Wer kennt das nicht: Eine Situation, fünf verschiedene Perspektiven und fünf verschiedene Wahrheiten. Die Aufstellungsarbeit der Systemischen Therapie und Beratung bringt das besonders gut auf den Punkt. So sieht ein bestimmtes Problem aus der Sicht der Tochter anders aus als aus dem Blickwinkel des Vaters oder des Bruders. Indem wir deren Perspektive einnehmen und von deren Platz aus auf den Konflikt oder das Thema schauen, können wir unsere Sicht erweitern und erhalten ein neues Bild der Situation. Doch das funktioniert nicht nur bei Personen, die zur Familie oder zum Freundeskreis gehören. Auch Haustiere, Kleidungsstücke, alte Erbstücke und sogar der Weihnachtsbaum können, wenn man es will, ihre Sicht auf die Situation preisgeben. Indem wir uns in andere und sogar in diese Dinge hineinversetzen, können wir zu manch einem Thema sehr überraschende Informationen erhalten.
Das Weihnachtsfest ist traditionell das mit am emotional stärksten besetzte Fest des Jahres. An diesem einen Tag und den beiden folgenden Feiertagen treffen Familienmitglieder aufeinander und oft bringen sie ihre (unerfüllten) Sehnsüchte, ihre Enttäuschungen, ihre ungelösten Konflikte und ihren festen Entschluss mit, sich von bestimmten Menschen in dieser Familie nichts mehr sagen zu lassen. Alte Familienwunden brechen auf und statt Harmonie kommt es immer wieder zu heftigen Familienstreitigkeiten. Jeder möchte gesehen und verstanden werden und genau da liegt das Problem. Sobald ich bereit bin, die Perspektive des anderen einzunehmen, ihn zu sehen und zu verstehen, wird auch mir mehr Verständnis entgegengebracht.
Die Perspektive eines Dritten einzunehmen, kann hilfreich sein, um Konflikte zu lösen
Besonders hilfreich kann es sein, die Position eines Dritten einzunehmen. Und warum sollte es nicht mal die Sicht Ihres Weihnachtsbaumes sein? Ruhig und gelassen steht er da in seiner Pracht und beobachtet das Geschehen an den Weihnachtsfeiertagen. Was hat er wohl gesehen und verstanden? Wo hätte er sich eingemischt, wenn er es gekonnt hätte, und welchen Rat hätte er Ihnen gegeben?
Vor allem in der ersten Sitzung nach Weihnachten werfe ich gerne mit meinen Klient:innen einen Blick hinter die grünen Zweige – mit einem rückblickenden Interview mit dem eigenen Weihnachtsbaum. Mit dieser kleinen Intervention aus meiner systemischen Praxis lassen sich viele Erkenntnisse gewinnen, die im kommenden Jahr weiter therapeutisch genutzt werden können.
Interview mit einem Weihnachtsbaum: Eine Anleitung für die therapeutische Praxis
Zunächst lasse ich mir von meinen Klient:innen folgende Fragen aus Sicht Ihres Weihnachtsbaumes beantworten
- Wer hat dich (den Weihnachtsbaum) besorgt und aufgestellt?
- Wer hat dich geschmückt und wie siehst du aus?
- Was denkst du über die Person(en), die dich hergerichtet hat/haben?
- An welchem Ort hat man dich aufgestellt und wie groß oder klein bist du?
- Trägst du traditionell immer dieselben Christbaumkugeln oder wurdest du neu eingekleidet?
- Wer hat sich am meisten auf dich gefreut?
- Wie war die Vorweihnachtszeit für die Mitglieder dieser Familie, in deren Haus du stehst?
- Welche Erwartungen hast du in dieser Familie wahrgenommen? Gab es unterschiedliche?
- Was hast du noch beobachtet? Zum Beispiel während des Festessens?
- Von wem fühltest du dich als Baum am meisten wertgeschätzt? Warum?
- Wer hat sich am meisten über sein Geschenk gefreut?
- Haben auch die Haustiere ein Geschenk bekommen?
Auch tiefergehende Fragen können vom Weihnachtsbaum beantwortet werden, lassen Sie sich überraschen, welche Erkenntnisse für Sie und Ihre Klient:innen auf diese Weise zutage treten. Am besten notieren Sie die Antworten, damit Sie zu einem späteren Zeitpunkt, falls gewünscht, tiefer einsteigen können.
Fragen Sie:
- Über welches Thema darf in dieser Familie auf keinen Fall gesprochen werden?
- Gibt es in der Familie ein Geheimnis?
- Wer weiß wohl am meisten darüber?
- Was müsste ein freches Kind in dieser Familie sagen, damit die eingeladene Verwandtschaft sofort wieder abreist?
- Wobei wird allen warm ums Herz?
- Welche Gefühle sind in dieser Familie unerwünscht?
- Wer in dieser Familie weiß am besten, wie Glück geht?
- Was ist das Wertvollste, was diese Familie zu Weihnachten bekommen könnte?
Zum Abschluss können Sie diesem Weihnachtsbaum noch ein paar sehr persönliche Fragen über Ihren Klienten bzw. Ihre Klientin selbst stellen.
- Was denkst du, Weihnachtsbaum, wie sich … während der Weihnachtstage wirklich gefühlt hat?
- Wo hat sich … selbst nicht ernst genug genommen oder sogar im Stich gelassen?
- Was hätte … anders machen müssen, um die Verantwortung für sein/ihr eigenes Wohlergehen zu übernehmen?
- Welche Tradition war eine Wohltat für ihn/sie? Welche Tradition hat … nur mit Anstand ertragen und warum?
- Was sollte … beim nächsten Familienfest unbedingt berücksichtigen?
Bedanken Sie sich gemeinsam mit Ihrem Klienten oder Ihrer Klientin bei deren Weihnachtsbaum für die wertvollen Einsichten, die Sie durch diesen Perspektivwechsel gewonnen haben.
Ich wünsche Ihnen jedenfalls viele tiefe Erkenntnisse für Ihre Klient:innen und Ihnen vor allem Freude mit dieser besonderen Intervention.
Eine besinnliche Weihnachtszeit wünscht
Sabine Lück
Die Autorin
Sabine Lück, Dipl.-Soz.-Päd., Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Kammerzertifikat in Systemischer Therapie, Lehrende für Systemische Therapie und Beratung und Systemische Therapeutin (DGSF), Supervisorin und Coach (DGsP). Leitung des Instituts für Transgenerative Prozesse (ITP) Wendeburg. Kassenärztliche Zulassung seit 2003 für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Tiefenpsychologie und Systemische Therapie). Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin für Systemische Therapie und Tiefenpsychologie. Bei Beltz hat sie die Kartensets »Transgenerationale Therapie. 75 Therapiekarten« und »Wachstumsschritte. Rituale, Übungen und kleine Abenteuer in Therapie und Beratung« veröffentlicht. Frau Lück ist zudem Autorin einiger therapeutischer Spiele (u.a. »Die Sorgenlos-Post« erschienen 2023 bei Beltz).