Innere Konflikte entschlüsseln: Wie Gedankenkreisen unsere psychologischen Bedürfnisse offenbart

»90 % aller unserer Konflikte spielen sich in unserem Inneren ab« - wie beurteilen Sie den Wahrheitsgehalt dieses Satzes?

Ich sitze vor dem Computer und möchte meine Arbeit so rasch wie möglich erledigen. So habe ich meine Vereinbarung eingehalten und erweise mich als zuverlässig. Im nächsten Moment kommt mir die Idee, dass ich meine Arbeit eigentlich ordentlich machen und daran wachsen möchte. Doch schon denke ich an meinen Sohn, der in einer halben Stunde nach Hause kommt und für den ich da sein will. Und so beginnt der Auftakt in eine kurze Abfolge an widersprüchlichen Ideen und Impulsen, die darin münden, dass ich erst einmal aufstehe und mir einen Tee mache.

Was wir uns soeben angeschaut haben, ist eine Mikrosequenz von Gedankenkreisen, ausgelöst durch eine unproblematische Alltagsangelegenheit. In Zeitlupe und quasi unter dem Mikroskop betrachtet, handelte es sich um einen Konflikt verschiedener psychologischer Bedürfnisse. Mein Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle wünscht sich Effizienz und das Einhalten von Verpflichtungen. Dagegen steht das Bedürfnis nach Entwicklung, das sich eine tiefere Auseinandersetzung mit einem Thema wünscht, damit persönliches Wachstum entstehen kann. Mein Bindungsbedürfnis jedoch erinnert an die anstehende Rückkehr meines Kindes.

Bedürfniskonflikte in psychischen Belastungssituationen: Ein Fallbeispiel

Frau Meier leidet unter Erschöpfung, auch im Zusammenhang mit einer starken beruflichen und privaten Belastung. Am Dienstagabend steht das wöchentliche Treffen mit ihrer ehemaligen Schulfreundegruppe an. Frau Meier steht nun vor der Entscheidung, ob sie wie gewohnt hingehen oder das Treffen absagen soll. Auf dem Heimweg von der Arbeit kreisen ihre Gedanken: »Ich bin so müde, am liebsten würde ich absagen, den Abend auf dem Sofa vor dem Fernseher verbringen und richtig früh ins Bett gehen. Nur: wie sieht das für die anderen aus, wenn ich schon wieder absage? Ich möchte nicht so unzuverlässig sein. Und hinzugehen würde mir guttun, es ist immer lustig und ich kann richtig abschalten. Aber morgen muss ich wieder früh raus und werde noch weniger Energie haben, wenn ich nicht so lange geschlafen habe. Ich werde den Arbeitstag unausgeschlafen kaum bewältigen können. Und in letzter Zeit passieren mir sowieso schon so viele Flüchtigkeitsfehler. Es wäre besser, wenn ich absagen würde. Aber irgendwann werden sich die anderen von mir abwenden, wenn ich immer absage!« Frau Meier fühlt sich nun nicht nur erschöpft, sondern auch gestresst und niedergeschlagen.

Was ist intrapsychisch geschehen?

Zunächst ist das Bedürfnis nach Erholung bei Frau Meier besonders spürbar. Dieses Bedürfnis drängt sie zu dem Vorschlag, das Treffen abzusagen, was wiederum dem Bindungsbedürfnis nicht behagt. Auch das Bedürfnis nach Lust/Freude protestiert. Die beiden Bedürfnisse nach Bindung und Lust/Freude setzen sich dafür ein, in wichtige Beziehungen und lustvolle Ereignisse zu investieren. Das Bedürfnis nach Erholung meldet sich erneut zu Wort und warnt vor den Konsequenzen der Entscheidung für den nächsten Tag, und das Bedürfnis nach Sicherheit stimmt dieser Warnung zu. Das Bindungsbedürfnis gibt nun zu bedenken, welche negativen Folgen solche Absagen auf Dauer für das Beziehungsnetz haben könnte.

Die Qualität der inneren Zwiesprache hat sich unmerklich verändert: Während zu Beginn eher Annäherungsziele formuliert wurden (»Ruh dich aus!«, »Sorge dafür, dass du Spaß hast!«), werden im weiteren Verlauf überwiegend Vermeidungsziele aktiviert (»Vermeide Erschöpfung!«, »Vermeide Beziehungsabbruch!«).

In unsicheren Lebenslagen kommt es zu einer raschen Aktivierung von Vermeidungszielen, die Bedürfnisse geraten »in Not«. Im Zusammenhang mit dem Bedrohungserleben ist das Risiko für destruktive innere Konflikte als größer anzusehen. So könnte sich Frau Meier am nächsten Morgen bei einem nächsten Gedankenkreisen Vorwürfe dafür machen, das Treffen abgesagt zu haben. Sie könnte ihr Verhalten als unzuverlässig und faul kritisieren und abwerten. Aber auch die Entscheidung, sich mit den Freunden zu treffen, könnte sich Frau Meier am Folgetag vorwerfen. Die Selbstkritik könnte sich dann darauf beziehen, ein kurzfristiges Vergnügen über die Arbeitsleistung und die Gesundheit gestellt zu haben.

Menschen in schwierigen Lebenslagen leiden häufig unter belastenden Gedankenkreisen, angestoßen durch motivationale Konflikte. Die beschriebenen sekundären Prozesse wie Selbstvorwürfe und -kritik können das Selbstwertgefühl der Betroffenen mindern.

Psychotherapeutische Unterstützung bei der Bewältigung innerer Konflikte

Das ständige Gedankenkreisen als zentrales Symptom bei Anpassungsstörungen gemäss ICD-11, kann daraus entstehen, dass zentrale Bedürfnisse in Konflikt geraten. In der Folge fühlen sich die Betroffenen zunehmend gestresst. Der innere Konflikt kann in einer Psychotherapie wertschätzend exploriert und die einzelnen Bedürfnisse validiert werden. Das emotionale Verständnis für die einzelnen Bedürfnisbeiträge führt dazu, dass Betroffene ein höheres Selbstmitgefühl entwickeln können. Dies kann Kompromissentscheidungen ermöglichen oder zumindest sekundären, selbstabwertenden Prozessen vorbeugen.

Zudem lernen Betroffene durch die gemeinsame therapeutische Arbeit, Gedankenkreisen als Ausdruck ihrer Bedürfnisse zu verstehen und sich diesen künftig bewusster zuzuwenden. Die Qualität der inneren Zwiesprache kann hierdurch mitfühlender und wertschätzender werden. Gelingt es dann, eine Entscheidung zu treffen, die den verschiedenen widerstreitenden Bedürfnissen möglichst gerecht wird, kann das Gedankenkreisen sogar zur Bewältigung der schwierigen Situation beitragen.

Die Autorin


Dr. med. Astrid Habenstein ist leitende Ärztin der Kriseninterventionsstation der Privatklinik Wyss. Sie ist zudem Lehrtherapeutin und Referentin im Rahmen der WeBe+ Weiterbildung (www.webeplus.ch), hält Vorträge im Rahmen div. Kongresse und Tagungen (u. A. BETAKLI, Hausärztetagung, Psy-Kongress) sowie Fort- und Weiterbildungen anderer Berufsgruppen (u. A. Ergotherapie, Pflege Inselspital). Ihre Themenschwerpunkte sind Krisenintervention, Suizidalität, Urteilsfähigkeit, Fallkonzeption in der Psychotherapie. Bei Beltz hat sie den Therapie-Tools-Band »Anpassungsstörungen« veröffentlicht.

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