»Wir leben in einer politischen Welt...« diagnostizierte einst der Musiker und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan in seinem Lied »Political world« (Dylan, 2004). Sein Song von 1989 wirkt wie ein Kommentar zu unserer aktuellen, von globalen Krisen geschüttelten Zeit:
- »Wo Friede überhaupt nicht willkommen ist…« – Ein brutaler Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine begann im Februar 2022 und sorgt seitdem für viel Leid in der ukrainischen Bevölkerung.
- »Weisheit wird ins Gefängnis geworfen...« – Wir beobachten während der verschiedenen Krisen, sei es die COVID-19-Pandemie oder die Klimakrise, Angriffe auf die Wahrheit und werden konfrontiert mit Fake News und Verschwörungstheorien, Wissenschaftler:innen und Journalist:innen erleben Anfeindungen.
- »Wo Güte über die Planke geht…« – Weltweit gewinnen die verführerisch einfachen, von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit geprägten Parolen von Rechtspopulist:innen an Beliebtheit.
Psychotherapie in Zeiten der Polykrise
In einer solchen »politischen Welt«, in solchen Zeiten multipler globaler Krisen, werden unsere Werte und Moralvorstellungen angesprochen und können verletzt werden. Unsere psychologischen Bedürfnisse können auf verschiedenen Ebenen frustriert werden. Belastende Emotionen können die Folge sein. So ist es nicht verwunderlich, dass manche Patient:innen globale Krisen mit in den Therapieraum bringen, weil sie sich durch diese zusätzlich belastet fühlen. Wie gehen wir damit um? Globale Krisen in der Psychotherapie zu thematisieren stellt kein »business as usual« dar: Wir sind selbst unmittelbar mitbetroffen. Patentlösungen haben auch wir nicht parat (noch weniger als sonst). Themen wie die Klimakrise oder die Corona-Schutzmaßnahmen besitzen familienentzweiendes und partysprengendes Potenzial – könnte ihre Thematisierung auch die Therapiebeziehung gefährden? Trotz vieler verständlicher Gründe, globale Krisenthemen zu meiden, sollten wir Patient:innen nicht den Wunsch verwehren, diese Verunsicherungen zu besprechen. Zu ihrem Wohle sollten wir uns bemühen, Wege zu finden, Psychotherapie in Zeiten der Polykrise zu gestalten.
Licht ins Dunkel: Eine Umfrage
Um mehr darüber zu erfahren, wie es aktuell um die Thematisierung der globalen Krisen »Klimakrise«, »COVID-19-Pandemie« und »Krieg in der Ukraine« in den deutschen Therapieräumen bestellt ist, habe ich gemeinsam mit Sabine Maur, Kathrin Macha und Dr. Diana Vogel-Blaschka Anfang 2023 eine große Umfrage unter Psychotherapeut:innen durchgeführt. Teilgenommen haben 1.862 Personen aus allen deutschen Bundesländern, davon 258 männlich, 1.534 weiblich, 11 divers (keine Angabe: 59), im Mittel waren die Befragten 46,5 Jahre alt. Die Fragen bezogen sich überwiegend auf den Zeitraum Mitte 2022 bis Anfang 2023.
Krisen im und jenseits des Rampenlichts
Von den drei genannten Krisen wurde in unserer Umfrage die COVID-19-Pandemie am häufigsten von Patient:innen zum Thema gemacht, zudem nahm ihre Besprechung auch am meisten Zeit in Anspruch. Das Schlusslicht bildet die Klimakrise, über die am seltensten und am kürzesten besprochen wurde.
Tote Winkel der Therapeut:innen
Auch wir Therapeut:innen haben unsere ideologischen Scheuklappen und blinden Flecken. Dies kann eine für Patient:innen hilfreiche Thematisierung globaler Krisen erschweren. Auch unsere Bedürfnisse können durch die globalen Krisen frustriert und unsere Werte verletzt werden. Auch wir können starke Emotionen verspüren. Wir müssen uns deswegen selbst gut beobachten, um mit diesen Aktivierungen und Mechanismen gut umgehen zu können. Wenn wir nicht aufpassen, können wir beispielsweise der Versuchung erliegen, die Hoffnungslosigkeit von Patient:innen aufzulösen, indem wir die Zukunft der Welt rosarot malen und unrealistischen Optimismus versprühen. Auf der anderen Seite können wir selbst in Ohnmacht gegenüber bestimmten Entwicklungen verfallen und keine Handlungsoptionen mehr wahrnehmen. Zudem besteht bei mangelnder Selbstreflexion die Gefahr, dass wir »missionarisch« werden und Patient:innen zu belehren versuchen.
Erhitzte Gemüter
Die Krisen und die mit ihnen verbundenen hitzigen Diskurse lassen auch Therapeut:innen nicht kalt. Von den in unserer Umfrage Befragten gaben 35% an, Auswirkungen der Krisen auf die eigenen Emotionen zu verspüren. An den Freitextantworten unserer Studie lässt sich die emotionale Beteiligung, aber auch die Bandbreite der inhaltlichen Ausrichtung beispielhaft ablesen. Während in Bezug auf die COVID-19-Pandemie auf der einen Seite die Sorge geäußert wird, die eigene Praxis könne zu einem »Hotspot« werden, befürchten andere Kolleg:innen den »Verlust demokratischer Grundprinzipien angesichts einer durch Angst gesteuerten Politik«. Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird häufig von starkem Mitgefühl berichtet, andere Kolleg:innen kritisieren wütend die »Kriegstreiberei« mancher Politiker:innen. Bei der Klimakrise wird von »Freude an den sozialen Bewegungen« berichtet, auf der anderen Seite wird das Ausmaß der Klimakrise angezweifelt. Große Themen: große Gefühle.
Keep Cool!
Wie können wir Therapeut:innen einen kühlen Kopf in erhitzten Zeiten bewahren? Hierzu kann es hilfreich sein, sich mit den Mechanismen zu beschäftigen, die bei der individuellen Wahrnehmung und Verarbeitung der globalen Krisen eine Rolle spielen. Je mehr wir über diese unterschiedlichen Reaktionsweisen auf die Krisen wissen, desto leichter fällt es uns, auch Äußerungen und Reaktionen zu verstehen, die unserem eigenen Wertesystem fern liegen. Im Blick behalten sollten wir auch unsere eigenen Voreingenommenheiten, unsere eigenen betroffenen Werte und Bedürfnisse.
Einen Raum bieten
Wir sollten genau hinhören, ob es krisenbedingte Belastungen gibt und diesen dann – wenn der/die Patient:in es wünscht - Raum geben. Die große Mehrheit der befragten Psychotherapeuten:innen (87%) in unserer Umfrage hält dies für sinnvoll. Um therapeutisch hilfreich globale Krisen zu besprechen, sollten Psychotherapeut:innen einerseits über die Krisenfakten informiert sein, vor allem aber sollten sie sich mit den psychologischen Mechanismen auskennen, die bei der Verarbeitung der globalen Krisen beteiligt sind. In unserer Umfrage gaben allerdings 38% der Therapeut:innen an, sich nur zum Teil durch ihre Aus- und Fortbildungen auf die Thematisierung globaler Krisen in der Psychotherapie vorbereitet zu fühlen, 26% fühlen sich sogar schlecht oder gar nicht vorbereitet. Eine Integration dieser Themen in die Aus- und Weiterbildung wäre daher sinnvoll.
Verantwortung jenseits des Therapieraums
Haben wir Psychotherapeut:innen eine Verantwortung für die Gesellschaft, die über unser Kerngeschäft hinausgeht, das darin besteht, psychisch belastete Menschen wieder liebes-, arbeits- und genussfähig zu machen? Sabine Maur (2022), die Vizepräsidentin des Vorstandes der Bundespsychotherapeutenkammer, sieht uns Therapeut:innen mit Blick auf unsere Berufsordnung auch in der berufsethischen Verantwortung, die ökologischen und soziokulturellen Lebensgrundlagen im Hinblick auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten und zu fördern. Hier sind auch die Kammern und Berufsverbände besonders gefragt. In unserer Umfrage stimmten 79% der Befragten der Aussage »Der Berufsstand der Psychotherapeut*innen (Verbände, Kammern) sollte sich dezidierter als bisher gesellschaftspolitisch im Hinblick auf die psychische Gesundheit äußern« zu.
Bob Dylan sang »We live in a political world... where courage is something of the past [Wir leben in einer politischen Welt...Wo Mut etwas aus der Vergangenheit ist]« (Dylan, 2004). Das muss in unserem Berufsfeld nicht gelten: In den Therapiesitzungen können wir uns gemeinsam mit unseren Patient:innen mutig den verunsichernden globalen Krisen stellen. Außerhalb des Therapieraumes können wir uns gemeinsam mit unseren Berufskolleg:innen engagieren, in unserer Gesellschaft die Bedingungen für psychische Gesundheit zu verbessern.
Literatur
Chmielewski, F., Macha, K., Maur, S. & Vogel-Blaschka, D. (2023). Der Einfluss aktueller Krisen auf die Psychotherapie. [Unveröffentlichter Datensatz einer Umfrage unter 1862 Psychotherapeut:innen]
Dylan, B. (2004) Lyrics 1962-2001; Sämtliche Songtexte – Deutsch von Gisbert Haefs. Hamburg: Hoffmann und Campe.
Maur, S. (2022). Klimakrise: Berufsethik und gesundheitspolitisches Engagement. In: K. van Bronswijk, C. M. Hausmann (Hrsg.), Climate Emotions (S. 375–387). Gießen: Psychosozial.
Exklusiver Live-Vortrag
Erleben Sie Dipl.-Psych. Fabian Chmielewski am 18.10.2023 in einem exklusiven Online-Vortrag zum Thema »Mad World – Wenn Patient:innen globale Krisen als Thema einbringen« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!
Der Autor
Dipl.-Psych. Fabian Chmielewski ist als Psychologischer Psychotherapeut in der Praxisgemeinschaft am Weiltor in Hattingen niedergelassen. Als Supervisor und Selbsterfahrungsleiter unterstützt er die Ausbildung angehender Psychotherapeut:innen. Er ist Autor von Büchern und Fachartikeln zur Selbstwerttherapie (selbstwerttherapie.de), zu existenziellen Fragestellungen in der Psychotherapie (SinnImLeben.de) und zu psychologischen Aspekten gesellschaftlicher Themen (Eupsychia.de). Als Dozent hält er Vorträge und gibt Workshops auf Kongressen und an Aus- und Fortbildungsinstituten zu diesen Themengebieten.