Psychotherapie ist kreativ. Traditionell offline und Face-to-Face. Doch nicht alle Therapiesitzungen finden heutzutage vor Ort statt. Hürden bei der Terminorganisation oder der Anreise können genauso ein Grund dafür sein wie eine rollende Krankheitswelle. Aber was ist mit den vielen schönen, kreativen Methoden, wenn man sich am Bildschirm gegenübersitzt? Keine Panik, auch online lassen sich aktivierende, erlebnis- und veränderungsfördernde Interventionen realisieren. Hier kommen vier Impulse, die das illustrieren.
Das begehbare Gemälde
Während einer Videositzung bekommen Sie einen Einblick in die Wohnsituation Ihrer Patient:innen, sind also ein bisschen näher am Alltag dran als in der Praxis. Damit bietet sich die große Chance für unmittelbare Gespräche, die sich mit einer Art »Roomtour« durch die Wohnung kombinieren lassen. Diese unverstellte Nähe zum Alltag lässt sich für eine Intervention nutzen.
Die Grundidee der Intervention: Der vom Gegenüber (frei gewählte) Bildschirmausschnitt ist eine Art begehbares Gemälde, das verändert und gestaltet werden kann, und in dem sich der/die Patient:in selbstbestimmt positionieren darf.
Innerhalb dieser ressourcenorientierten Übung können Patient:innen ein freies Kunstwerk ihrer (vielleicht noch unbewussten) Stärken entstehen lassen. Das mögen Sportoutfits, Musikinstrumente, selbst gemalte Bilder oder symbolische Gegenstände sein – alles Wichtige darf in dem Gemälde seinen Platz finden. Die spannende Suche nach passenden Objekten kann von Ihnen mit interessierten Fragen angeregt und begleitet werden. Auch mit der Nähe (oder Entfernung) zur Kamera darf dabei gespielt werden: Besondere Talente oder wichtige, zeitintensive Hobbys finden vielleicht ihren Platz weiter vorne und nehmen damit mehr Raum auf dem Gemälde ein. Und auch bislang noch Unentdecktes, im Wachstum begriffenes, sich intuitiv Entfaltendes darf seinen Platz finden.
Vielleicht sind bei Ihrem Patienten oder Ihrer Patientin auch Stress und Überlastung im Alltag ein zentrales Thema? Dann können alternativ auch Gegenstände, die für die verschiedenen Alltagstätigkeiten und Verpflichtungen stehen, auf dem Gemälde positioniert und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Was nimmt (zu) viel Raum ein und vielleicht anderen Dingen den Platz weg? Was fühlt sich genau richtig an, was darf kleiner werden oder ganz aus dem Bild verschwinden? Was fehlt auf dem Bild? Welche Emotion kommt beim Anblick der »Gesamtkomposition« auf und wie müsste das Bild aussehen, damit es sich »gut anfühlt«? Und: Welchen Raum kann die Patientin oder der Patient in seinem »Kunstwerk« einnehmen, das eben nur begrenzten Raum bietet?
Wer möchte, kann am Ende der Übung zur Erinnerung einen Screenshot erstellen.
Und Action! Mein Problem als Film
Sicherlich ist Ihnen schon einmal das berühmte Gemälde von René Magritte begegnet, auf dem eine Pfeife zu sehen ist und darunter der Schriftzug »Ceci n’est pas une pipe« – »Dies ist keine Pfeife«. Der gängigsten Interpretation zufolge wollte der Künstler damit zum Ausdruck bringen, dass es sich nicht um eine echte Pfeife, sondern eben nur um ein Abbild derselben handelt. Diese Darstellung eignet sich wunderbar als Gesprächsimpuls über belastende Themen, getreu dem Motto: Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Sichtweise, die wir auf sie haben.
Befinden Sie sich in einer Videositzung, können Sie das Setting selbst für eine vertiefende Übung nutzen. Denn all das, was Ihr:e Patient:in im Gespräch sieht, ist genauso wie das Gemälde mit der Pfeife nur ein Abbild der Wirklichkeit – in dem Fall sogar ein sehr lebendiges! Werden Sie also gemeinsam kreativ und wählen Sie einen Gegenstand in Ihrem Therapieraum aus, der das aktuelle Problem Ihres Patienten bzw. Ihrer Patientin symbolisiert. Und wenn es schnell und einfach gehen soll, tut es auch ein Zettel mit dem Wort »Problem« (oder »Angst«, »Sorgen«, usw.).
Nun führt Ihr:e Patient:in Regie und kann sein/ihr Problem mit Abstand auf dem Bildschirm betrachten und Ihnen Anweisungen geben. Reinzoomen zur näheren Betrachtung? Oder Rauszoomen zur Distanzierung? Das Problem drehen und wenden, um sich »ein Bild zu machen«? Wie viel Raum darf es im Bild einnehmen? Würde er/sie es zurückspulen, wie sähe die Szene aus, in der das Problem erstmals auftrat? Oder lassen Sie Ihre Patient:innen mit den technischen Möglichkeiten des Videodienstes: Was passiert, wenn das Problem auf den Kopf gestellt oder gespiegelt wird?
Das Ganze lässt sich noch weiterspinnen: Wie sollte das Drehbuch aussehen, in dem das Problem sich entfernen lässt und kleiner werden darf? Oder tauchen neue »Darsteller:innen« im Film auf, die das Problem verändern oder lösen können? Welchem Genre würde er oder sie den Film zuordnen: Drama, Horror oder gar Psychothriller? Was müsste sich ändern, damit der Film als Komödie durchgehen könnte? Und schließlich: Was würde geschnitten oder betont werden? Welchen anderen Titel würde das Werk erhalten? Vielleicht kann Ihr:e Patient:in auch eine ganz andere Perspektive fernab von Drehbüchern einnehmen und die Distanz zum dargestellten Bild vertiefen: Wenn es nur ein Film wäre, was braucht er/sie dann zum Abschalten?
Auf der Bühne und hinter den Kulissen
Diese Übung zum Thema Selbstwert und Vergleich mit anderen erhält ihren besonderen Impact durch die begrenzte Perspektive der Kamera. Gestalten Sie hierfür den Sichtbereich Ihres Arbeitsplatzes ordentlich und möglichst frei von Ablenkungen. Außerhalb der Kamerareichweite sorgen Sie für ein bisschen Unordnung, Akten, Bücherstapel, vielleicht etwas Geschirr.
Zur Einleitung können Sie z.B. eine vergangene Aussage aufgreifen: »Wir hatten ja kürzlich darüber gesprochen, dass Sie sich anderen gegenüber immer klein fühlen, und den Eindruck haben, diese führten ein perfektes Leben… Wie kommen Sie eigentlich darauf? Ist das solch ein Eindruck wie hier, wenn Sie sich das anschauen?« Seien Sie offen für die Rückmeldungen, die vielleicht auch verbunden sind mit allgemeinen Aussagen zu Ihrer Person, und validieren Sie diese.
Nun schwenken Sie die Kamera nach links und rechts (wenn das nicht möglich ist, können Sie auch ein Foto aus einer anderen Perspektive über das Videochatprogramm senden). Das Chaos, von dem Ihr Gegenüber bisher nichts geahnt hat, wird sich offenbaren. Was denkt er/sie jetzt über Sie? Hält er/sie Sie immer noch für perfekt? Was bedeutet diese Sichtweise, die Sie offenbart haben?
Ziel sollte es sein, zu erkennen, dass wir oft unfaire Vergleiche anstellen: Wir stellen all das, was wir über uns selbst wissen, dem gegenüber, was andere uns von sich zeigen möchten. Genau wie wir Schwächen und Misserfolge vor anderen verbergen, tun diese das auch vor uns. Vergleichen wir nun das, was bei uns »hinter den Kulissen« geschieht, mit dem, was andere »auf der Bühne«, also nach außen, zeigen, fühlen wir uns oft unweigerlich klein.
Noch nie war Abschalten so einfach!
Ob abendliches Grübeln oder selbstabwertende Gedanken – viele Patient:innen berichten davon, dass sich diese immer wieder aufdrängen und sie einfach nicht wissen, wie sie sich davon befreien können. Energieraubende Versuche, diese (erfolglos) zu unterdrücken, sind oft die Folge. Genau hier setzt die metakognitive Therapie an: Wieso sich mit Gedanken beschäftigen, deren Inhalte ebenso vertraut sind wie deren destabilisierende Wirkung? Im Fokus der Intervention stehen also nicht die Gedanken an sich, sondern das »Denken über das Denken«. Hier bietet sich ein Rollenspiel der besonderen Art an. Vorab sollten Sie sich mit den Inhalten der intrusiven Gedanken Ihres Patienten/Ihrer Patientin/ vertraut gemacht haben. Fragen Sie nun, ob Sie Ihr Gegenüber »zu einem kleinen Experiment einladen dürfen«. Er/Sie möge sich vorstellen, die Gedanken seien wie ein Film, der jetzt gerade auf dem Bildschirm abläuft. Als Therapeut:in sind Sie der/die Hauptdarsteller:in und verbalisieren nun (auf humorvolle Art) diese Gedanken. Beginnen können Sie in etwa so:
»Herzlich willkommen im falschen Film! Heute geht es volle drei Stunden nur um Ihre Selbstwertprobleme! Seien Sie live dabei, wie ich Sie genüsslich niedermache und dabei nichts auslasse! Ihr Äußeres, Ihre größten Misserfolge und Ihr mieser Charakter, alles wird Platz in diesem großartigen Film finden!«
Im Verlauf Ihrer Erzählungen können Sie immer wieder Hinweise darauf geben, dass Ihr Gegenüber nicht gezwungen ist, diesen langweiligen Film zu schauen, der nur schlechte Laune verbreitet, z.B. so:
»Ich weiß, das haben Sie schon tausend Mal gehört. Aber hey, Sie haben den Film doch nicht ohne Grund eingeschaltet, oder? Und es sind gerade mal drei von 180 Minuten herum, wer würde denn da einfach leiser machen oder gar den Film ausschalten…«
Das Ziel sollte das Erkennen sein, dass niemand seinen Gedanken hilflos ausgeliefert ist. Man kann zwar nicht verhindern, dass diese auftauchen, aber selbst entscheiden, wie viel Macht man ihnen gibt. Ein Videocall eignet sich perfekt, um diesen Ansatz technisch umzusetzen: Man kann den Lautsprecher leiser drehen, das Gegenüber stummschalten, den Platz vor dem Bildschirm oder sogar die gesamte Sitzung verlassen. In dem Fall sollte natürlich vorab sichergestellt sein, dass ein erneutes Einwählen problemlos möglich ist.
Haben Sie Lust bekommen, selbst online kreativ zu werden? Dann checken Sie doch mal die Funktionen Ihres Videodienstanbieters und lassen Sie sich inspirieren! Ich wünsche Ihnen viel Freude dabei!
Die Autorin
Dr. Felicitas Bergmann, Dipl.-Päd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT) mit eigener Praxis in Essen. Bei Beltz hat sie das Fachbuch »Verhaltenstherapie bei jungen Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Menschen mit Lern- und geistigen Behinderungen gut therapieren« sowie das Kartenset »Kreatives Problemlösen mit Jugendlichen. 75 Therapiekarten« publiziert.