Die Zahl geflüchteter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener, die in Deutschland Schutz suchen, bewegt sich seit Jahren auf hohem Niveau. Der im Frühjahr 2022 ausgebrochene Krieg in der Ukraine führte abermals zu gewaltigen innereuropäischen Migrationsbewegungen. In Deutschland haben bis zum Januar 2023 beispielsweise etwa eine Million Menschen aus der Ukraine Schutz gesucht. Neben den Menschen aus der Ukraine werden in Zukunft weiterhin Erwachsene, Jugendliche und Kinder ihre Heimatländer verlassen – sei es wegen Krieg, Verfolgung, Hunger, Armut oder den Auswirkungen der Klimakrise – und in unserem Land Zuflucht sowie Hilfe im psychotherapeutischen Versorgungssystem suchen. Ich möchte Ihnen gern eine digitale Möglichkeit vorstellen, das Eis für den Beziehungsaufbau in der Psychotherapie mit Geflüchteten und Migrant:innen zu brechen.
Unsere Aufgabe als Therapeut:innen ist Menschen trotz milieubedingter, sprachlicher und kultureller Barrieren weiterzuhelfen. Für die therapeutische Arbeit mit Geflüchteten und Migrant:innen stehen bewährte Test- und Therapiematerialien bisher noch eingeschränkt zur Verfügung. Erfreulich ist jedoch, dass es in den letzten Jahren einen gewissen Zuwachs an Material und Literatur gegeben hat. Auch in Fort-, Aus- und Weiterbildungen fließen interkulturelle Aspekte zunehmend ein.
Digitale Straßenansichten – teilweise bis zu 360°
In einer Psychotherapie kann gerade unsere Neugierde am Herkunftsland bei Jugendlichen und Erwachsenen einen wertvollen Beitrag zum Beziehungsaufbau leisten. Mein digitaler Eisbrecher sind deshalb Angebote wie Google Maps oder Google Street View. Die ganze Welt ist durch Satellitenfotos abrufbar und ermöglicht das virtuelle Erkunden der Heimatstädte und -orte unserer Patient:innen selbst in den entferntesten Ländern! Es gibt 360° Aufnahmen von Straßen und Städten. Manchmal stehen diese nicht zur Verfügung. Aber häufig haben andere Nutzer:innen Fotos von Geschäften und aus der Umgebung eingestellt. Es lohnt sich diese mit Patient:innen gemeinsam zu entdecken. Ich selbst habe erst kürzlich die Stadt Ternopil kennengelernt. Ein 15-jähriger Patient aus der Ukraine hatte mich mitgenommen.
Im Stadtpark von Ternopil
Wir stehen nun auf einer Straße vor kleinen gemütlichen Einfamilienhäusern. Im Hintergrund können wir große Häuser erblicken, die in Plattenbauweise errichtet wurden. In den gepflegten Vorgärten der Häuser erblicken wir Akazien, blühenden Flieder und ab und an kleine Gemüsegärten. Die Sonne scheint am strahlend blauen Himmel. Wenn wir die Straße entlang Richtung Stadtzentrum gehen, schauen wir auf ungewohnt bunte Häuser mit bunten Schildern und kyrillischer Schrift. Das Treiben auf der Straße ist auch recht spannend. Die Leute sehen doch ein wenig anders aus – um nicht zu sagen recht chic. Die Busse wirken kompakt und ein wenig klobig. Hin und wieder taucht sogar ein Oberleitungsbus im Stadtbild auf. Die Stadt, in der wir uns befinden, ist eine kleine Stadt, die vielen sicher nicht bekannt ist. Sie heißt Ternopil und befindet sich im Westen der Ukraine. Besonders spannend und berührend waren für mich jedoch die Eindrücke aus der ehemaligen Nachbarschaft meines 15-jährigen Patienten: Sein alltäglicher Weg zur Schule, die Spielplätze und nicht zuletzt das aus weißen Steinen gemauert Wohnhaus mit den Fenstern der Wohnung, die nun verwaist ist.
Die leuchtenden Augen der Patient:innen
Ich gebe gern zu, dass mir manchmal etwas mulmig dabei ist, wenn ich Patient:innen vorschlage so einen kleinen gemeinsamen (virtuellen) Ausflug zu unternehmen. Ich würde es auch nicht bei jedem machen. Ich frage mich wie die Patient:innen auf die Bilder ihrer Nachbarschaft, der Häuser, Plätze und der Natur der Heimat wohl reagieren. Bisher sind meine Erfahrungen jedoch durchweg positiv: Meine Patient:innen haben sich gefreut vertraute Orte wiederzuentdecken. Sie freuen sich dies zu teilen und zu zeigen und darüber, dass sie Interesse spüren. Patient:innen erleben sich in einer kompetenten Rolle in der sie (endlich auch einmal) erklären können.
Nicht selten stellte sich ein Redefluss ein und der Glanz in den Augen verrät, wie wertvoll solch ein Moment sein kann. Ich als Therapeut schaue mir mit den Patient:innen genauer an wo jemand herkommt: Was vermissen sie eventuell? Wie fremd ist hier wohl das Stadtbild und die Landschaft? Es ergeben sich unzählige Fragen zur Lebenswelt der Patient:innen. Und natürlich achte ich auf die Körpersprache und die Mimik, die in diesen Momenten manchmal überhaupt erst sichtbar wird. Ich habe in den letzten Jahren zumindest eine Idee bekommen wie es in den Straßen von Ternopil, Beirut, Kabul und in den Dörfern rund um Damaskus aussieht.
Kreative Eisbrecher für Kinder
Für Kinder ist diese digitale Form nur bedingt geeignet. Die Ansichten sind manchmal zu abstrakt und die Erinnerungen nicht so stark. Gute Erfahrungen habe ich hier tatsächlich mit den eher klassischen Methoden gemacht. Zum Beispiel bietet das Malen des Hauses, der Stadt oder von etwas anderem (was vielleicht für das Hinter-sich-gelassene steht) gute Anknüpfungspunkte für den Aufbau einer Beziehung. Bewährt hat sich auch der Einsatz von Büchern oder anderen Medien in denen menschliche oder tierische Figuren dem Kind eine Identifikationsmöglichkeit bieten. Auch ohne »digitale Eisbrecher« gelingt so mit Kindern das Errichten eines Fundamentes für eine belastbare therapeutische Beziehung ohne die Gefahr, durch die zu direkte Ansprache die Tür zu verschließen.
Impuls für die eigene psychotherapeutische Arbeit
Und welche Eisbrecher haben sich zum Beziehungsaufbau in Ihrer therapeutischen Arbeit mit Geflüchteten und Migrant:innen bewährt? Mit welchen Ideen konnten Sie einen »Aha-Effekt« bewirken? Vielleicht hat mein Beitrag auch Ihr kreatives Potential geweckt und Sie probieren in den nächsten Wochen einmal die ein oder andere neue Idee aus – ich wünsche Ihnen viele bereichernde Eindrücke!
Der Autor
Joachim Radtke (Dipl.-Soz.Arb./Dipl.-Soz.Päd.) ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut der Fachrichtung Verhaltenstherapie. Die beruflichen Stationen führten ihn von der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Arbeit im stationären Jugendhilfesetting. Ein Schwerpunkt stellte unter anderem der Aufbau stationärer Angebote für unbegleitete minderjährige Geflüchtete dar. Derzeit ist er als Institutsleiter und Leiter des Ausbildungsbereichs für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten des IVBs (Institut für Verhaltenstherapie Berlin) tätig. Außerdem behandelt er in eigener Praxis, arbeitet freiberuflich als Dozent und unterrichtet unter anderem zu den Schwerpunkten Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung mit Kindern und Jugendlichen. Bei Beltz hat er das Kartenset »Karas große Reise. Mit Kindern über Flucht und Migration sprechen.« mit 60 Frage- und Übungskarten für die therapeutische und pädagogische Praxis veröffentlicht.