Für viele von uns ist die Weihnachtszeit eine Zeit voller Freude und Fröhlichkeit. Die Feiertage bedeuten eine Auszeit von der Arbeit, um Zeit mit den Liebsten zu verbringen, Geschenke zu überreichen und gemütlich beisammen zu sein. Nicht umsonst gilt sie als die besondere Zeit des Jahres. Doch hinter den strahlenden Lichtern und festlich geschmückten Tannenbäumen verbirgt sich manchmal eine ganz andere Realität: Während viele von uns die Feiertage als Gelegenheit sehen, mit Familie und Freund:innen zusammenzukommen, erleben andere in dieser festlichen Zeit eine andere, schmerzliche Seite, geprägt von innerer Leere und Einsamkeit.
Nicht selten sind es die Älteren in unserer Gesellschaft, die vielleicht ihre Angehörigen verloren haben und deren einst so lebhaftes Zuhause plötzlich still und ruhig geworden ist. Aber auch für Menschen mit Depressionen, die etwa doppelt so häufig unter dem Gefühl der Einsamkeit leiden (Deutsche Depressionshilfe, 2023), ist die Weihnachtszeit eine besondere Herausforderung. Die Erwartungen an die festliche Jahreszeit, die von sozialem Zusammenhalt und Freude geprägt sein »soll«, kann für Betroffene unerreichbar erscheinen und das Leid verstärken. Um zu verstehen, wie sich Einsamkeit während der Weihnachtszeit auf Patient:innen auswirken kann und welche Ansätze zur Überwindung in der psychotherapeutischen Praxis hilfreich sind, hat die psychotherapie.tools-Redaktion die Autorinnen Isgard Ohls und Maren Lammers befragt.
Was verstehen Sie genau unter Einsamkeit und wie oft begegnen Ihnen im therapeutischen Kontext einsame Menschen?
Maren Lammers: »In den letzten Jahren hat das Thema Einsamkeit in seinen verschiedenen Ausprägungen einen großen Raum eingenommen. Diese Tendenz haben wir auch in der Therapie beobachten können. Dazu gehört Einsamkeit, die sich beispielsweise im Zuge der Pandemie entwickelt hat, aber auch die Einsamkeit, die z.B. mit zunehmendem Alter oder mit mentalen Erkrankungen einhergeht. Ohne zwischenmenschliche Einbindung zu sein ist ein wesentliches Kennzeichen von sozialer Einsamkeit. Einsamkeitserleben kann aber auch im Beisein anderer Personen in Form von emotionaler Einsamkeit spürbar sein. Menschen, die sich emotional einsam fühlen, spüren kaum bis keine Verbindung zu umgebenden Menschen. Sie erleben sich als allein mit ihren Themen, z.B. anders zu sein oder im Zuge der Leitungsposition in einem Unternehmen, fehlenden Partnerschaften oder auch Erkrankungen. Soziale Einsamkeit kann selbstgewählt hilfreich sein und der Selbstfürsorge dienen. Sozialer Rückzug in einer Depression kann auch kurz erleichternd sein, aber dann auch mit emotionaler Einsamkeit einhergehen.«
Isgard Ohls: »Das Erleben von Einsamkeit ist gleichermaßen individuell wie gesamtgesellschaftlich anzutreffen. Als Teil einer existenziellen Krisenerfahrung kommen Klient:innen immer wieder in der Psychotherapie auf dieses Erleben zu sprechen. Es ist für Therapeut:innen hilfreich, zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit zu unterscheiden sowie die Wurzeln dieser Erfahrung nicht nur biografisch, sondern in den aktuell vorherrschenden Krisenzeiten auch gesellschaftlich zu verorten.«
Ist Einsamkeit als solche immer klar erkennbar? Welche Empfehlung würden Sie Ihren Kolleg:innen geben, wie das Thema in der Psychotherapie aufgegriffen werden soll?
Maren Lammers: »Menschen schämen sich manchmal dafür, dass sie sich einsam fühlen. Deshalb berichten sie oft von Themen, aus denen im therapeutischen Gespräch deutlich wird, dass ein großes Bedürfnis nach sozialer und emotionaler Einbindung besteht. Wesentlich ist deshalb die vertiefende Exploration durch gezielte Fragen, wie z.B. »Wie fühlten Sie sich in Situation x? Welche Bedeutung hat das Berichtete für Sie, für Ihr Leben?« Der berühmte Perspektivwechsel unter Einbezug der biographischen Kenntnisse hilft auch Einsamkeit beim Gegenüber zu erkennen. Manchmal ist es auch ein ganz starkes Empfinden, das sich einstellt - wie jemand etwas berichtet und was die Person berichtet – das dann Einsamkeit erkennen lässt. Es gibt Personen, die sind umgeben von einer Art Einsamkeit. Man spürt, dass kaum Zuversicht auf eine Veränderung des Zustandes besteht.«
Isgard Ohls: »Für mich ist im Klinikalltag sowie in der praktischen psychotherapeutischen Arbeit auch wichtig, Einsamkeit von Alleinsein zu unterschieden. Während ersteres negativ konnotiert ist, kann selbstgewähltes Alleinsein mit Zeiten der Ruhe, Besinnung, Regeneration und auch Selbstfürsorge, Selbstliebe und achtsamer Zuwendung verknüpft sein. Letztere kann eine Chance für die individuelle Reifung und Weiterentwicklung sein. Vor allem kurzfristige und selbst gewählte Einsamkeit kann Selbstreflexionsprozesse anregen und unsere individuelle Weiterentwicklung fördern.«
In Ihrem Therapie-Tools Band »Kränkung und Einsamkeit« schreiben Sie von sozialer und emotionaler Einsamkeit. Was unterscheidet sie voneinander? Welche kommt häufiger vor und inwieweit unterscheidet sich der therapeutische Umgang mit den beiden?
Isgard Ohls: »Soziale Einsamkeit meint eine Vereinzelung und Ausschluss aus sozialen Bezügen, d.h. geringe oder gänzlich fehlende soziale Kontakte. Hier können konkrete Hilfestellungen für die Aufnahme von sozialen Kontakten, für die Verbesserung der lebensweltlichen Bezüge sinnvoll erscheinen. Emotionale Einsamkeit setzt zwar soziale Kontakte voraus, bei denen es aber nicht zu einer emotionalen Verbundenheit und Befriedigung kommt. Sie beschreibt das damit möglicherweise verknüpfte Erleben, Gefühle von Trauer, Angst, innerer Leere, Scham, Schuld, aber auch Wut und Ärger. ›Komplizierte‹ bzw. herausfordernde Emotionen, die es zu erkennen und zu bewältigen gilt. Hier kann Psychotherapie ansetzen, indem sie die Emotions- und Selbstregulation, die Erwartungen an sich und andere sowie die Sensibilität auf fehlende soziale Einbindung bearbeitet und damit bewältigbar macht.
Maren Lammers: »Die Unterscheidung von emotionaler und sozialer Einsamkeit ist oft ein wichtiger Schritt, um zu erkennen, welche Unterstützung es für Veränderungen braucht. Soziale Einsamkeit lässt sich schrittweise verändern, indem eine Gemeinschaft und soziale Einbindung aufgebaut werden. Das kann z.B. über Hobbies, berufliche Themen und Interessen geschehen. Emotionale Einsamkeit braucht oft noch etwas anderes, beispielsweise angemessene, alltägliche Verantwortung für andere Menschen zu übernehmen oder sich Gedanken um andere Menschen aus der nahen Umgebung zu machen. Man kann dafür versuchen sich im Vorhinein einzufühlen und in Gesprächen herauszufinden, was die Person benötigt. Verantwortungsübernahme im Alltag kann bedeuten, beim erkrankten Nachbarn nachzufragen, ob man ›Kartoffeln vom Einkauf mitbringen darf‹, weil er das vielleicht gerade nicht schafft. Das hilft zwei Menschen und stellt eine Brücke her, um auch darüber hinaus ins Gespräch zu persönlichen Themen zu kommen.«
Welche Auswirkungen und gesundheitlichen Folgen kann Einsamkeit haben? Warum ist v.a. die Weihnachtszeit besonders kritisch?
Isgard Ohls: »Das Erleben von Einsamkeit gilt als Risikofaktor nicht nur für körperliche, sondern auch psychische Erkrankungen. Als »Herdentier« angelegt, ist es dem Menschen fremd, sich sozial ausgeschlossen zu erleben. Sozialer Ausschluss gilt als Stressor, wie er u.a. im Vulnerabilitäts-Stress-Modell, gerade bei der Entstehung mentaler Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen, genannt wird. Gerade in der Weihnachtszeit, welche mit dem gesellschaftlichen Ideal einer »heilen Familie«, mit Ruhe, Glück und Geborgenheit verbunden erscheint, kann es nicht selten bei Abgleich mit der individuellen Realität und den konkreten Lebensverhältnissen zu Enttäuschungen und schwer zu bewältigenden Emotionen kommen. Emotionen wie Trauer, Angst sowie Wut stecken oft hinter der Erfahrung von Einsamkeit. In der psychotherapeutisch-psychiatrischen Praxis ist es daher sehr entscheidend, dass gerade in diesen kritischen Zeiten das Thema Suizidalität offen angesprochen wird.«
Zeigt sich Einsamkeit häufiger in der Weihnachtszeit? Warum ist das so?
Isgard Ohls: »Das Jahresende ist nicht nur der Abschluss eines Jahres, sondern auch eine Umbruchzeit mit einer ungewissen Zukunft. Eigentlich ist diese Gegebenheit alltäglich, nur erscheint sie vielen von uns in dieser besonderen Jahreszeit, wenn die Tage dunkler und kälter werden und verstärkt ein Rückzug in die Häuslichkeit und Familie erfolgt, deutlicher vor Augen. In einer zunehmend säkularen Welt ist das christliche Fest vielen mit seiner frohen Botschaft von Geburt, Erlösung und Heil möglicherweise fremd geworden, sodass vorwiegend die »freie Zeit« gestaltet werden soll. Vor dem Hintergrund, dass viele Menschen an diesen besonderen Tagen bei ihren Verwandten verweilen, fühlen sich manche Menschen ausgeschlossen und nicht versorgt.«
Maren Lammers: »Ergänzend dazu haben einsame Menschen oft Angst vor Feiertagen, da ihnen in ihrer Vorstellung und über die Medien vermittelt wird, dass alle Menschen friedlich zusammen am Tannenbaum Lieder singen und Geschenke auspacken. Selbst nicht dazu zu gehören, vergrößert die Einsamkeit und kann suizidale Krisen auslösen. In der Realität ist Weihnachten beispielsweise gar nicht so friedlich und auch Konflikte zu haben, zeigt, dass man Teil einer Gemeinschaft ist und Interessen hat.«
Welche Rolle spielt Trauer in Bezug auf Einsamkeit in der Weihnachtszeit? Wie kann man Verstorbene trotzdem in die Feierlichkeiten integrieren?
Isgard Ohls: »In Zeiten der Ruhe und des Nachdenkens kann auch das schmerzhafte Vermissen geliebter Menschen, Tiere oder Situationen aus der Vergangenheit auftreten. Erfahrungen von Trauer, Schmerzen, Hilf- und Hoffnungslosigkeit, vielleicht auch Schuld und Scham können hier parallel zu der Erfahrung von Einsamkeit auftreten. Es existieren in den verschiedenen Weltreligionen beispielsweise Rituale des Totengedenkens, z.B. entsprechende kirchliche Gedenk- und Feiertage, an denen Lichter auf den Gräbern angezündet, Blumen dargebracht oder gemeinsam musiziert werden kann. Die Verbindung mit den »Ahnen«, auch über den Tod hinaus, wie es in anderen Kulturen der Welt selbstverständlicherer Teil des Alltags ist, ist uns in der westlichen Welt abhandengekommen, wodurch die Trennung als besonders schmerzhaft erlebt werden kann. Hier ist die säkulare Psychotherapie in Ergänzung zur traditionellen Seelsorge besonders herausgefordert.«
Maren Lammers: »Ich würde es so herleiten, dass wenn sich das Jahr dem Ende entgegen neigt, die meisten Menschen mehr zu Hause sind. Es wird außerdem früher dunkel und viele Personen nutzen die Zeit, um sich zurückzuziehen, das Jahr zu reflektieren, Erreichtes ins Verhältnis zu setzen und sich mit Nichterreichtem auseinanderzusetzen. Diese Art der Reflexion ist auch um emotionale Erinnerungen und Bezüge angereichert. Wir denken über Menschen nach und haben die Chance uns neben einer besinnlichen Atmosphäre, auch den eigenen Emotionen, verpassten Chancen und Trauerprozessen zu widmen. Sich darin liebevoll zu begleiten und wichtige Personen zu würdigen, leistet einen wichtigen Beitrag der Versöhnung.«
Wie bereiten Sie Ihre Patient:innen auf möglicherweise vermehrte Gefühle von Einsamkeit in der Weihnachtszeit vor? Welche konkreten psychotherapeutischen Interventionen würden Sie Ihren Kolleg:innen für die Arbeit mit betroffenen Patient:innen empfehlen?
Maren Lammers: »Sobald Weihnachten oder andere Feiertage eine emotional herausfordernde Zeit darstellen, kann es sehr hilfreich sein, sich früh mit den Ängsten und Befürchtungen auseinanderzusetzen. Je früher, desto mehr Möglichkeiten und Ideen lassen sich beim gemeinsamen Hinschauen finden. Mit ein bisschen Zeit können blockierende Konflikte noch angesprochen oder Kontakte aufgefrischt werden. Selbstgewählte Einsamkeit darf auch eine Lösung sein, zu der aber auch gute Ideen vorhanden sein sollten. Wie soll die Zeit wofür genutzt werden? Darf/Kann es ein Urlaub, schöne Filme oder der Gang in die Kirche oder andere Einrichtungen sein, die zu Weihnachten spezielle Angebote haben? Besser ein »langweiliges Angebot« und unter Menschen sein als einsam zu Hause. Ein kleiner Aushang für ein Adventstreffen unter Nachbar:innen im Hof kann helfen, auch andere Menschen, die sich einsam fühlen, kennenzulernen. Denken Sie daran: Einsam ist man nie alleine. Gemeinsam einsam zu sein, mussten wir alle in jüngster Vergangenheit üben und viele Menschen wissen noch, wie sich das anfühlt und haben umso mehr ein offenes Ohr für das Thema.«
Isgard Ohls: »Es kann hilfreich sein, die ›Feiertage‹ ganz konkret vorauszuplanen, um möglichen Krisen frühzeitig vorzubeugen. Auch das Thema Suizidalität sollte immer offen angesprochen werden und Krisen- und Notfallpläne gemeinsam abgesprochen werden. Die Weihnachtszeit ist nur ein relativ kurzer, wenngleich intensiver Abschnitt im Jahr, welcher, den Zyklen des Lebens entsprechend, vom Frühling und anderen Festen der Hoffnung und Zuversicht, schon bald abgelöst wird. Und genauso wie die Jahreszeiten und auch bei entsprechender Empfänglichkeit religiöser Festzyklen, besteht das Leben aus dem notwendigen Wechselspiel zwischen sozialer Einbindung und Rückzug. Alles hat seine Zeit und kann ein menschliches Leben bereichern. Alles darf sein und sollte nicht nur als Krise ängstlich betrachtet, sondern zugleich mutig als Herausforderung angenommen werden. Und zu guter Letzt: Es gibt besonders an den Feiertagen viele Hilfsangebote in den Städten und Landkreisen, um Menschen gerade nicht dieser möglicherweise negativen Erfahrung auszusetzen und sie aufzufangen bzw. zu begleiten.«
Die Autorinnen
Maren Lammers ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis sowie freie Mitarbeiterin an verschiedenen verhaltenstherapeutischen Ausbildungsinstituten, Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin für Verhaltenstherapie, Hypnotherapie sowie emotionsbezogene Psychotherapie. Ihre Schwerpunkte sind: Verhaltenstherapie, Emotionsbezogene Psychotherapie, Hypnotherapie nach Milton Erickson sowie Schematherapie. Sie ist Autorin mehrerer Fachbücher. Bei Beltz hat Sie 2023 zusammen mit Isgard Ohls das Therapie-Tools »Kränkung und Einsamkeit« veröffentlicht.
Priv. Doz. Dr. med. Dr. theol. Dipl. mus. Isgard Ohls ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie), Evangelische Theologin sowie A-Kirchenmusikerin und Cembalistin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projekt- und Forschungsgruppenleiterin im Psychosozialen Zentrum des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Forschungsschwerpunkte sind, neben dem Trialog der drei Fachgebiete, existenzielle Fragestellungen, medical humanities und healing arts, die Suizidologie, Psychoonkologie, Spiritualität/Religiosität und Extremismus sowie Musikmedizin.