Haben Sie auch Kinder und Jugendliche in Behandlung, deren Eltern auffallend ängstlich sind oder bei denen Sie eine Angststörung vermuten? Damit sind Sie nicht allein: Mit knapp 8 % gehören Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland und betreffen selbstverständlich auch viele Eltern.
Von Ängsten sind dabei Frauen fast doppelt so häufig betroffen wie Männer (Robert Koch-Institut, 2024). Für unsere kleinen Patient:innen bedeutet das: Etwa ein Viertel der 0- bis 16-jährigen Kinder wächst mit einem psychisch erkrankten Elternteil auf (Abel et al., 2019). Und das hat Folgen: Studien zeigen, dass betroffene Kinder ein 1,5- bis 8,4-fach erhöhtes Risiko haben, im Laufe ihres Lebens selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Besonders elterliche affektive und Angststörungen erhöhen dabei das Risiko erheblich (vgl. Leijdesdorff et al., 2017; Tu et al., 2024; Uher et al., 2023). Die sogenannte konkordante Transmission, also das Risiko, selbst genau dieselbe spezifische psychische Störung zu entwickeln wie das betroffene Elternteil, liegt bei elterlichen Angststörungen bei etwa 31–32 % (Uher et al., 2023; Zietlow & Krumpholz, 2024). Besonders auffällig ist zudem, dass insbesondere Kinder von Eltern mit Panikstörungen häufiger unter Trennungsangst leiden als Kinder, deren Eltern nicht erkrankt sind.
Was tun?
Die Wissenschaft ist sich einig, dass frühe Interventionen entscheidend sind, um die negativen Auswirkungen elterlicher Angststörungen auf Kinder so weit wie möglich zu minimieren. Kinder betroffener Eltern profitieren von psychoedukativen Programmen, weil ihnen diese adaptive Bewältigungsstrategien vermitteln und damit langfristig auch die kindliche Resilienz steigern (Hahlweg & Bodenmann, 2017). Besonders wirksam ist es nach Grove und Kollegen (2017), Kindern entwicklungsgerecht Wissen über elterliche Erkrankungen zu vermitteln. So lassen sich Schuld- und Schamgefühle abbauen und mögliche folgende Entwicklungsrisiken minimieren.
Und wie erklären wir Ängste kindgerecht?
Bei Depressionen gibt es inzwischen zahlreiche Kinderfachbücher, die die Erkrankung der Eltern behutsam und verständlich vermitteln. Das geniale (und allererste) Kindererklärbuch »Die sonnigen Traurigtage« (Homeier, 2020) ist sicher vielen bereits bekannt, aber mir fallen noch mindestens 13 weitere Kinderbücher rund um das Thema elterliche Depressionen ein. Aber fallen Ihnen auch Kinderfachbücher zum Thema Ängste bei Eltern ein? Nein? Genauso ging es uns auch und deshalb haben wir dieses Kinderfachbuch geschrieben.
Das Kinderfachbuch gegen Elternängste: »Lulu kickt die Angst ins Aus!«
Kinder spüren sehr genau, wenn es ihren Eltern nicht gut geht. Besonders wenn ein Elternteil unter einer Angststörung leidet, kann das für Kinder verwirrend und belastend sein. Sie merken, dass Mama oder Papa in bestimmten Situationen ängstlich oder vermeidend reagieren, doch oft fehlen ihnen die Worte und das Verständnis, um diese Reaktionen einordnen zu können. Ohne Erklärungen können Unsicherheiten, Schuldgefühle oder sogar eigene Ängste entstehen.
Hierzu fällt mir ein ca. 12-jähriger Junge ein, der sich vor vielen Jahren u.a. aufgrund von starken Ängsten vor Wasser in meiner Behandlung befand. In einem Gespräch gemeinsam mit dem Jungen und seinen Eltern haben alle einen Angstcomic gezeichnet. Eine schöne Intervention, die ursprünglich aus der Hypnotherapie stammt und bei der in sechs Bildern u.a. die Angst, ein:e Held:in gegen die Angst und die Angst, nachdem sie von der/dem Held:in ein Geschenk bekommen hat, gezeichnet werden (ausführliche Anleitung vgl. Gräßer & Hovermann, 2018, »Kreative Techniken für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. 75 Therapiekarten«). Hierbei war sehr spannend zu beobachten, dass der Vater eine offenbar sehr starke Angst vor Hunden hatte und die Mutter sich vor dem Fahrstuhlfahren fürchtete. Über diese Übung war es anschließend ein Leichtes mit allen dreien ins Gespräch zu kommen und der Junge begann direkt seinem Vater vorzuschlagen, ihn bei der Konfrontation mit Hunden zu helfen und seine Mutter beim Fahrstuhlfahren zu begleiten.
Hätte ich die Geschichte um Lulu und ihr Team damals bereits in meiner Praxis gehabt, hätten wir sie bestimmt gemeinsam gelesen und mithilfe des Erklärteils und der Arbeitsblätter ein tieferes Verständnis für Ängste und deren Behandlung erarbeitet. Ich könnte mir vorstellen, dass die Familie auch viel Spaß mit dem Angst-Quiz aus den Arbeitsblättern gehabt hätte. Vielleicht hätten wir auch gemeinsam Lulus Spezialtipps gegen Ängste ausprobiert. Viele der Begebenheiten und auch Übungen aus dem Buch sind in der praktischen Arbeit mit vielen Kindern, Jugendlichen und deren Eltern entstanden.
So hatte ich vor vielen Jahren eine kleine Patientin, die immer die schlechte Laune ihrer Mutter abbekam, die unter Ängsten und starken Panikattacken litt. Anfangs dachte das Mädchen immer, dass sie Schuld daran sei und etwas falsch gemacht habe und sich nur mehr anstrengen müsse, damit dies nicht mehr geschehe. In dem Buch von Lulu und ihrem Team wird dieser Aspekt in zweierlei Hinsicht aufgenommen: Zum einen wird das Bild eines Blitzableiters aufgegriffen, den ich mit dem kleinen Mädchen auch aufgegriffen hatte, um zu thematisieren, dass sie etwas abbekommt, was mit ihr nichts zu tun hatte. In dem Zusammenhang sind wir sogar durch die Nachbarschaft der Praxis gelaufen und haben nach Blitzableitern an den umliegenden Häusern geschaut, und die Patientin berichtete ganz stolz, dass ihr Haus sogar auch einen besitzen würde. Sie beschloss, sich selbst einen »Taschen-Blitzableiter« zu bauen, den sie immer dabei hätte und der sie gut daran erinnern könnte, dass es nicht an ihr lag, wenn ihre Mutter wieder aus dem Nichts heraus mit ihr schimpfte. Zum anderen haben wir ausführlich am Thema Schuld gearbeitet und nach und nach konnte das kleine Mädchen nachvollziehen und verstehen, was bei ihrer Mutter los war und dass dies nichts mit ihr zu tun hatte. Über gemeinsame Gespräche mit den beiden, zusammen und dem Nutzen des »Blitzableiterbildes«, wurde das Verhältnis zwischen den beiden nach und nach entspannter und fröhlicher. Wir haben damals Blitze aufgemalt und beschrieben – eine Abwandlung dieser finden Sie im Buch und in den zugehörigen Arbeitsblättern. Ich bin gespannt, was das Mädchen zur fertigen Geschichte und insbesondere dem Abschnitt mit dem Blitzableiter sagt, wenn sie in einigen Monaten zu einem Katamnese-Termin zu mir in die Praxis kommt.
Wenn Sie Kinder oder Jugendliche in Behandlung haben, deren Eltern unter Ängsten leiden, dann schnappen Sie sich unser Buch, setzen sich an einen gemütlichen Platz – in meiner Praxis sitzen die Kids sehr gerne mit mir zusammen auf Kissen auf der Erde, und dem Rücken an der warmen Heizung gelehnt – , und lesen gemeinsam das Buch. Lassen Sie sich Zeit und entdecken Sie gemeinsam die vielen kleinen Details, finden Sie den Blitzableiter, die Spinne, oder erkunden Sie zusammen den dunklen Keller.
Dieses Buch hilft!
Neben dem Blitzableiter finden sich in diesem therapeutischen Kinderfachbuch weitere zahlreiche Tipps, Hinweise und Arbeitsblätter zu den verschiedensten Herausforderungen in der Therapie mit Kindern, deren Eltern unter Ängsten leiden, darunter:
• Gefühlearbeit und der Umgang mit Gefühlen
• »Sticky Family« – Wenn Kinder nichts allein machen dürfen
• Rollentausch – Parentifizierung
• Mut und Übermut
• Umgang mit den Ängsten der Eltern
• Schuldgefühle und Belastungen
Geschwisterkinder nicht vergessen!
In meinen Therapien mit Kindern und Jugendlichen wird meist recht schnell deutlich: Geschwisterkinder sind mehr als nur Bruder oder Schwester. Sie spielen im Leben des Kindes, dass Sie therapeutisch begleiten, oftmals eine zentrale Rolle, sowohl als Unterstützer als auch als Mitbetroffene der Elternängste. Gerade in solchen Familien, in denen ein Elternteil unter einer Angststörung leidet, lohnt es sich aus meiner Erfahrung Geschwisterkinder und deren Perspektive gezielt mit einzubeziehen. Praktisch kann das bedeuten, vielleicht einen gemeinsamen Termin mit dem Kind und seiner Schwester / seinem Bruder zusammen zu vereinbaren. Vielleicht ist es auch hilfreich, die Geschichte von Lulu einmal zusammen zu lesen, um ins Gespräch zu kommen. Erfragen Sie, wie das Geschwisterkind die Situation zu Hause erlebt. So kann ein besseres Verständnis füreinander und für die familiäre Situation entstehen. Thematisieren Sie die Situation der Geschwisterkinder auch gemeinsam mit den Eltern. Behalten Sie dabei auch das Wohl des Geschwisterkindes im Blick, denn möglicherweise benötigt es ebenfalls Unterstützung. Geschwister zu stärken bedeutet immer auch, das gesamte Familiensystem zu stabilisieren. In der therapeutischen Praxis kann es wertvoll sein, solche Gespräche mit passenden Materialien zu vertiefen. Arbeitsblätter oder kleine Übungen geben Kindern (und auch ihren Geschwistern) die Möglichkeit, Gefühle, Sorgen und Probleme auszudrücken, die sie bisher vielleicht noch nicht in Worte fassen können. Auch hierfür bieten die Kinderfachbücher, wie »Lulus Team kickt die Angst ins Aus« einen reichen Fundus an Materialien. Probieren Sie es aus!
Ihre Melanie Gräßer
Die Autorin
Melanie Gräßer, Dipl.-Psych., ist Psychologische Psychotherapeutin mit eigener Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Lippstadt. Sie verfügt über langjährige Berufserfahrung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -pädiatrie. Neben ihrer praktischen Tätigkeit gibt sie seit vielen Jahren Seminare und Supervision im Bereich der Psychotherapieausbildung sowie im Rahmen von Selbsthilfegruppen, zudem ist sie Gutachterin sowie Selbsterfahrungsanleiterin. Sie ist Autorin und Entwicklerin therapeutischer Materialien und Spiele sowie Reihenherausgeberin von »Therapie4Kids«.