»The struggle is still not yet over …« (Freud, 1938 - The only audio recording of Sigmund Freud - YouTube). Mit diesem Zitat beschreibt Sigmund Freud, als Begründer der Psychoanalyse, nicht nur den Kampf um die Psychodynamik im Kontext anderer Therapieverfahren, sondern vor allem die äußeren und inneren Kämpfe, von denen wir Menschen täglich heimgesucht werden.
Das Ziel in der Psychodynamik besteht letztlich nicht nur darin, diese Kämpfe zu mildern oder aufzulösen, sondern frei zu entscheiden, ob sich ein Kämpfen lohnt.
Die Psychoanalyse (altgriechisch »Untersuchung der Seele«), begründet etwa 1899, gilt als eine anthropologische Disziplin, die das menschliche Erleben und Verhalten als das Ergebnis komplexer Interaktionen zwischen bewussten und unbewussten psychischen Prozessen erforscht und therapeutisch behandelt. Sie wird nicht nur als psychologische Theorie betrachtet, sondern auch als Kulturtheorie, psychotherapeutische Behandlungsform und Methode zur Selbsterfahrung. Aus der Psychoanalyse haben sich die verschiedenen psychodynamischen Verfahren entwickelt.
Die Symbolik hinter dem Symptom entschlüsseln
Der Terminus Psychodynamik verweist auf eine spezifische Dynamik im Unbewussten, die darauf abzielt, ein homöostatisches Gleichgewicht zu erhalten, indem sie konflikthafte Wünsche und Bedürfnisse kompromissartig löst und in diesem Prozess Symptome hervorruft. Diese intrapsychischen Konflikte resultieren aus Verdrängungsprozessen, wobei sie dennoch in der Psyche aktiv und wirksam bleiben. Über die Techniken von Klärung, Konfrontation und Deutung soll versucht werden, diese unbewussten Konflikte bewusst zu machen. Es soll also das als kommunikativ verstandene Symptom mit dessen Symbolik entschlüsselt werden.
Den Grundkonflikt verstehen
Die Offenlegung des körperlichen und seelischen Leidens eröffnet die Möglichkeit, etwas über sich zu verstehen und dadurch das Symptom heilen oder mindern zu können. Aus diesem erkenntnisgeleiteten Arbeiten können neue Perspektiven entstehen, um nicht nur einen anderen Umgang, sondern auch ein anderes Gefühl zum Symptom in den Lebensalltag zu integrieren. Ein Beispiel:
Zentrale Aspekte des depressiven Grundkonflikts nach Rudolf
- Mangelnde Verfügbarkeit eines verlässlichen Gegenübers
- Erfahrung des Verlusts als unerträglich
- Auftreten von Ambivalenz
- Bemühung um Objektrückgewinnung und Idealisierung
- Unterdrückung von Aggression
Übertragung und Gegenübertragung als Informationsquelle
Die Werkzeuge von Übertragung und Gegenübertragung dienen dabei als Informationsquelle, welche durch die freie Assoziation und die damit verbundenen offen gehaltenen Räume des nicht-direktiven Verfahrens angestoßen werden soll. Im Kontext von Übertragung zeigen sich Wiederholungen früher Beziehungserfahrungen, die dadurch im therapeutischen Raum sichtbar und bearbeitbar werden. Die Gegenübertragung hingegen beschreibt die eigene Involviertheit im Therapieprozess. Aufgrund dieser auch emotionalen Beteiligung des therapeutischen Gegenübers stellt die Selbsterfahrung ein wichtiges Hilfsmittel dar. Mit Hilfe dieser kann Psychotherapie die Ambiguität (also das Aushalten von Vielheit und Vagheit) fördern und langfristig die Freude an der Arbeit mit der eigenen Geschichte und der unseres Gegenübers erhalten.
Zusammenfassend liegen die besonderen Merkmale des psychodynamischen Ansatzes in der Anerkennung unbewusster Phänomene, einer starken Fokussierung auf zwischenmenschliche Beziehungen und der entsprechenden therapeutischen Haltung. Damit das aber etwas greifbarer und alltagsnaher wird, möchte ich Ihnen das an einem Fallbeispiel veranschaulichen.
Fallvignette
Ein 31-jähriger Patient, Student der Elektrotechnik, sucht eigenmotiviert eine Therapie auf, nachdem sich seine Partnerin nach einer dreimonatigen Beziehung von ihm getrennt habe. Dieses Muster kurzer Partnerschaften mit anschließendem Verlust wiederhole sich bereits zum vierten Mal. Innerhalb der Beziehungen betrachte er sich als stark, aufmerksam und fürsorglich, neige jedoch dazu, seine eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen. Als Single fühle er sich einsam, traurig, antriebslos, energielos und auf sich selbst zurückgeworfen. Das übermäßige Grübeln, die wiederkehrenden Ängste, für immer alleine sein zu müssen, führen zu einem depressiven Rückzug und der Vermeidung von sozialen Situationen (klassifiziert als ICD-10: F43.2).
Biographisch beschreibt der Patient seine Eltern als desinteressiert, den Vater dabei tendenziell als abwesend und die Mutter ambivalent in ihrem Bindungsangebot. Im zwölften Lebensjahr trennten sich die Eltern und es begannen mehrere Umzüge zwischen dem Vater und der Mutter. An beiden Adressen fühlte sich der Patient allerdings unwohl, was zu einem deutlichen schulischen Einbruch führte.
Psychodynamische Ableitungen
Psychodynamisch wird ein Versorgungs- vs. Autarkiekonflikt mit dem Leitaffekt Trauer und Melancholie vermutet. Grundsätzlich kreist dieser Konflikt um das Thema etwas zu bekommen oder im Gegensatz dazu, keiner Versorgung zu bedürfen. Der Patient (im aktiven Modus) präsentiert eine selbstversorgende, anspruchslose, bescheidene Grundhaltung (»Ich brauche nichts von anderen«) mit erheblichem altruistisch-aufopferndem Einsatz für andere (»Ich bin aber immer für andere da«). Dieser scheint auf dem Boden nicht ausreichend beantworteter frühkindlicher Bedürfnisse (Eltern desinteressiert, keine ausreichende Spiegelung, mangelnde Verinnerlichung positiver Introjekte) entstanden zu sein. Die Großmutter konnte vorübergehend diese mangelnde Selbstrepräsentanz kompensieren, allerdings mit der Erwartung an den Patienten eine »passende Frau« zu finden. Die Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen, resultieren aus der Abhängigkeit von der Großmutter als einzigem stabilisierenden Selbstobjekt. Trennungssituationen bedeuten das Nichterfüllen der Ansprüche der Großmutter und einen erneuten drohenden Objektverlust, was aufgrund unsicherer Bindungserfahrungen als existenziell erlebt wird. Der Wunsch nach einer Beziehung und einer eigenen Familie zeigt die Sehnsucht nach grenzenloser Wertschätzung durch ein ideales Objekt. Die Partnerinnen suchen jedoch die Distanz, weil sie keinem Ideal, das nicht ihres ist, entsprechen wollen. Aus den Trennungserfahrungen resultierende aggressive Impulse werden gegen sich selbst gerichtet, da sie die von außen abhängige Selbstrepräsentanz bedrohen.
Offenheit für unerforschte Räume
Der vorliegende Beitrag soll eine schulenübergreifende Offenheit erzeugen und Mut machen, mit freien und symbolischen Räumen umzugehen, um diese gemeinsam mit unseren Patient:innen zu erforschen.
Exklusiver Live-Vortrag
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Die Autorin
Dr. Lena Barth, Psychologische Psychotherapeutin (Tiefenpsychologie), Dozentin und Supervisorin. Zuletzt fachliche Leitung Tiefenpsychologie im Hafencity Institut für Psychotherapie (HIP), Supervisorin für Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (DFT) sowie Psychotherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. Bei Beltz erscheint von ihr im Juli 2024 ein Therapie-Tools-Band zum Thema »Psychodynamische Interventionen«.