Mit Empathie und Wertschätzung den Selbstwert pflegen

Woran misst sich der Wert eines Menschen? An seinen Fähigkeiten und Begabungen? An den Beziehungen, durch die er erfährt, wie viel Wert er für andere Menschen hat? Oder hat der Mensch bereits Wert alleine dadurch, dass er da ist?

Den eigenen Wert definieren

Der Selbstwert ist ein Konstrukt, das lange und viel erforscht wird. Der Selbstwert definiert sich darüber, wie viel Wert Menschen sich selbst zuschreiben (Baumeister et al., 2003). Es handelt sich also um eine subjektive Einschätzung einer Person über ihren Wert als Person (Donnellan et al., 2011) und stellt demnach ein Konstrukt dar, das nicht notwendigerweise die objektiven Merkmale und Eigenschaften einer Person widerspiegelt.

Ein hohes Selbstwertgefühl bezieht sich auf eine positive Gesamtbewertung des Selbst (Baumeister et al., 2003). Ein niedriges Selbstwertgefühl hingegen kann ein Risikofaktor für die Entwicklung von psychischen Störungen darstellen oder diese begleiten. Daher wird die Selbstwertarbeit störungsübergreifend immer wichtiger in der Therapie. Insbesondere weil der Selbstwert keinerlei definitorische Anforderung an Genauigkeit stellt (Baumeister et al., 2003), können Fehler bei Einschätzungen passieren. So kann ein niedriger Selbstwert unberechtigt sein, insbesondere dann wenn die Wahrnehmung durch eine anhaltende negative Stimmung verzerrt ist. Aber auch kritische Lebensereignisse im Rahmen posttraumatischer Störungen können Wunden in unserem Selbstwert hinterlassen. Sind wir in vulnerablen Phasen längere Zeit negativen Bewertungen von wichtigen Bezugspersonen ausgesetzt, können diese negativen Fremdbewertungen zur eigenen negativen Selbstbewertung werden.  

Grundsätzlich sollte die Grundhaltung sein, dass alle Menschen den gleichen Wert haben, völlig unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, Fähigkeiten, Talenten und anderen Merkmalen. Auch Personen mit geringem Selbstwert würden dies grundsätzlich unterschreiben – aber auch für sich selbst? Da verfügen sie meist über viel höhere Selbstwertmessstäbe. Hier bietet die Therapie erste Möglichkeiten für Veränderungen des Selbstwerts. Denn, wenn der Selbstwert eines Menschen der Wert ist, den er sich selbst zuschreibt, sollte es das Ziel der Therapie sein, Menschen mit einem niedrigen Selbstwert dazu zu befähigen, diesen wertvollen Menschen auch wieder in sich zu entdecken.

Dass das nicht immer leicht ist, weil unser Selbstwert natürlichen Schwankungen unterliegt, ist auch für uns als Psychotherapeut:innen nicht von der Hand zu weisen. Obwohl wir die Expert:innen für die Selbstwertprobleme unserer Patient:innen sind, wissen wir aufgrund unserer eigenen Erfahrungen als Menschen, wie sensibel unsere Selbstwertsensoren auf Schwankungen in einem stressigen Alltag reagieren können.

Die Selbstwertzweifel abschütteln

In der Arbeit als Psychotherapeutin und Wissenschaftlerin haben Redewendungen über die Jahre für mich an Bedeutung gewonnen, insbesondere wenn ich sie vor dem Hintergrund eines Zusammenspiels aus Seele und Körper betrachte. Im Deutschen gibt es die Redewendung, dass man alle Zweifel abschütteln soll. Aber geht das denn in der Praxis so einfach? Auch Psychotherapeut:innen dürfen (Selbstwert-)Zweifel haben. Zweifel bieten eine gedankliche Zäsur und befähigen uns zunächst, uns selbst, die therapeutische Beziehung und den Sitzungsverlauf noch einmal zu reflektieren. Sie ermöglichen es, Dinge zu verändern. Bleiben allerdings unbegründete Selbstwertzweifel über längere Zeit bestehen, können sie die eigenen Stärken limitieren. Da kann das Zweifel-Abschütteln helfen.

Auch mit Patient:innen können Sie diese Übung durchführen, indem Sie zunächst Selbstwertzweifel sammeln und aufschreiben. Sie können sich dann gemeinsam hinstellen und im wahrsten Sinne (Selbstwert-) Zweifel abschütteln. Fangen sie mit den Beinen an, zunächst das Linke, dann das Rechte. Schütteln Sie den linken, dann den rechten Arm. Schütteln Sie Ihren Pullover aus, als wollten Sie den Daunen in einer Bettdecke wieder Platz zur Entfaltung geben. Mit Kindern können Sie mit weiteren Bildern arbeiten: »Was passiert, wenn eine Katze nass geworden ist? Sie schüttelt sich. Wir schütteln die Selbstwertzweifel aus unserem Selbstwertfell wie eine Katze die nassen Regentropfen aus ihrem Fell.«

Den Selbstwert pflegen

Auch weil der Selbstwert ein schwer zu begreifendes Konstrukt ist, kann es hilfreich sein, mit Bildern und Symbolen zu arbeiten. Insbesondere der Selbstwert kann wie ein zartes Pflänzchen sein, das Pflege und Zuwendung braucht. Dabei geht es nicht darum, uns und andere vor jeglichen Selbstwertbedrohungen zu schützen und uns nur auf die Stärkung des Selbstwerts zu konzentrieren. Beim Selbstwert bewegen wir uns auf einer Dimension, sodass ein zu niedriger aber auch ein zu hoher Selbstwert dysfunktionale Extreme bleiben. Machen Kinder und Jugendliche nur selbstwertdienliche Erfahrungen, lernen sie nicht, mit den Selbstwertverletzungen umzugehen, die zum Leben dazugehören. Ja, natürlich: Es ist wichtig, ihnen eine ausreichend stabile Selbstwert-Basis zu ermöglichen. Aber genauso wichtig ist es, ihnen die Fähigkeiten an die Hand zu geben, um mit Selbstwert-Erschütterungen umzugehen: Kann ich Kritik annehmen und mich und mein Verhalten reflektieren? Kann ich mich auch von abwertenden Erfahrungen abgrenzen und mich ausreichend stabilisieren? Kann ich meine Gefühle regulieren und Dinge tun, die meinen Selbstwert wieder in eine Balance bringen? Darüber hinaus ist es dann auch wichtig zu verstehen, dass wir einen Selbstwert haben, auch wenn er uns nicht immer bewusst ist. Unser Selbstwert kann in einem Stand-by-Modus sein und nur in entsprechenden selbstwertbedrohlichen Situationen auf sich aufmerksam machen. Ziel ist es, die Veränderungen des Selbstwerts achtsam zu beobachten, sie wahrzunehmen, und nicht unmittelbar mit Gefühlen von Selbstabwertung oder Selbstwerterhöhung auf sie zu reagieren.

Hegen & Pflegen: Von der Kresse lernen

Insbesondere mithilfe von Kresse kann der Selbstwert leicht verständlich abgebildet und sein Veränderungsprozess visualisiert werden. Hierbei können Sie in Eierschalen Kresse-Samen auf Watte legen und zeigen, wie mit ein bisschen Pflege der Selbstwert wachsen kann. Wie die Kresse auch, braucht der Selbstwert nicht viel. Er braucht eigentlich anfangs nur jemanden, der es gut mit ihm meint. Mit diesem Bild können Sie auch Ihren Patient:innen in der Therapie begegnen. Denn die therapeutische Beziehung stellt einen Raum dar, in dem der Selbstwert wieder wachsen kann. Dafür braucht es meist keine außergewöhnlichen Techniken, sondern einen Umgang miteinander, der von Wertschätzung gekennzeichnet ist. Mit diesem Blogbeitrag möchte ich Ihnen daher den Druck nehmen und an unsere Grundhaltung erinnern: Denn insbesondere für den Selbstwert bedarf es manchmal nur Empathie, Wertschätzung und Echtheit, damit Patient:innen im wahrsten Sinne wieder aufblühen können. Zudem möchte ich Ihnen den Druck nehmen, der aus überhöhten Ansprüchen an sich selbst resultieren kann, wenn in der Therapie auch manchmal die Veränderungen langsamer sind, als die Kresse wächst. Denn auch für die (Selbstwert-)Kresse gilt, dass sie nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Im Gegenteil ist das Sich-Zeit-Nehmen und gemeinsam über noch so kleine Veränderungen zu staunen eine erste wichtige Erfahrung für Patient.innen, sich als wertvoll wahrgenommen zu fühlen. Auf der Grundlage korrigierender Erfahrungen lernen Patient:innen dann, sich auch selbst wieder einen Wert zuzuschreiben. Geben wir ihnen zusätzlich das Gefühl, dass man ihnen zutraut, dass sie sich auch außerhalb der Therapie um den Selbstwert kümmern können, ist das ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zum Selbstwert.

Liebe Kolleg:innen, lassen Sie uns daher den Selbstwert unserer Patient:innen als etwas sehr Kostbares verstehen. Und lassen Sie einen Moment den Gedanken auf sich wirken, dass Patient:innen sich Ihnen mit ihren Selbstwertproblemen in der Therapie anvertrauen, die sie so verletzlich machen. Dass Patient:innen das tun, kann Ihnen als Psychotherapeut:innen Ihren eigenen Wert noch einmal vor Augen führen, indem Sie sich bewusst machen, dass Patient:innen das Kostbarste, das sie haben, vertrauensvoll in Ihre Hände geben. Und das ist ein sehr wertvoller Gedanke.

Literatur
Baumeister, R. F., Campbell, J. D., Krueger, J. I., & Vohs, K. D. (2003). Does high self-esteem cause better performance, interpersonal success, happiness, or healthier lifestyles?. Psychological science in the public interest, 4(1), 1-44.
Donnellan, M. B., Trzesniewski, K. H., & Robins, R. W. (2011). Self‐esteem: Enduring issues and controversies. The WileyBlackwell handbook of individual differences, 718-746.

Die Autorin

M. Sc. Psychologin Marny Münnich ist Psychologische Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Klinische Psychologie und Psychotherapie von Frau Prof. Dr. Martin an der Bergischen Universität Wuppertal. 2025 erschien von ihr bei Beltz das Kinderfachbuch Tiger Taio auf der Selbstwertspur.

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