Selbstfürsorge als Schlüssel: Psychotherapeutische Methoden für bewusste Frauen

Durch kulturelle, gesellschaftliche und familiäre Prägungen lernen Mädchen und Frauen Erwartungen anderer zu erfüllen und eigene Bedürfnisse hinten anzustellen. Sie finden sich nicht selten zerrissen zwischen beruflichen, familiären und persönlichen Ansprüchen. Die von außen kommenden Botschaften betreffen unterschiedliche Themen. Sie lauten: Pass dich an! Sei erfolgreich, aber zeige deine Kompetenzen nicht so nach außen! Sei dünn und immer attraktiv! Wut ist nicht erlaubt! Erst die anderen, dann du! Diese Ansprüche wandern meist unbewusst von außen nach innen und wirken als einschränkende Stimmen im Inneren weiter. Doch es gibt viele wirksame psychotherapeutische Methoden, die Frauen stärken. Sie helfen dabei, einengende Erwartungen zu entkräften und selbstbestimmt zu leben.

5 psychotherapeutische Übungen für Frauen

In meiner langjährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin und Achtsamkeitslehrerin habe ich mir einen wirksamen Werkzeugkoffer für Frauen zusammengestellt. Die Methoden haben sich beim Thema Essstörungen, aber auch bei Frauen, die unter Ängsten, Depressionen und Erschöpfung leiden, bewährt.

1. Die Arbeit mit dem Genogramm

Die wichtigen familiären Personen und Beziehungen werden auf einem großen Flipchart sichtbar gemacht. Folgende Fragen sind dafür sehr hilfreich: Welche Botschaften hat mir welche Person mit auf den Weg gegeben? Wie sahen und sehen die Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit in der Familie aus? Welche Erwartungen gab und gibt es? Was schränkt mich ein? Was fördert mich?

2. Vorbilder und Mentor:innen finden 

Es fehlt in vielen Bereichen immer noch an weiblichen Vorbildern und unterstützenden Personen, die das Potenzial von Mädchen und Frauen sehen. Durch Schreib- und Reflexionsübungen werden diese stärkenden Menschen sichtbar und fühlbar. Inspirierende Fragen sind: Wer hat Ihr Potenzial gesehen? Wem wollten Sie nacheifern?

3. Selbstfürsorge erkunden und stärken

Viele Frauen sind daran gewöhnt, ihre Zeit und Energie für andere zu geben. Oft sind sie aber nicht gut geübt darin, sich selbst das zu geben, was sie brauchen oder von anderen etwas zu nehmen. Achtsamkeitsübungen und Vereinbarungen über klare Zeiten und Strukturen für Selbstfürsorge sind sehr hilfreich. Dabei gilt es auch, das ständige schlechte Gewissen kennenzulernen und zu entkräften.

4. Die Dirigentin der inneren Vielstimmigkeit werden

Die Arbeit mit der inneren Vielstimmigkeit ist aus der Psychotherapie mit Frauen nicht mehr wegzudenken. Dabei erkunde ich kreativ mit jeder Frau, wie das eigene, individuelle innere Orchester aussieht. Einzelne Stimmen werden identifiziert und ihre Botschaften hörbar gemacht. Die innere Kritikerin sieht alles durch eine defizitäre Brille und vermittelt: »Das ist nicht gut gelaufen«, die innere Perfektionistin meint: »Alles muss 150%-ig sein«, die innere Genießerin meint dagegen: »Achte auf dich und mach es dir schön«. Durch Reflexion, Körper- und Achtsamkeitsübungen lässt sich eine innere Dirigentin etablieren, die Stimmen begrenzen oder ermutigen kann. Die Frau wird dadurch zur Leiterin der eigenen Vielstimmigkeit und kann auch nach außen klarer kommunizieren.

5. Grenzen ziehen und Erwartungen enttäuschen

Durch Rollenspiele, Körperübungen und Schreibübungen lernen Frauen, Grenzen zu setzen. Sie üben sich darin, »Nein« zu sagen, aber auch klar zu äußern, was sie wollen. Dabei entscheiden sie, welche Erwartungen sie erfüllen möchten und welche Ansprüche sie zurückweisen.

Ein Beispiel aus der Praxis – Selbstfürsorge individuell entdecken

Natürlich ist die Psychotherapie immer ein individueller Prozess. Die Übungen werden in Abstimmung mit der jeweiligen Frau ausgesucht und passend gemacht.

Hierzu ein Beispiel: Die 34-jährige Laura* kommt völlig erschöpft in meine Praxis. Sie hat eine Freundin durch eine schwere Krankheit begleitet und kümmert sich auch stark um die eigenen Eltern und ihre psychisch kranke Schwester. Es ist einfach alles zu viel geworden. Laura hat psychosomatische Beschwerden, schläft schlecht, weint viel und hat ihren Antrieb verloren. Obwohl sie allen anderen Auszeiten gewährt, fällt es ihr schwer, sich krankschreiben zu lassen. Sie will ihr Team und ihre Familie nicht im Stich lassen. Ein schlechtes Gewissen ist ihr ständiger Begleiter.

Bevor wir das Genogramm machen können, braucht es erstmal eine Entlastung durch eine kürzere Auszeit. Wir beziehen kürzere Achtsamkeitsmethoden und leichte Yogaübungen in die Therapie mit ein. Die Klientin kann in der Folge wieder besser schlafen. Erst dann schauen wir uns gemeinsam die Familienstruktur und die Botschaften an, die Laura seit ihrer Kindheit erhält: Kümmere dich um mich! Nimm Rücksicht! Sei stark!

Als ich der Klientin mein inneres Bild anbiete, dass sie wie eine Superwoman als Retterin umherhetzt, beginnt sie zu weinen. Es wird deutlich, dass Laura nicht lernen konnte, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und diese nach außen deutlich zu machen. Ihre Großmutter und auch ihre Mutter sind zwar Vorbilder an Kraft und Energie, aber Selbstfürsorge konnte sie sich von ihnen nicht abgucken. Es gibt aber Freundinnen, die wirklich für Laura da sind und auch Grenzsetzungen verstehen. Außerdem ist Laura sich selbst eine Mentorin, sie möchte wieder die Lebensfreude und Energie haben, die sie auch von sich kennt. Langsam kommt ihr Humor zurück. Sie beginnt wieder mehr Sport zu machen, verbringt auch mal einen Tag zu Hause und ruht sich aus.

Zentral in der Arbeit mit Laura ist das Identifizieren der inneren Stimmen. Sie lernt, die Verantwortungsvolle, die es allen anderen recht macht, zu begrenzen und die inneren verletzlichen Stimmen zu hören und zu versorgen. Laura etabliert eine innere Dirigentin, die klar und freundlich die selbstfürsorgende Stimme stärkt. Endlich lernt sie, »nein« zu sagen. In der Psychotherapie üben wir in Rollenspielen, wie es sich anfühlt, Erwartungen von anderen zurückzuweisen und Grenzen zu setzen. Laura hat sich psychisch und körperlich stabilisiert und hat ihre Lebensfreude wiedergefunden.
*Name wurde von der Autorin geändert.

Mein Fazit: Stärke finden durch neue Glaubenssätze

Die Arbeit mit dem Genogramm und der inneren Vielstimmigkeit sind wertvolle Werkzeuge in der Psychotherapie mit Frauen. Es gelingt dadurch, einengende Glaubenssätze zu erkennen und zu wandeln oder abzustreifen. Grenzsetzungen werden endlich möglich. Die Suche nach stärkenden Vorbildern und Mentorinnen fördert Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit. Achtsamkeitsübungen helfen, die Selbstfürsorge ernst zu nehmen. Die Auswahl und die Kombination der Übungen erfolgt gemeinsam und orientiert sich jeweils an den Wünschen, Zielen und Lebensrealitäten der Frauen.

Exklusiver Live-Vortrag

Erleben Sie Dipl.-Psych. Ulrike Juchmann am 7.12.2023 in einem exklusiven Online-Vortrag zum Thema »Raus aus einengenden Mustern: Therapeutische Techniken, die Frauen stärken« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!

Die Autorin


Ulrike Juchmann arbeitet als systemische Psychotherapeutin, Verhaltenstherapeutin und MBSR/MBCT Senior Teacher in Berlin in eigener Praxis. Seit 25 Jahren unterstützt sie Frauen in Therapie, Coaching und mit Seminaren selbstbewusst einen eigenen Weg zu gehen. Sie arbeitet für verschiedene Ausbildungsinstitute, schreibt Sach- und Fachbücher und entwirft didaktische Materialien. Bei Beltz hat sie »Sei du selbst, alle anderen gibt es schon. Wie Frauen Erwartungen abstreifen und befreiter leben« veröffentlicht.

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