Ich habe nun schon einen großen Teil meiner praktischen Tätigkeit hinter mir –ein dreiviertel Jahr in einer Suchtklinik. Dort war ich für die Aufnahmestation zuständig, was für mich bedeutet hat: die Therapieindikation der Patient:innen klären. Besprechen, was sie zur stationären Therapie bringt, ein paar Anamnesegespräche. Außerdem Stunden über Stunden Diagnostik und Dokumentation. Tests, Tests, Tests und Fragebögen. Richtig therapeutisch gearbeitet habe ich daher bisher noch kaum. Langsam bin ich etwas ungeduldig, denn andere PiPlerinnen, die gleichzeitig mit mir ihre Ausbildung gestartet haben, haben schon seit einiger Zeit die Möglichkeit, ihr Seminarwissen praktisch auszuprobieren. Ich mache mir langsam Sorgen, dass ich bald in der praktischen Tätigkeit Patient:innen alleine sehe, ohne vorher überhaupt mit Austausch in einem Team erste Schritte als Therapeutin ausprobiert zu haben.
Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden: ich habe in einer Reha-Klinik angefangen und bin nun zuständig für eine eigene Station! Endlich richtige Verantwortung übernehmen – aber auch gleich ziemlich viel. Ich bin ziemlich nervös. Eine Woche lang bin ich bei meinen Kolleg:innen mitgelaufen, habe die Abläufe der Klinik kennengelernt, Essensmarken organisiert und meinen Computer zum Laufen gebracht. Und nun ist es endlich soweit: In meinem Tagesplan steht für 11:00 Uhr, Frau W, Station B. Vor mir liegt der Anamnesebogen der Patientin, den ich im ersten Gespräch ergänzen soll, um dann einen Plan zu machen, wie ich sie während ihres Aufenthalts therapeutisch unterstützen kann. In meinem Kopf schwirrt ein Haufen Wissen – aber auch ein Haufen Fragen. Was sie wohl hat? Wenn es eine Depression ist, lege ich sicher sofort los mit einem Wochenprotokoll! Oder ist das direkt zu überfordernd? Außerdem haben wir nur ungefähr sechs Sitzungen über sechs Wochen Zeit –so wirklich ein Manual anwenden kann ich doch dann gar nicht, oder ? Woher weiß ich, worauf ich einen Fokus legen soll? Wenn es eine Somatoforme Störung ist, habe ich ehrlich gesagt noch gar keine Ahnung, was ich tun könnte. Das Seminar findet erst im Herbst statt. Dann muss ich sicher Bücher wälzen! Oder die anderen fragen. Ich habe einfach ehrlich gesagt noch nicht wirklich eine Ahnung, wie ich das alles angehen soll. Was, wenn Frau W. merkt, dass ich noch nie therapiert habe? Was, wenn wir uns vielleicht gar nichts zu sagen haben? Doch mir bleibt keine Zeit mehr, mir weiter den Kopf zu zerbrechen: Es klopft an der Tür.
Da steht sie: Frau W., meine allererste Patientin
Ich atme tief aus, lege Stift und Anamnesebogen auf den Tisch. Dann öffne ich die Tür. Da steht sie: Frau W., meine allererste Patientin. »Hallo! Ich bin Frau B.«, stelle ich mich vor. »Kommen Sie herein.« Es klingt etwas einstudiert, denke ich beim sprechen. Frau W. setzt sich auf einen der beiden Stühle neben dem runden Kliniktisch. Dabei rutscht ihre Tasche von der Stuhllehne. Sie scheint auch ein bisschen nervös zu sein. Das ist ja eigentlich völlig klar! Auch für sie ist das natürlich ein erstes Treffen mit jemandem, den sie noch nie gesehen hat und ich werde sie gleich zu sehr persönlichen Themen befragen. Ich beruhige mich ein bisschen, denn mir wird klar: Ich bin in dieser Situation nicht allein. Hier treffen sich immer noch zwei Menschen. »Ein schönes Büro haben Sie!«, sagt Frau W. »So schön hell!«. »Danke«, ich freue mich, dass sie sich vielleicht etwas wohl fühlt. Das Büro ist tatsächlich etwas trist, aber sie hat Recht: Das Sonnenlicht fällt auf den Tisch zwischen uns und macht den Raum gleich viel schöner. »Wie schön, dass Sie gut hergefunden haben“, sage ich. »Sind Sie gut bei uns angekommen?“ Wie absurd, denke ich bei mir. »Uns« fühle ich eigentlich noch nicht so richtig, ich bin hier schließlich genauso neu wie sie. Aber es stimmt, ich bin nun Teil des Teams. »Ja sehr, ich habe sogar schon ein paar Menschen beim Essen getroffen«, berichtet Frau W. Den Start des Gesprächs habe ich vorbereitet. »Wir gehen heute nochmal durch, was Sie zu uns bringt, ok? Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen und Sie dürfen mir natürlich auch Fragen stellen!« Frau W. nickt. Dann starten wir ins Gespräch. Ich frage, woher sie kommt, weshalb sie die Reha beantragt hat. Wie sich ihre Symptome anfühlen, seit wann sie sie begleiten. Womit sie zu Hause ihre Zeit verbringt, wie ihr Job läuft. Freundschaften, Familie, Haustiere? Überraschenderweise entspanne ich mich schneller als gedacht. Ein Thema ergibt das andere und ich muss eher immer mal wieder auf die Uhr gucken, damit wir nicht überziehen. »Frau W., unsere Stunde ist leider schon um!«, stelle ich ehrlich überrascht fest. Sie lacht. »Das ging ja sehr schnell! Es war gar nicht so schlimm, wie ich gedacht habe.« Ich lächle ihr zu und denke, dass das Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. »Bis nächste Woche, ich freue mich!«, verabschiede ich sie schließlich an der Tür. Als ich an meinen Schreibtisch zurückkehre, bin ich richtig gut gelaunt. Das war also mein erstes Therapiegespräch! Es war zwar aufregend, aber meine Sorgen haben sich kaum bewahrheitet. Sicher, ich habe nicht meinen ganzen Anamnesebogen geschafft. Und hier und da bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich weitere Symptome hätte erfragen können. Aber es war völlig okay für ein erstes Gespräch und am Ende der Woche werde ich in der Intervision meinen Kolleg:innen auch Fragen dazu stellen können. Ganz ehrlich: Ich bin schon super gespannt, wie es mit Frau W. weitergeht.
5 wichtige Lektionen aus meinen ersten Therapienstunden
Ich habe aus meiner Erfahrung aus den ersten Patientenkontakten einiges gelernt.
Erstens, können wir PiPlerinnen uns viel mehr auf uns verlassen, als wir vielleicht zunächst denken. Wir bringen unheimlich viel Wissen aus unserem anspruchsvollen Studium und unseren Seminaren mit. Wenn wir all das geschafft haben, können wir ab hier nur noch weiter darauf aufbauen! Und nicht zu unterschätzen ist, wie wichtig das zwischenmenschliche Miteinander ist. Studien haben ergeben, dass die therapeutische Beziehung eigentlich mit der wichtigste Wirkfaktor einer gelungenen Therapie ist. Statt also sofort den perfekten Plan zu haben, vertraut auf euer Gefühl und konzentriert euch auf den Menschen vor euch und wie ihr mit ihr oder ihm in Kontakt kommen könnt. Was mögt ihr an ihr/ihm, wie könnt ihr dazu beitragen, dass ihr ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis aufbaut? Zur Beantwortung dieser Fragen braucht es Aufgeschlossenheit, aber nicht zwingend eine langjährige therapeutische Erfahrung.
Zweitens ist mir damals klar geworden, dass man wirklich nicht alles wissen muss, um Verantwortung für eine:n Patient:in übernehmen zu können. Wenn bei euch Fragezeichen aufkommen, könnt ihr euch immer eine Notiz machen und später nachschlagen oder nachfragen, was ihr noch nicht gewusst habt. Man muss nicht alles jetzt und sofort klären! Ihr dürft einen Schritt nach dem anderen machen!
Drittens ist es absolut ok, wenn ihr mal einen Fehler macht. Diese falsche Info, die ihr eurem Patienten mitgegeben habt oder der Aussetzer im Gespräch können immer eine Chance sein: Dafür, dass ihr mehr darüber rausfinden könnt, wo ihr gerade steht. Oder dass ihr mit euren Patient:innen darüber ins Gespräch kommen könnt. Als Therapeut:innen gehen wir als gutes Beispiel voran und ein liebevoller Umgang mit sich selbst, auch wenn wir nicht optimal »performt« haben, kann eine wichtige Modellfunktion für unsere Patient:innen haben. Sie können dann sehen, dass es völlig ok ist, sich einen Fehler einzugestehen und daraus zu lernen.
Viertens: Es kann statt einer perfekten Vorbereitung helfen, euren therapeutischen Handwerkskoffer mit ein paar essentiellen Tools zu bepacken. Vielleicht ein paar Intervetionen, die sehr breit anwendbar sind? Ein paar Psychoedukationsarbeitsblätter zum Beispiel, einen Vordruck für eine Verhaltensanalyse oder eine Anleitung zum Therapieziele finden? Diesen therapeutischen Koffer könnt ihr während eures therapeutischen Werdegangs Stück für Stück immer mehr bepacken, um dann auf ihn zurückgreifen zu können. Das ist meiner Erfahrung nach viel wichtiger, als schon zu Beginn einen komplett ausgeklügelten Plan zu haben- schließlich ist jeder Mensch verschieden und ihr müsst euch erstmal kennenlernen um herauszufinden, was euer/eure Patient:in braucht.
Und fünftens: Ihr habt ganz viele Möglichkeiten, euch Unterstützung zu holen! Ihr könnt zum Beispiel eure Erfahrungen in den Intervisionen oder Supervisionen eurer Klinik besprechen. Mir hat es immer sehr viel gegeben, mit meinen Mit-PiPlerinnen über meine Sorgen und Unsicherheiten zu sprechen. Dabei merkt man einfach so gut, dass man nicht allein ist und dass Therapeut:innen eben auch nur Menschen sind. Es kann auch helfen, euch Beispieltherapien in Videoform anzuschauen, die Beltz-Videoplaylists bieten dafür eine tolle Möglichkeit.
Ich wünsche euch ganz viel Spaß und wichtige Erfahrungen mit euren ersten Patient:innen!
Auf ganz bald,
eure Mia