkenntnis: Die eigene Haltung bestimmt, was wir in unser Leben ziehen.
Folgende Reflexionsfragen können Klient:innen dabei zusätzlich unterstützen:
- Was bleibt an Ihnen »hängen«?
- Welche positiven Dinge können sie heute ganz bewusst in den Blick nehmen?
Texte wie diese eröffnen neue Ansätze, therapeutische Prozesse leicht und einprägsam zu gestalten.
Eine Geschichte, um Mut zur Veränderung finden
Möchten Sie noch eine schöne Geschichte, die sich wunderbar in die Therapie integrieren lässt? Die Geschichte »Heimathafen« lädt dazu ein, eigene Sehnsüchte zu erkennen und den Mut für Veränderung zu finden.
Heimathafen
In einer kleinen idyllischen Küstenstadt gab es einen Hafen. An diesem Hafen lagen viele verschiedene Boote. Kleine Fischerboote, Ausflugsboote, schicke Jachten und Segelboote. Jeden Tag fuhren die Boote raus, um am Abend vor Einbruch der Dämmerung wieder anzulegen. Manche Boote waren sogar wochenlang unterwegs. Ein Boot jedoch bewegte sich nie. Es lag tagein und tagaus an derselben Stelle. Fest vertäut am Steg.
Von dort aus beobachtete es die anderen Boote bei ihrer Abfahrt und ihrer Ankunft und stellte sich vor, was sie wohl alles auf ihren Fahrten erlebt hatten. Hatten die Fischerboote genug gefangen? War der Wind günstig für die Fahrten der Segelboote? Ganz besonders fasziniert war es jedoch von den Booten, die lange Reisen unternahmen. Wo sie wohl hinfuhren? Vielleicht in die Südsee? Dort sollte es wunderschön sein. Lange Sandstrände, azurblaues Wasser und Palmen soweit das Auge reichte. Oder vielleicht hoch nach Norwegen, entlang der Hurtigruten der alten Postschiffe. Von dort, so hatte das Boot gehört, sollte man einen herrlichen Blick auf die Fjorde haben. Vielleicht fuhren die Jachten aber auch entlang der Pazifik-Küstenlinie von Kanada nach Alaska.
Das Boot konnte sich alles genau vorstellen: Grün bewachsene Berge, schroffe Felsküsten und die unendliche Weite des Nordens. Das musste ein einziges Abenteuer sein! Da draußen, jenseits des Hafens, gab es so viel zu entdecken. Das Boot wusste, es müsste dazu nur den Anker lichten und die Leinen losmachen. Doch stattdessen blieb es genau da, wo es war: im Heimathafen.
Die Geschichte erinnert daran, dass jeder Mensch seinen eigenen Rhythmus zwischen Ankommen und Aufbrechen hat. Folgende Reflexionsfragen, können Klient:innen dabei zusätzlich unterstützen:
- Was ist mein eigener »Heimathafen« und gibt mir Sicherheit?
- Wonach sehnen Sie sich, wenn Sie »anlegen« möchten?
- Was darf bleiben, was darf sich verändern?
Praktische Impulse für Ihre Arbeit
- Habe ich Ihre Neugierde geweckt, Geschichten in den Therapieprozess einfließen zu lassen? Mit den folgenden Tipps und Anregungen möchte ich Sie unterstützen, Geschichten und kurze Texte als wirkungsvolle Interventionen einzusetzen: Nutzen Sie gezielt kurze Texte oder Gedichte im therapeutischen Prozess.
- Wählen Sie Geschichten aus, die sowohl Herz als auch Verstand Ihrer Klient:innen ansprechen.
- Lassen Sie Klient:innen auch selbst erzählen, welche Bilder oder Gedanken bei ihnen entstehen.
- Arbeiten Sie mit Fragen, die die Wahrnehmung öffnen und nicht bewerten.
- Entwickeln Sie mit Ihren Klient:innen eigene kleine Geschichten, die positive Zukunftsbilder entstehen lassen.
- Setzen Sie bewusst Pausen nach dem Vorlesen, damit innere Resonanz wachsen kann.
- Bitten Sie Ihre Klient:innen, eine Geschichte mit eigenen Worten weiterzuerzählen oder umzuschreiben.
- Seien Sie mutig, kreative Elemente einzubringen – Ihre Intuition ist ein wertvoller Wegweiser!
Wenn Sie mit Worten arbeiten, arbeiten Sie immer auch mit den Sinnen. Ihre Klient:innen werden nicht nur verstehen. Sie werden auch spüren. Und Veränderung beginnt genau dort. Geschichten können vor dem inneren Auge lebendig werden, ins Ohr flüstern, als Gefühl die Haut berühren, den Duft von Erinnerung tragen oder den Geschmack von Hoffnung wecken – auf eine stille, kraftvolle Weise.
Mein persönlicher Tipp für mehr Text-Inspirationen
Wenn Sie sich von diesen hier vorgestellten oder weiteren poetischen Impulsen berühren lassen möchten, stöbern Sie gern im Buch »Ansichtssache – den Blickwinkel erweitern«. Als Reinschreibbuch für Klient:innen bietet es zahlreiche Anregungen und Ideen, die direkt von Klient:innen genutzt werden können. Ebenso können die Geschichten und Impulse in der Praxis von Ihnen vorgelesen und eingesetzt werden. Als eine Einladung, neue Perspektiven zu entdecken, innere Bilder wachsen zu lassen und Veränderungen zu begleiten. Denn manchmal reicht ein einziges inneres Bild oder ein leiser Vers, um Türen zu öffnen, wo zuvor nur Mauern waren.
Die Autorin

Susanne Büscher ist Diplom-Sozialpädagogin, Seelsorgerin und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie arbeitet in eigener Praxis im oberbergischen Waldbröl, in der sie Menschen in Lebens- und Beziehungskrisen begleitet. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Themen Selbstwert, Biografie, Kommunikation und Resilienz. Sie ist Autorin zweier Bildkartensets zu den Themen »Lebenswege« (2024) und »Trauer und Abschied« (2025) und des Reinschreibbuches »Ansichtssache – den Blickwinkel erweitern«. www.susanne-buescher.com