Gefangen im Lockdown – Zwangsstörungen und Corona

Die meisten Menschen freuen sich über das Ende der Corona-Maßnahmen und finden mühelos den Weg zurück in ihren Vor-Corona-Alltag. Doch nicht allen gelingt dies so ohne Weiteres. In den Medien wurde dafür der Begriff des Cave-Syndroms (»Höhlen-Syndrom«) geprägt. Wissenschaftler:innen schätzen, dass ca. 5 % der Menschen ernstzunehmende Schwierigkeiten haben, aus der sozialen Isolation wieder herauszukommen und damit ein hohes Risiko haben, eine soziale Angststörung oder eine Depression zu entwickeln.

Weniger bekannt ist, dass dieses Problem auch im Zusammenhang mit Zwangserkrankungen eine Rolle spielt. Gar nicht selten benötigen Menschen therapeutische Unterstützung, weil sie bei der Rückkehr ins normale Leben eine Zwangserkrankung entwickelt haben. 

Wie sieht das Problem aus? Zwei Beispiele aus der Praxis

Frau Scholz* (26 J., alleinlebend) hat große Angst, sich infolge der Lockerungen mit Corona zu infizieren. Sie verlasse ihre Wohnung so selten wie möglich, außerhalb der Wohnung trage sie immer und überall eine FFP2-Maske. Beim Zurückkommen desinfiziere sie ihre Hände, dusche und wechsle die Kleidung. Sie kaufe nur abgepackte Lebensmittel, die sie zu Hause desinfiziere. Private Treffen finden selten, nur mit Abstand und im Freien statt. Kontakt habe sie nur zu Freund:innen, von denen sie weiß, dass diese sehr vorsichtig seien. Besonders große Ängste habe sie davor, wieder aus dem Homeoffice an den Arbeitsplatz zurückzukehren, was sie bis jetzt immer noch hinausschieben konnte. Sie wisse, dass ihre Befürchtungen übertrieben seien. Sie fühle sich durch das übermäßige Waschen, Reinigen und Desinfizieren und ihr Vermeidungsverhalten sehr eingeschränkt. 

Frau Martin* (29 J., verheiratet) hat infolge der Lockerungen ebenfalls einen Wasch- und Reinigungszwang entwickelt. Bei ihr stehe jedoch ein ausgeprägter Ekel im Vordergrund: Sie fände es ausgesprochen „eklig“, wieder mehr Kontakt mit anderen Menschen zu haben, insbesondere wenn diese „schmuddelig“ aussähen. Auch der Kontakt mit Gegenständen, die von anderen angefasst werden (z.B. öffentliche Türklinken, Haltestangen in der U-Bahn, Lebensmittel im Supermarkt) lösten intensiven Ekel aus. Außerhalb der Wohnung desinfiziere sie sich sehr häufig die Hände und vermeide, wenn möglich, etwas zu berühren (z.B. Türklinken). Auch sie desinfiziere sich die Hände, dusche und wechsle die Kleidung, wenn sie nach Hause zurückkäme, auch von ihrem Partner verlangt sie dies. Daher gäbe es viel Streit.

Besonderheiten im therapeutischen Vorgehen

Bei Patient:innen wie Frau Scholz steht die Angst vor einer Corona-Infektion im Vordergrund. Sie halten ihre Befürchtungen und ihre Zwangshandlungen zwar grundsätzlich für übertrieben, in der konkreten Situation haben sie aber häufig viele Argumente, warum ihre Befürchtung nun aber doch zutrifft und das Waschen, Reinigen und Vermeiden sinnvoll ist. Dann geht es in der Therapie zuerst darum, Fehlbewertungen zu bearbeiten, um eine Motivation für Expositionen zu schaffen. Fehlbewertungen bei Frau Scholz sind insbesondere eine Überschätzung der Gefahr (»Wenn ich ohne FFP2-Maske Fahrrad fahre, werde ich mich infizieren.«), ein Bedürfnis nach 100-prozentiger Sicherheit (»Wenn ich nicht 100%ig sicher bin, dass die Verpackung der Milch frei von Coronaviren ist, dann muss ich sie desinfizieren.«) und ein Schwarz-Weiß-Denken (»Wenn ich mich mit Corona infiziere, muss ich auf der Intensivstation beatmet werden oder sterbe.«). Als Technik eignet sich z.B. die Kontinuum-Technik: Hier wird auf Papier oder am Flipchart eine Linie gezogen. Ein Pol ist die beste Variante (z.B. »Ich merke gar nichts von meiner Corona-Infektion.«), der andere ist die schlimmste Variante (»Ich sterbe an Corona.«). Dann sammeln Patient:in und Therapeut:in möglichst viele Zwischenpunkte (»Ich habe leichten Schnupfen und merke sonst nichts«, »Ich habe zwei Tage Fieber«, »Ich bin schlapp und muss mich öfter ausruhen« usw.), die sie danach auf der Linie positionieren. Patient:innen bekommen auf diese Weise ein Verständnis dafür, dass es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch viele Graustufen gibt. Haben Patient:innen etwas mehr Verständnis dafür bekommen, dass nicht Corona, sondern ihre Fehlbewertungen und deren Bewältigung das Problem sind, so kann man mit der Expositionsplanung und -umsetzung beginnen.

Besteht das Problem darin, dass bei Patient:innen wie Frau Martin ein ausgeprägter Ekel den Alltag dominiert, ist häufig die Einsicht vorhanden, dass sie übertrieben waschen und desinfizieren. Außerdem leiden sie unter ihrem Vermeidungsverhalten. Ihre Einstellungen, die zu Zwangshandlungen und Vermeidung führen, stellen sie aber oft nicht in Frage. Etwas überspitzt ausgedrückt: Sie wundern sich eher, dass andere vieles nicht so eklig finden wie sie selbst. Ihnen wäre es eigentlich am liebsten, dass die Welt ihre Reinlichkeitsvorstellungen übernimmt, statt sich selbst anpassen zu müssen.

Auch hier ist es wichtig, zuerst an der Problemeinsicht zu arbeiten, bevor Expositionen Erfolg haben können. Patient:innen sollten verstehen, dass es in der Therapie darum geht, die Ekeltoleranz wieder zu erhöhen. Der Anreiz besteht darin, wieder mehr Freiräume zu bekommen für das, was einem wichtig ist im Leben. Hilfreich ist z.B. eine Geschichte von Hundebesitzern, die sich am Anfang davor ekeln, den Hundekot mithilfe einer Tüte aufzusammeln und in den Müll zu schmeißen. Sie nehmen aber diesen Nachteil in Kauf, weil sie sich einen Hund gewünscht haben. Mit der Zeit haben sie sich an das Entfernen des Häufchens gewöhnt. Sie machen das nicht gern, haben es aber akzeptiert. Eine weitere nützliche Intervention ist das Erstellen einer Pro-Contra-Liste. Mittels derer kann sich der/die Patient:in idealerweise entscheiden zu akzeptieren, dass die Welt ist, wie sie ist und weniger zu waschen/desinfizieren/vermeiden, zugunsten von dem, was ihnen wichtig ist im Leben.

In vielerlei Hinsicht können also die bewährten Techniken zur Behandlung von Zwängen auch bei der psychotherapeutischen Behandlung von Wasch- und Reinigungszwängen, die sich nach dem Ende des Corona-Lockdowns manifestiert haben, erfolgreich eingesetzt werden. Wir als Therapeut:innen müssen uns jedoch darauf einstellen, dass die Standards unserer Patient:innen auch am Ende einer Therapie noch deutlich von unseren abweichen können, das heißt, dass Patient:innen beispielsweise noch sehr viel vorsichtiger sind als wir, um sich vor einer Infektion zu schützen, oder noch deutlich pingeliger sind, als wir es uns gewünscht haben, und gleichzeitig sehr zufrieden mit dem Therapieergebnis sind.

* Namen wurden von der Autorin verändert.

Fricke-Susanne

PD Dr. Susanne Fricke

Die Autorin ist Psychologische Psychotherapeutin (VT), seit 2010 Arbeit in eigener Praxis (Schwerpunkt Zwangsstörungen), Dozentin und Supervisorin an verschiedenen Ausbildungsinstituten in der Aus- und Weiterbildung von Psychologen und Ärzten, Autorin und Mitautorin zahlreicher Publikationen zu Zwangsstörungen und anderen Themen.