Vielleicht kennen es manche aus der praktischen Arbeit: Im Erstgespräch mit (oft jungen) Patient:innen wird berichtet, dass phasenweise »Lücken« in der Wahrnehmung bestehen, dass sogar ganze Episoden aus der Vergangenheit gar nicht erinnert werden, oder dass es manchmal zu »Nebelzuständen« kommt, in denen die Umwelt wie verschleiert wahrgenommen wird. Manche Betroffene berichten auch von skurrilen körperlichen Phänomenen: Plötzlich sackt der Körper zusammen, einzelne Körperteile lassen sich nicht mehr bewegen oder sie machen, was sie wollen. Sogar Ganzkörperzittern oder Lähmungen im gesamten Körper treten auf. Nicht selten werden die Beschwerden in einem eher beiläufigen Ton berichtet. Manchmal sind es auch eher die Angehörigen, die beunruhigt sind, während die Betroffenen selbst »gar nichts mitkriegen«. Und oft tritt das Symptom nur anfallsartig auf, während in der Zwischenzeit alles normal ist.
Für viele Therapeut:innen sind derartige Berichte wie ein Warnschuss, der in eine bestimmte Richtung weist: Wenn Dissoziation im Spiel ist, dann geht es um eine Traumatisierung! Viele fühlen sich bereits an dieser Stelle schon nicht mehr zuständig oder befürchten unkontrollierbare Folgen, wenn sie an der Symptomatik arbeiten. Was passiert, wenn ein:e Patient:in innerhalb der Therapiestunde im engen Zeitplan eines Arbeitstages plötzlich dissoziiert? Muss ich dann den Krankenwagen rufen? Was mache ich, wenn er/sie nicht mehr aufwacht?
Dissoziation – zwar körperlich, jedoch gänzlich ungefährlich
Dissoziative Beschwerden treten körperlich in Erscheinung, ähnlich den Somatoformen Störungen. Während Somatoforme Störungen jedoch häufig in der Inneren Medizin auftreten (z.B. chronische Darmbeschwerden), treten dissoziative Störungen meist in der Neurologie in Erscheinung. Die oft plötzlich auftretenden Symptome sind oft mit einer gewissen Dramatik verbunden, wie z.B. bei einer plötzlichen Störung der Wachheit, d.h. Ohnmacht, oder halbseitigen Lähmungen oder Zuckungen. Hier wird oft eine akute und lebensbedrohliche Erkrankung vermutet. Dies führt paradoxerweise jedoch zu einer erhöhten Gefahr für die Betroffenen: Studien zeigen, dass junge Menschen mit dissoziativen Anfällen eine erhöhte Sterblichkeit aufweisen, aber nicht etwa wegen des Symptoms selbst, sondern durch medizinische Interventionen und invasive Behandlungen, die in diesem Fall nicht hilfreich sind. Vor diesem Hintergrund ist dringend zu empfehlen, körperliche Beschwerden im Zusammenhang mit Dissoziation ernst zu nehmen, sich aber nicht von der Dramatik der Beschwerden mitreißen zu lassen. Es ist in jedem Fall sehr hilfreich, eine enge neurologische Mitbehandlung zu etablieren, wenn man sich z.B. für die therapeutische Arbeit mit einer Person mit dissoziativen Anfällen entscheidet. Sobald unklare Symptome hinzukommen oder die eigene Unsicherheit bezüglich des Ursprungs der Beschwerden wächst (doch Epilepsie?), dann sollte der/die mitbehandelnde Kolleg:in herangezogen werden. Dies kann sowohl im niedergelassenen Bereich als auch in Spezialambulanzen der Krankenhäuser und vor allem der Universitätskliniken gewährleistet werden. Es gibt auch eine zunehmende Anzahl an Spezialist:innen für dissoziativen Symptome innerhalb der Neurologie, die sich für eine Mitbehandlung besonders eignen. Eine Übersicht findet man auf der Internetseite der AG FNS. Bei einer stabilen Mitbehandlung, bei der man sich im Zweifelsfall rückversichern kann, spricht nichts gegen eine psychotherapeutische Behandlung trotz körperlicher Symptome.
Spezifische therapeutische Techniken im Umgang mit Dissoziation
Im Folgenden finden Sie Tipps für den Umgang mit dissoziativen Störungen, die spezifisch für das Krankheitsbild sind.
1. Übertragungsdynamik verstehen: der Tanz um das Symptom
Die Theorie zur Entstehung Dissoziativer Störungen besagt, dass die Symptomatik ein Stellvertreter für ein unbewusstes Gefühl ist. Dies kann ein sehr bedrohliches Gefühl sein, welches abgespalten (»dissoziiert«) wird, oder auch ein Gefühl, das unangenehme Sekundärgefühle wie Scham, Schuld oder Neid auslöst, die vom System abgewehrt werden müssen.
In der Übertragung erlebt man oft eine Dringlichkeit, da die körperlichen Symptome häufig so frappant in Erscheinung treten. Oft werden die heftigen Symptome aber gleichzeitig von den Betroffenen selbst bagatellisiert: Sie sind oft seltsam unbeteiligt, bzw. es entwickelt sich häufig kein kohärentes Selbstmitgefühl in Bezug auf die Symptome und die Einschränkungen im Alltag. Diese vordergründige Teilnahmslosigkeit resultiert oft aus der unbewussten Abwehr des eigenen Wunsches nach Anlehnung, Bindung und Anerkennung, der mit einer großen Bedürftigkeit einhergeht. Diese große Bedürftigkeit wird wiederum in den heftigen Symptomen sichtbar: Der Körper spricht hier aus, was der Kopf (oder »die Seele«) verdrängt hat.
2. Die Symptome akzeptieren: Entkatastrophisierung als Schlüssel zur Veränderung
Hat man die Übertragungsdynamik erst einmal für sich selbst erkannt, fällt es in der Regel viel leichter, damit zu arbeiten. Denn im ersten Schritt ist es oft zielführender, erst einmal zu akzeptieren, dass die Symptomatik einfach »da« ist. Es besteht meist ein allgemeiner Druck (oft und vor allem von Angehörigen), das Symptom »wegzumachen«. Wenn man sich von diesem Druck befreit und versucht, das Symptom als zunächst einmal als vorhanden zu akzeptieren und dies in der Therapiebeziehung auch den Patient:innen vermittelt, dann kann dies im besten Fall zu einer Entkatastrophisierung des Symptoms führen. Erst über eine Entkatastrophisierung kann letztlich ein eigener, intrinsischer Wunsch in der gemeinsamen therapeutischen Ursachensuche entstehen, der dann langfristig auch eine erfolgreiche Symptomreduktion bewirken kann.
3. Den Körper einbeziehen
Gerade in der ersten Therapiephase kann es sehr hilfreich sein, die Körperwahrnehmung in die Therapie mit einzubeziehen. Es ist z.B. spannend, gemeinsam zu erforschen, wo im Körper sich bestimmte Emotionen lokalisieren lassen, oder wie sich das Symptom anfühlt und wo es zu lokalisieren ist. Man kann sich Zeit lassen in der gemeinsamen kognitiven Erforschung der Körperlichkeit der Beschwerden, therapeutisch können hier schulenübergreifend viele Angebote für eine differenzierte Körperwahrnehmung gemacht werden. Damit wird der Betroffene dort abgeholt, wo er steht und nicht in eine Psychologisierung gedrängt, obwohl das System noch nicht bereit ist, das Körpersymptom aufzugeben. Gleichzeitig wird die Selbstwahrnehmung geschult.
4. Dann: weg vom Symptom!
Hierbei ist jedoch unbedingt darauf zu achten, dass man nicht in eine ausschließlich um das Symptom bemühten Hilfs – Ich – Position gedrängt wird, d.h. dass es im Therapieprozess unbewusst zu einem gemeinsamen »Hegen und Pflegen« des Symptoms kommt. Das würde den primären und sekundären Krankheitsgewinn befeuern und letztlich eine Symptomkonstanz eher verstärken. Im Verlauf der Therapie sollte man »weg vom Symptom« kommen, denn es geht darum, die Eigenverantwortung der Betroffenen und die Selbstwirksamkeit in der Wahrnehmung des eigenen Körpers zu stärken, um dann in einem zweiten Schritt die Deutung der Körpersymbolik durch die Betroffenen selbst anzuregen und Zusammenhänge zwischen der Symptomatik und dem emotionalen Erleben verständlich zu machen.
5. Das Thema Traumatisierung und eine Möglichkeit des Umgangs außerhalb spezieller Traumatherapien
In einigen Fällen tritt die dissoziative Symptomatik unmittelbar nach einem akuten traumatischen Ereignis auf und manifestiert sich dann als akute Traumafolgestörung oder Posttraumatische Belastungsstörung. Voraussetzung für die Diagnose ist, dass das traumatische Ereignis die Kriterien erfüllt und nicht länger als zwei Jahre zurückliegt. In diesem Fall ist eine spezielle Traumatherapie bzw. spezielle Übungen indiziert, die das traumatische Erlebnis mitsamt der nachfolgenden regressiven Entwicklung (»Struktureinbruch durch Trauma«) adressieren.
Bei allen anderen dissoziativen Störungen ist es oft so, dass ein zwar Bagatelltrauma die Symptomatik auslöst, dass es aber andere Thematiken dahinter gibt, die die eigentlichen Verursacher der Beschwerden sind. Hier spielen Traumata ebenfalls eine große Rolle, allerdings handelt es sich eher um Beziehungstraumata oder auch um chronische Traumatisierungen aus früheren Lebensphasen. Eine spezifische Traumatherapie kann hier ebenfalls helfen, jedoch ist eine gute, verlässliche Therapiebeziehung hier ebenso ein sehr wichtiger Wirkfaktor. Therapeutische Kernthema ist das Aushalten der Symptome in all ihrer »Schrecklichkeit«, also das Aushalten der Person selbst, auch wenn sie gerade mit ihren Symptomen »unangenehm« (störend) ist und sich unangenehme Gefühle zeigen. Dies kann eine emotional korrigierende Erfahrung sein, da die betroffene Person vielleicht in früheren Erfahrungen nicht »ausgehalten« wurde. Es kann also unter gewissen Umständen schon eine heilende Wirkung haben, einem dissoziativen Anfall beizuwohnen, ohne zu intervenieren oder ins Agieren zu geraten. Dies führt zu einer Entkatastrophisierung, der (traumatische) Inhalt, der sich im Körper reinszeniert, kann so Schritt für Schritt in die korrigierende emotionale Erfahrung reintegriert werden, ohne dass spezifische, aktiv eingebrachte Techniken angewendet werden müssen.
Die Autorin
Prof. Dr. med. habil. Philine Senf-Beckenbach, Professur für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medical School Berlin (Hochschule für Gesundheit und Medizin). Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachärztin für Neurologie, Gründerin der »Ambulanz für dissoziative Anfälle« an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Sie ist Autorin des Therapie-Tools-Bandes Dissoziation, erschienen 2025 bei Beltz.