Lernen erleben: Interview mit Eva Faßbinder zu Therapievideos als effektives Lerninstrument

Die Digitalisierung ist in vollem Gange. Sie verändert wie wir kommunizieren, arbeiten, lernen. Auch in psychotherapeutischen Lehr- und Lernszenarien spielt der Einsatz von multimedialen Werkzeugen eine immer wichtigere Rolle. Multimediale Lernressourcen sind ein ideales Mittel um ein »Handwerk« zu erlernen. Und gerade in der Psychotherapie, in der Theorie früher oder später in konkrete Handlungskompetenz im direkten Kontakt mit den Klient:innen überführt werden muss, kann Digitalisierung enorm viel beitragen. Sei es durch neue Trendmethoden wie videobasierte Online-Supervision (»Live-Supervision«), Serious Games oder etablierte Fortbildungsmethoden wie Webinare.

In der Praxis ist v.a. der Einsatz des Mediums Video bei der Weiterbildung und Wissensvermittlung in der Psychotherapie eine zentrale Strategie. Schon seit 2013 können Psychotherapeut:innen mit der Beltz-Video-Learning-Reihe ihren Fundus an therapeutischen Interventionen erweitern und renommierten Expert:innen bei der Therapie direkt »über die Schulter« schauen. Denn um etwas über Psychotherapie zu lernen, ist das Video ideal: Es lässt Emotionen entstehen und bildet Bewegungen und dynamische Prozesse der Interaktion perfekt ab. Durch die sukzessive Darstellung von Handlungsabläufen ermöglicht das Video ein Verstehen und Nachvollziehen, das in Text- oder Sprachform nicht ausreichend transportiert werden kann.

Solche Lernressourcen didaktisch gut zu gestalten, sodass sie die Aufmerksamkeit auf die zentralen Inhalte lenken und die Lernenden aktivieren, nicht nur passiv zu konsumieren, sondern auch Wissen zu generieren, ist nicht trivial. Wir sprechen daher heute mit Eva Faßbinder darüber, welche didaktischen Potenziale Lehrvideos in der Psychotherapeutenausbildung haben, wie so ein Video entsteht und wie daraus möglichst viel (Handlungs-)Wissen für die therapeutischen Praxis generiert werden kann.

Worin sehen Sie denn die Vorteile einer psychotherapeutischen (Weiter-)Bildung mit Unterstützung von Lehrvideos? Für welche Zwecke bietet sich der Einsatz an?

Eva Faßbinder: »Lehrvideos sind ein Riesengewinn für die psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung. Mit so einem Video kann man eben ganz schnell nachvollziehen, wie eine bestimmte Technik durchgeführt werden soll. Das ist natürlich viel kurzweiliger und lebendiger, als wenn man nur darüber liest oder es langatmig erklärt bekommt. Durch die Untertitel können die einzelnen therapeutischen Schritte einer bestimmten Technik simultan erklärt und verstanden werden, ohne dass man das Video stoppen müsste und der Flow verloren geht (wie beispielsweise bei einem Live-Rollenspiel in einem Workshop). Zusätzlich nehmen die Zuschauer:innen neben dem gesagten/geschriebenen Wort ja noch ganz viele andere Informationen zur non- und paraverbalen Kommunikation direkt mit auf, also zum Beispiel, wie spricht die Therapeutin mit der Patientin, wie schaut sie sie an, wie ist das Sprechtempo, wo macht sie Pausen, wie moduliert sie ihre Stimme? Wie ist der Abstand von Therapeutin und Patient, lehnt sie sich vor oder zurück, wie sind Gestik/Mimik? Ich könnte hier unendlich viele weitere Beispiele nennen.

Zu Ihrer zweiten Frage: Für welche Zwecke bieten sich Lehrvideos an? Die Videos eignen sich einerseits zum Einsatz in Workshops, Praxisseminaren, Vorlesungen, Vorträgen usw., wenn man als Dozent:in etwas zeiteffizient, lebendig und didaktisch hochwertig verdeutlichen möchte. Ich nutze die Videos auch sehr viel in meiner Tätigkeit als Supervisorin. Wenn ich beispielsweise eine bestimmte Technik empfehle, kann ich oft auf ein passendes Therapievideo verweisen, dass der/die Supervisand:in sich dann nochmal zur Vertiefung anschauen kann, wenn er/sie möchte.

Andererseits kann man die Videos aber auch toll für das Selbststudium nutzen. Selbst erfahrene Psychotherapeut:innen können damit einfach von zuhause die eigenen therapeutischen Möglichkeiten, den eigenen Horizont, erweitern. In den Videos erhält man viele Beispiele und Anregungen, die man dann direkt erproben kann bzw. so anpassen kann, dass sie zur eigenen therapeutischen Haltung passen. Das finde ich persönlich sehr erfrischend und belebend für meine eigene therapeutische Praxis und experimentiere gerne mit dem, was ich in Lehrvideos so geboten bekomme.«

Was macht aus Ihrer Sicht ein gutes Lehr- und Lernvideo aus?

Eva Faßbinder: »Als erstes braucht es aus meiner Sicht authentische Schauspieler:innen, die sich gut in die Innenwelt von Patient:innen einfühlen können und möglichst passend auf die Interventionen reagieren. Aber auch die Therapeut:innen sollten möglichst so handeln, wie sie es auch sonst im Therapieraum ohne Kamera mit ihren Patient:innen tun – das hilft den Zuschauer:innen, sie als ›echte‹ Personen spüren zu können.

Gleichzeitig muss natürlich auch die Technik stimmen. Am besten ist es, wenn die Therapeut:innen die jeweilige Technik, die sie demonstrieren, in logische Schritte herunterbrechen, die man dann idealerweise sogar im Untertitel sehen und direkt üben kann. Und das Ganze dann möglichst ›kurz und knackig‹ (am besten bleibt man unter 10-15 Minuten). Bei langen Videos ist immer die Gefahr, dass die Zuschauer:innen unterwegs wegdösen (zumindest geht mir das häufig so). Ich habe zudem gar nichts dagegen, wenn es in einem solchen Lehrvideo auch einfach mal ›glatt läuft‹ und die Patient:innen positiv auf die Technik reagieren und man direkt sieht, dass sie davon profitieren. Das macht den Zuschauer:innen im besten Falle Mut, es selbst auszuprobieren. Es sollte einfach nicht zu kompliziert werden, denn man will ja die Kernelemente der Technik verstehen.«

Sie haben selbst an der Video-Playlist »Stuhldialoge in der Psychotherapie« mitgewirkt. Aus welchem Anlass heraus entstand Ihr Vorhaben, ein Lehrvideo zu gestalten? Und welche Gedanken macht man sich als Autorin während der inhaltlichen Konzeption der Videos?

Eva Faßbinder: »Die Playlist ist aus unserer (Gitta Jacobs‘ und meiner) großen Begeisterung für Stuhldialoge und was man damit in der Psychotherapie alles erreichen kann, entstanden. Stuhldialoge kann man nun wirklich viel, viel besser im Video demonstrieren, als im Buch, weil es so wichtig ist, zu sehen, wo genau die Stühle stehen und wie mit den Stühlen interagiert wird.

Unser Ziel war es, Therapeut:innen gutes didaktisches Material an die Hand zu geben und sie dafür zu begeistern, selbst mehr mit Stuhldialogen zu experimentieren. Dabei war es uns wichtig, verschiedene Therapiemethoden und -schulen miteinzubeziehen und zu demonstrieren, wie vielfältig Stuhldialoge genutzt werden können. Wir waren froh, dass wir motivierte Kolleg:innen, die für die verschiedenen Methoden stehen, gewinnen konnten, wie z.B. Eva-Lotta Brakemeier für CBASP, Valerija Sipos für DBT, Friedhelm Matthies für Gestalttherapie und Claas Hinrich Lammers für Emotionsfokussierte Therapie. Zusätzlich haben ganz viele Kolleg:innen als Schauspielpatient:innen mitgewirkt – von ihren Erfahrungen mit den jeweils dargestellten Problemen und ihrem Wissen, wie Patient:innen typischerweise reagieren, haben die Videos sehr profitiert. 

Als Autorinnen haben wir uns vorher Gedanken gemacht, was die wichtigsten und bewährtesten Stuhldialogtechniken sind, die wir darstellen möchten und was die wichtigsten Prinzipien sind, die wir verdeutlichen möchten. Dann haben wir versucht, das Ganze sinnvoll zu strukturieren und für jede Technik überlegt, wie man sie didaktisch am besten demonstrieren kann. Dadurch ist eine insgesamt große Vielfalt entstanden, aus der jeder etwas für sich ziehen kann.«

Wie wird so ein Lernvideo überhaupt erstellt? Gibt es eine:n Regisseur:in?

Eva Faßbinder: » Wir haben uns vorher Gedanken gemacht, welche Szenen genau gedreht werden sollen und dann wird ein Drehplan mit dem Kamerateam und den Darsteller:innen abgesprochen. Für jede Szene gibt es dann eine Art ›kryptisches‹ Drehbuch, wo grob beschrieben wird, was passieren soll und an manchen Stellen auch ein paar Ideen vorformuliert sind. Dann wird der Drehort entsprechend hergerichtet und man bespricht mit dem Kamerateam, was man vor hat und findet zusammen Lösungen, wie das gut auf die Kamera zu bekommen ist. Bei den Stuhldialogen war das schon eine Herausforderung, weil man ja sehr viel die Stellung im Raum wechselt und verschiedene Perspektiven wichtig sind, um alles gut einzufangen. Dann spielt man und schaut, ob man noch etwas optimieren muss. Oft braucht man 2-3 Versuche, manchmal klappt es auch sofort oder man braucht halt länger. Danach wird das Ganze geschnitten und man überlegt sich die Untertitel für die jeweiligen Szenen.«

Wie sieht aus Ihrer Sicht eine ideale didaktische Begleitung beim Einsatz von Lehrvideos in der Weiterbildung aus?

Eva Faßbinder: »Oh, da gibt es viele Möglichkeiten. Ich berichte mal kurz, wie ich die Videos bisher einsetze. In meinen Workshops erkläre ich die betreffende Technik oft, zeige dann ein Video, diskutiere das Video mit der Gruppe und stelle ggf. Transfer- oder Verständnisfragen. Im Anschluss lasse ich die Technik danach im Rollenspiel üben. Ich habe aber auch schon Videos gezeigt und an bestimmten Stellen gestoppt und gefragt: ›Wie würdet ihr jetzt reagieren?‹, ›Welche Technik würdet ihr jetzt anwenden?‹, oder auch spezifisch ›Wie könnte die empathische Konfrontation jetzt aussehen? Was würdet ihr jetzt sagen oder tun?‹ oder ›Welche Validierungstechnik würdet ihr jetzt anwenden und wie genau würdet ihr das machen?‹. Man kann dann darüber in der Großgruppe diskutieren oder auch Kleingruppenarbeit und Rollenspiele nutzen. Die Videos können auch eingesetzt werden, um die Wahrnehmung von Therapeut:innen zu schulen, beispielsweise: ›Ruft mal bitte Stopp, wenn ihr eine Validierungstechnik erkannt habt und sagt mir, welche das war!‹ oder ›Schaut mal, welche Modi/Emotionen ihr beim Patienten erkennt‹. Manchmal setze ich Videos auch zur Selbsterfahrung ein. Ich habe ein Video von einem narzisstischen Patienten, der die Therapeutin persönlich angreift, danach frage ich: ›Wie geht es euch, wenn ihr in solchen Situationen seid? … Was wollt ihr dann als Nächstes machen?‹. Dann erarbeiten wir, was die Therapeut:innen brauchen, um sich in solchen Situationen gut schützen zu können und professionell reagieren zu können.«

Vielen Dank, liebe Frau Faßbinder, für diesen spannenden Einblick in die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Videos!

Die Expertin

Dr. med. Eva Faßbinder ist Fachärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Lübeck, Verhaltenstherapeutin, Supervisorin für VT (IST) und ist zertifizierte Schema- und Gruppenschematherapeutin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Schematherapie und andere 3. Welle Methoden, Gruppenpsychotherapie, Persönlichkeitsstörungen (v.a. Borderline-PS), Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Emotionsregulation, Imagery Rescripting und Stuhldialoge.

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