»Eine Brücke zwischen persönlicher Biografie und therapeutischer Identität bauen«: Interview mit Ulrike Juchmann zur Selbsterfahrung

Eine Ausbildung zum/zur Psychologischen Psychotherapeut:in geht weit über das Erlernen von theoretischem Wissen und die praktische Behandlung von Patient:innen hinaus. Ein elementarer Bestandteil dieser Ausbildung ist die Selbsterfahrung –ein mitunter intensiver Prozess, der es den angehenden Therapeut:innen ermöglicht, sich selbst und die eigenen biografischen Prägungen besser kennenzulernen, die eigenen Stärken und Schwächen zu erkennen und sich auf ihre Rolle als einfühlsame, professionelle Behandler:innen vorzubereiten.

Wir freuen uns, in diesem Blogbeitrag ein Interview mit der erfahrenen Selbsterfahrungsleiterin Ulrike Juchmann präsentieren zu können. Sie gewährt uns spannende Einblicke in diesen faszinierenden und unverzichtbaren Aspekt der therapeutischen Ausbildung. Erfahren Sie, welche Herausforderungen und Chancen die Selbsterfahrung mit sich bringt und warum sie gerade für angehende Psychotherapeut:innen von unschätzbarem Wert ist.

Liebe Frau Juchmann, können Sie uns kurz erklären, was Selbsterfahrung in der Psychotherapie bedeutet und warum sie so wichtig ist?

Ulrike Juchmann: »Die Selbsterfahrung in der Ausbildung zum/zur Psychotherapeut:in baut eine Brücke zwischen der persönlichen Biografie und der sich entwickelnden therapeutischen Identität. Diese Verbindung ermöglicht es, die eigenen wunden Punkte kennenzulernen und professionell mit ihnen umzugehen. Es geht dabei um Reflexion, aber nicht nur. Wichtig ist die eigene erlebniszentrierte Erfahrung. Therapeutische Methoden werden ganz erfahrungsorientiert selbst erlebt und das vertieft das theoretische Wissen und das therapeutische Handeln.«

Seit wann sind Sie Selbsterfahrungsleiterin und was macht für Sie den besonderen Reiz dieser Tätigkeit aus?

Ulrike Juchmann: »Ich bin seit 20 Jahren als Dozentin in der systemischen und verhaltenstherapeutischen Therapieausbildung tätig. Und auch in meinen Seminaren war und ist es mir immer sehr wichtig, die Inhalte erfahrungsorientiert zu vermitteln. Wir wissen ja, dass wir etwas besser erinnern, wenn wir es selbst erlebt und erfahren haben.

Als Selbsterfahrungsanleiterin arbeite ich seit ca. 13 Jahren. Ich biete systemische und verhaltenstherapeutische Einzelselbsterfahrung an. Und auch in meinen Seminaren zu den Themen Achtsamkeit, Selbstfürsorge und therapeutischem Schreiben spielt die Selbsterfahrung eine wichtige Rolle. Ich mag es sehr, junge Kolleg:innen auf ihrem Weg zum/zur Psychotherapeut:in zu begleiten. Immer wieder habe ich mich damit beschäftigt, wie wichtig Mentor:innen im Leben sind. Eine Selbsterfahrungsleitung ist für mich wie eine Art Mentoring und ermöglicht Lernen am Modell. Das finde ich sehr sinnstiftend. Gleichzeitig ist natürlich jede:r Psychotherapeut:in in Ausbildung ganz individuell, hat eigene Themen, Ressourcen und Probleme. Und so gilt es in der Selbsterfahrung, übrigens auch in der Psychotherapie, einen persönlich stimmigen Weg für die eigene Entwicklung, für Gesundheit und Wohlergehen zu finden. Gleichzeitig gibt es Methoden und Themen, die einfach in die Selbsterfahrung gehören, weil sie für das therapeutische Handeln so hilfreich sind. Außerdem bleibe ich in Verbindung mit dem Ausbildungsbereich, den jungen Psychotherapeut:innen, weiß, was sie bewegt und kann Ihnen von meinem Erfahrungsschatz etwas anbieten. Wählen können und müssen sie selbst, was dann für sie passt. Diese Mischung hat mich schon immer gereizt, sie ist anspruchsvoll, macht Spaß und ich entwickle mich dabei natürlich auch selbst weiter.«

Welche persönlichen Kompetenzen können durch Selbsterfahrung entwickelt werden?

Ulrike Juchmann: »Psychotherapeut:innen in Ausbildung stärken in der Selbsterfahrung zahlreiche Kompetenzen: Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, sie lernen, sich auch mit ihren verletzlichen Seiten zu zeigen und sich im Umgang damit weiterzuentwickeln. Sie übernehmen bewusst und liebevoll Verantwortung für sich selbst. Die Beziehungskompetenz wird gestärkt, Methoden werden am eigenen Leibe erfahren und stehen damit als verkörpertes Erfahrungswissen zur Verfügung. Das Vertrauen in sich und die eigenen therapeutischen Kompetenzen wächst. Neulich sagte eine junge PiA zu mir: ›Ich hatte manchmal meine Zweifel, ob ich wirklich Psychotherapeutin sein kann und will. Jetzt kann ich beides mit ›Ja‹ beantworten. Und daran hat die Selbsterfahrung einen großen Anteil.‹ «

Welche Unterschiede bestehen zwischen Selbsterfahrung im Einzelsetting und in der Gruppe?

Ulrike Juchmann: »Ich plädiere dafür, sowohl Gruppenselbsterfahrung als auch Einzelselbsterfahrung in der Ausbildung anzubieten. In der Gruppenselbsterfahrung kann die Kraft der Gruppe erlebt werden. Man lernt, sich in der Gruppe zu öffnen und Unterstützung zu erfahren. Es ist möglich, sich in den Themen der anderen wiederzufinden. Denn Psychotherapeut:in in Ausbildung zu sein, kann auch ein einsamer Weg sein. Die Gruppenerfahrung stärkt und zeigt, es gibt Themen und auch Probleme, die alle haben. Das entlastet und stärkt die Verbundenheit.

In der Einzelselbsterfahrung wird das Einzelsetting erlebt, in dem ja die meisten Psychotherapeut:innen auch später arbeiten. Die Einzelselbsterfahrung wird als Schutzraum erlebt, in dem das eigene Erleben Platz hat und wo es nicht um Anpassung oder Leistung geht. Selbst Ziele zu formulieren, Schwierigkeiten zu benennen und an ihnen zu arbeiten, lässt die Perspektive der zukünftigen Klient:innen einnehmen. Das ist unglaublich wertvoll. Viele PiA's sagen zunächst oft: ›Oh, so einen eigenen Raum wie hier in der Selbsterfahrung hatte ich noch nie. Das ist ungewohnt‹ und ›es ist gar nicht so leicht, diesen Raum einzunehmen‹. Und am Ende sagen die meisten: ›Dieser persönliche Raum ohne Leistungsdruck war so wertvoll, ich konnte lernen zu vertrauen und mich zu öffnen‹. Man kann in der Einzelselbsterfahrung kontinuierlich und über mehrere Monate an eigenen Themen arbeiten, das ist nochmal anders als in der Gruppenselbsterfahrung und ähnelt einem therapeutischen Prozess.«

Gibt es wissenschaftliche Studien oder Erkenntnisse, die den Nutzen oder die Wirksamkeit der Selbsterfahrung in Hinblick auf die Behandlungskompetenz der angehenden Psychotherapeut:innen belegen?

Ulrike Juchmann: »Das ist eine so wichtige Frage. Die Wirkung von Selbsterfahrung lässt sich empirisch nicht leicht erfassen. Mein Eindruck ist aber, dass es aktuell einige Bemühungen gibt, die Selbsterfahrung auch wissenschaftlich mehr in den Blick zu nehmen. Aktuelle Studien zeigen, dass die Psychotherapeut:innen in Ausbildung, die Selbsterfahrung als sehr wichtig erachten. Besonders wird die Bedeutung des erfahrungsbasierten Lernens genannt, also therapeutische Methoden in einem geschützten Rahmen an eigenen Themen zu erleben. Selbsterfahrung, so die Studien, stärkt das Vertrauen in die eigene therapeutische Kompetenz und fördert die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren und zu moderieren. Das ist natürlich besonders wichtig im Umgang mit sehr herausfordernden Klient:innen.«

Welche spezifischen Techniken oder Übungen setzen Sie gern in der Selbsterfahrung ein? Warum sind Ihnen diese wichtig?

Ulrike Juchmann: »Ja ich habe eindeutig Lieblingsmethoden, aber ich biete sie nur an und stelle sie zur Wahl. Entscheiden müssen dann die Psychotherapeut:innen, was Sie ausprobieren möchten. Die Methoden müssen ja auch zu den Zielen der PiA's passen. Sehr beliebt sind: Die eigene Familie im Genogramm zu reflektieren, Glaubenssätze zu benennen und zu überprüfen, die inneren Persönlichkeitsteile zum Beispiel schematherapeutisch zu erforschen, Ressourcensammlung, Achtsamkeit- und körpertherapeutische Übungen, emotionsfokussierte Methoden wie Imaginationen und Stuhlarbeit. Sie sehen schon, ich bin eine Selbsterfahrungsanleiterin der dritten Welle der VT und habe auch starke systemische Wurzeln.«

Wie unterstützt die Selbsterfahrung angehende Therapeut:innen dabei, ihre eigene emotionale Gesundheit und Burnout-Prophylaxe zu fördern?

Ulrike Juchmann: »Achtsamkeit und Selbstfürsorge sind für mich wichtige Arbeitsschwerpunkte. Deshalb kommen auch bewusst PiA's zu mir, die daran Interesse haben. Die Ausbildungszeit ist so herausfordernd, die PT 1 bringt viele oft an die Grenzen der Belastbarkeit, es gibt finanzielle Belastungen und meist bleibt rein zeitlich nicht viel Raum für die eigene Selbstfürsorge. Ich habe eigene Methoden entwickelt, um die Selbstfürsorge in den Blick zu nehmen. Zum Beispiel hilft der Selbstfürsorgebaum dabei, zu erkennen, wie habe ich Selbstfürsorge überhaupt gelernt, was sind meine Muster im Umgang mit mir selbst, habe ich innere Anteile, die auf meine Gesundheit achten, oder überwiegen die Stimmen, die ständig Leistung fordern? Deshalb ist meine Antwort eindeutig: Ja, die Selbsterfahrung ermöglicht es, die eigene Gesundheit in den Blick zu nehmen und macht erfahrbar, wie wichtig es ist, die eigenen Grenzen zu kennen und zu achten. Hier sind auch wir Selbsterfahrungsanleiter:innen gefragt, die Selbstfürsorge mehr anzusprechen und auch methodisch dafür etwas anzubieten. Die eigene Verletzlichkeit zu spüren und damit bewusst umzugehen, ist so wichtig für die eigene therapeutische Identität. Für mich ist es immer besonders schön, wenn angehende Therapeut:innen achtsamkeitsbasierte Methoden einfordern und an sich selbst erleben. Solche Selbsterfahrungsstunden sind meist besonders wertvoll und wohltuend.«

Was waren bisher die größten Herausforderungen, denen sie sich Selbsterfahrungsleiter:innen stellen mussten? Gab es ganz besondere Momente?

Ulrike Juchmann: »Es ist manchmal sehr herausfordernd zu sehen, wie belastend die PT1- Zeit erlebt wird. Und ich finde es toll, wie die angehenden Therapeut:innen Wege finden, sich zu behaupten und sich im Blick zu behalten. Oft geht es in der Selbsterfahrung darum, wie sie Grenzen setzen können und sich trotzdem, oder gerade deswegen, als kompetent erleben können. Manchmal sind die PiA's überfordert, wenn sie während der Ausbildung einen persönlichen Schicksalsschlag erleiden, zum Beispiel einen wichtigen Menschen verlieren oder selbst krank werden. Auch hier ist die Selbsterfahrung so wichtig.

Besondere Momente gibt es viele. Ich finde es toll, wenn sich angehende Therapeutinnen in meinem großen Achtsamkeitsraum aus Matten und Decken einen Platz bauen und sagen: ›Ich will mich ausruhen. Ich brauche Entspannung. Bitte leiten Sie etwas an.‹ Und ich bin auch sehr berührt, wenn jemand die Stunde verlässt und bemerkt, dass eigene Entwicklung möglich ist.«

Vielen Dank, liebe Frau Juchmann, für das informative Gespräch und die Einblicke in den Prozess der Selbsterfahrung. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg und Erfüllung in Ihrer Arbeit!

Die Autorin

Ulrike Juchmann ist als Diplom-Psychologin, systemische Therapeutin, Verhaltenstherapeutin und MBSR-Trainerin in eigener Praxis in Berlin und an Ausbildungsinstituten tätig. Sie coacht Frauen mit ihrem kreativen, ganzheitlichen Methodenansatz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Achtsamkeit, Körperzufriedenheit, Selbstfürsorge und Lebensübergänge. Sie ist Autorin mehrerer Fach- und Sachbücher, u.a. »Achtsamkeitsbasierte Psychotherapie bei Depressionen und Ängsten. MBCT in der Praxis« und »Sei du selbst, alle anderen gibt es schon. Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben«. www.achtsamkeit-juchmann.de

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