Wehe, man trinkt keinen Alkohol – dann lästert das Umfeld. Trinkt man zu viel, «hat man sich nicht im Griff» und wird gesellschaftlich abgelehnt. Das ist ein driftiger Grund, weshalb Menschen Alkoholabhängigkeiten verheimlichen: um sich vor sozialen Angriffen zu schützen. Wir als Therapeuten sollten unseren Patienten und Klientinnen vorurteilsfrei begegnen. Die Abhängigkeit hat wenig mit reinem Willen zu tun, vielmehr ist es eine Erkrankung, an der man diszipliniert und wohlwollend mit sich selbst arbeiten kann und sollte. Ein validierendes und verständnisvolles Eingehen sowie eine konsequente Haltung, im Sinne der Lerntheorien, sind dabei das A und O.
Nebst einer ausführlichen Diagnostik und Klärung der Veränderungsmotivation, die von besonders hoher Bedeutung ist, geht es über in Intervention, Rückfallprophylaxe mit Selbstmanagementelementen und einem Fade-out.
Hier sind für jede Stufe der Begegnung mit dem Patienten oder der Klientin Interventionen und Tipps aufgeführt.
1. Nennen Sie das »Kind beim Namen«
Nach einem erfolgreichen therapeutischen Beziehungsaufbau, darf und sollte man das »Kind beim Namen nennen«. Bitte sagen Sie nicht Dinge wie »Könnte es sein, dass Sie ein bisschen über den Durst getrunken haben?« - Aussagen wie diese bagatellisieren den Konsum. Fragen Sie gerne dezidiert nach: »Sie haben heute erzählt, dass Sie derzeit mehr trinken als gewöhnlich. Gerne würde ich das heute zum Anlass nehmen und mit Ihnen explorieren, wenn Sie einverstanden sind.« Dazu können Sie Fragebögen wie den Cage oder den Audit nutzen, um sich bezüglich der Kriterien sicherer zu fühlen.
Tipp: Wer sich noch nicht traut, ganz offen den Konsum anzusprechen, für den oder die kann es hilfreich sein, den Fragebogen in die digitale Testung miteinfließen zu lassen oder den Fragebogen den Patientinnen mit nach Hause zu geben.
2. Funktion, Funktion, Funktion
Wichtig ist es, jede einzelne Funktion des Konsums zu beleuchten: Sind es innere Ereignisse oder äußere oder beides? Sind es bestimmte Tageszeiten oder Orte? Sind es positive oder negative Gefühle? Oder liegt eine Unterzuckerung vor, die den Konsum triggert, oder andere körperliche Reaktionen? Erstellen Sie zu jeder Funktion eine gesunde Handlungsalternativen und Reaktionsverhinderungen. Aktivieren Sie und üben Sie mit dem Patienten ein trinkinkompatibles Verhalten, wie z.B. Sport oder Entspannungsverfahren oder ein Museumsbesuch.
Tipp: Nutzen Sie Skills-Listen aus der DBT oder Therapiematerialien zur Emotionsregulation. Auch online gibt es viele hilfreiche Ressourcen wie »Schöne-Dinge-Listen«.
3. Alternativen oder …
… sägen Sie schonend und bestimmt den Ast ab, auf dem der Patient sitzt. Wir wollen im therapeutischen Prozess unsere Patienten nicht verlieren und ihn oder sie trotzdem von der abhängig machenden Substanz wegbringen. Hat der Patient noch keine körperliche Anhängigkeit, können wir Schritt für Schritt mit dem Patienten parallel zum Konsum innerhalb der 10 uns zugestandenen Stunden (gemäß den Krankenkassen in Deutschland) Alternativen schaffen und eine Trinkreduktion erwirken.
Tipp: Verbalisieren Sie, dass Sie sich bewusst sind, dass Sie eventuell erst einmal gegen die Bedürfnisse (Alkohol zu trinken) des Patienten arbeiten. Dieses Bewusst-Machen schafft vielmals Erleichterung auf beiden Seiten.
4. Gleichgesinnte
«Freunde, die nicht das Beste für einen wollen, können weg.» ist zwar eine radikale Aussage, aber trifft beim Alkoholkonsum besonders zu. Wie bei Anhängigkeiten von harten Drogen empfiehlt es sich hier genauso, auf das soziale (Trink-)Umfeld der Patientin zu achten. Versuchen diese, die Patientin immer und immer wieder zum Konsumieren zu überreden, ist ein klärendes Gespräch zu empfehlen. Sollte das Bedürfnis nach Nüchternheit nicht akzeptiert werden, wäre es an der Zeit, dass Sie Ihrer Patientin die Frage stellen, was diese noch mit ihrem Trink-Umfeld verbindet.
Tipp: Thematisieren Sie in diesem Rahmen auch etwaige Co-Abhängigkeiten und klären Sie Angehörige über die Thematik auf.
5. Lesen, hören und reflektieren
Geben Sie Ihren Patienten oder Klientinnen Lesetipps (sogenannte Quit Lit) oder empfehlen Sie ihnen Podcasts zum Thema (z. B. Sodaklub, Frau Brehmer trinkt nicht mehr, Nathalie Stüben, Mia Gatow).
Vielen Klienten und Patientinnen hilft es, ein Tagebuch zur Selbstreflexion zu schreiben oder eine App mit der Anzahl der nüchternen Tage zu führen.
Tipp: Das Medium sollte zu den Bedürfnissen des Patienten passen. Vielleicht ist die Patientin auch eine ungeahnt frohe Podcasthörerin?
6. Spielen
Üben Sie spielerisch mit dem Patienten Alkohol in sozialen Situationen abzulehnen. Animieren sie den Patienten in Rollenspielen gegen Alkohol zu argumentieren.
Tipp: Seien Sie kreativ: Spielen Sie Bingo mit den besten Überredungskünsten und den schlagfertigsten Antworten.
7. Exposition
Einigen Patientinnen hilft es, mit Ihnen Expositionstrainings durchzuführen, wie z.B. an der Stammkneipe vorbeizulaufen, ein Glas des ehemaligen Lieblingsgetränks nicht anzunehmen (Übung für Fortgeschrittene) oder im Supermarkt an den Alkoholika vorbeizugehen.
Tipp: Sollte das Aufsuchen von realen Situationen zu risikohaft oder unerwünscht sein, kann man auf ähnlich wirksame Alternativen, wie auf die Arbeit mit VR-Brillen (ein entsprechendes Angebot findet man z.B. bei VirtuallyThere), umsteigen.
8. Jeder Tag ohne Alkohol ist ein guter Tag
Verdeutlichen Sie sich und Ihrem Patienten, dass jeder Tag ohne Alkohol ein guter Tag ist. Wer sich das Ziel setzt, nie wieder zu trinken, scheitert eher an dieser hohen Erwartung.
Tipp: Sollte es zu einem Rückfall kommen, nehmen Sie diesen ernst, dramatisieren Sie ihn jedoch nicht. Der Klient macht sich in der Regel schon am meisten Vorwürfe.
9. Geduld und Zuversicht und Kontinuität
Der Motor der Aufrechterhaltung der Nüchternheit ist Geduld und Wohlwollen mit sich selbst und ein diszipliniertes Einlassen, Üben und Neugierig-Sein auf neue Begegnungen, Methoden und Erfahrungen.
Tipp: Der Patient soll sich zum Austausch hierzu Verbündete suchen und sich regelmäßig mit ihnen treffen.
10. Fremdverpflichtung – Verantwortung übernehmen
Als fortgeschrittene Methode zur Aufrechterhaltung der Nüchternheit, empfiehlt sich eine öffentliche Fremdverpflichtung, (dies kann ihm Rahmen von z.B. Selbsthilfegruppen, im Chor oder das Geben von Interviews oder eines Outings unter Freunden, der Familie oder dem Kollegium vonstattengehen).
Tipp: Suchen Sie gemeinsam mit Ihrer Klientin ein Vorbild und erarbeiten Strategien, wie sich ein ähnliches Projekt umsetzen könnten.
Ich wünsche Ihnen ein gutes Gelingen beim Ausprobieren der Methoden und der Behandlung Ihrer Patienten und Klientinnen.
Die Autorin

Katharina E. Kossmann ist Psychologin (M. Sc.) und Psychologische Psychotherapeutin i.A., langjährige Dozentin und Gutachterin. Sie verfügt über Weiterbildungen sowohl in Notfallpsychologie als auch in verschiedenen Entspannungstechniken. Katharina E. Kossmann arbeitet in eigener Praxis in der Schweiz, in einer Ambulanz und an mehreren Schweizer Hochschulen. Schwerpunkt der Lehre liegt auf Klinischer Psychologie als auch Psychopathologie. Ihre Berufung ist es, Menschen bei ihrer Gesundung oder Bildung zu begleiten.
Bei Beltz ist 2025 von ihr und Wolfgang Allerdings das Kartenset »Leben ohne Alkohol« erschienen.