Nicht selten assoziieren Behandler:innen selbstverletzendes Verhalten unweigerlich mit Suizidalität oder dem Vorliegen einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Daher erscheint die Behandlung dieser Patient:innen möglicherweise unattraktiv, aus Sorge, mit gehäuften Notfällen oder suizidalen Krisen konfrontiert zu werden. Zwar besteht ein Zusammenhang zu den beschriebenen Störungsbildern, jedoch bedeutet selbstverletzendes Verhalten nicht das sichere Vorliegen von Suizidalität oder einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Vielmehr tritt das selbstverletzende Verhalten auch vor dem Hintergrund völlig anderer Störungen oder sogar ganz ohne weitere Diagnose auf.
Die eigene Haltung
Trotz der guten Behandelbarkeit zeigen viele professionelle Helfer:innen Vorbehalte gegenüber dem Verhalten. Insbesondere häufig wiederkehrende Selbstverletzungen im Therapieprozess erscheinen müßig und führen möglicherweise zu Gefühlen, wie Ohnmacht oder gar Wut. Um sich empathisch auf Patient:innen einzuschwingen, kann der folgende Gedanke hilfreich sein: „Niemand verhält sich unlogisch.“ Wenn uns Verhaltensweisen unserer Patient:innen nicht nachvollziehbar erscheinen, so haben wir nur noch nicht verstanden, was hinter dem Verhalten steckt. Es ist also an uns, das zugrundeliegende Motiv aufzudecken. Sobald wir verstehen, warum sich unser Gegenüber so verhält, fällt es uns viel leichter, uns wieder empathisch zu verhalten. Dafür ist es hilfreich, die Funktionalität hinter dem selbstverletzenden Verhalten zu kennen. Die wichtigsten Funktionen nach Klonsky (2007) finden Sie nachfolgend:
- Affektregulation: Hierbei geht es um die Reduktion negativer Affekte. Kurzfristig zeigt sich das selbstverletzende Verhalten diesbezüglich hilfreich, langfristig verstärkt es negative Affekte jedoch.
- Antidissoziativer Effekt: Beendigung von dissoziativen Zuständen und Depersonalisationserleben durch selbstverletzendes Verhalten. Insbesondere vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen oder emotional-instabiler Symptomatik relevant.
- Antisuizidaler Effekt: Durchbrechen suizidaler Gedanken bzw. Impulse mithilfe selbstverletzenden Verhaltens. Mit selbstverletzendem Verhalten ist meist nicht die Intention verbunden, den eigenen Tod herbeizuführen.
- Interpersonelle Beziehungen: Soziale Abgrenzung bzw. soziale Integration durch selbstverletzendes Verhalten.
- Interpersonelle Beeinflussung: Möglichkeit zur Kommunikation mit anderen durch das selbstverletzende Verhalten.
- Selbstbestrafung: Ausdruck von Wut gegen sich selbst mittels selbstverletzender Verhaltensweisen.
- Sensation Seeking: Generierung positiver Affekte im Sinne eines Kicks durch selbstverletzendes Verhalten.
Das Vorgehen
Eine wichtige Grundlage in der konkreten Behandlung stellt die klare und unemotionale Kommunikation dar. Fragen Sie explizit nach. Vermeiden Sie eine Tabuisierung des Themas. Alleine dieses Vorgehen führt bereits zu einer deutlichen Entlastung der Betroffenen.
Eruieren Sie das Verhalten mit Hilfe von Anamnesebögen genau. Es geht darum, die Funktionalität des Verhaltens zu verstehen. Am häufigsten dient das selbstverletzende Verhalten der Emotionsregulation. Daher sollte in der Behandlung ein Augenmerk auf die Etablierung funktionaler Emotionsregulationsstrategien gelegt werden.
Notfallplan & Verhaltensanalyse
Diese zwei wichtigen therapeutischen Instrumente sollten Bestandteil jeder Behandlung selbstverletzenden Verhaltens sein. Führen Sie beides direkt zu Beginn der Therapie ein.
Beim Notfallplan gilt es, diesen gemeinsam mit Patient:innen zu bearbeiten, sodass im Falle einer Krise klar ist, was zu tun ist. Im letzten Schritt sollte der Anruf bei der jeweils zuständigen Klinik stehen. Notieren Sie hier ebenfalls die entsprechende Telefonnummer oder lassen Sie Ihre Patient:innen diese direkt in ihr Handy speichern.
Für die Verhaltensanalyse gilt, die Bearbeitung so lange zu begleiten, bis sich Patient:innen hierin sicher fühlen. Anschließend fertigen Betroffene die Verhaltensanalyse bei jeder Selbstverletzung selbständig an und bringen diese in die kommende Therapiestunde zur Besprechung mit.
Commitment
Das selbstverletzende Verhalten stellt ein sehr potentes Mittel in der (kurzfristigen) Regulation von Emotionen bei Betroffenen dar. Daher zeigen sich viele Patient:innen zunächst ambivalent hinsichtlich der Behandlung des Verhaltens. Der Einsatz von Commitment-Strategien ist demnach unabdingbar. Die wichtigsten Strategien finden Sie nachstehend:
- Betonen der freien Wahlmöglichkeit: Betonung, dass die Entscheidung bei Patient:innen liegt und nicht im Außen, die Konsequenzen der jeweiligen Entscheidung werden besprochen.
- Erinnern an frühere Zustimmung: Um die Motivation zu fördern, sollten Sie Ihre Patient:innen an anfängliche Absprachen und Zielvereinbarungen erinnern.
- Pro & Kontra: Wägen Sie gemeinsam mit Ihren Patient:innen die Konsequenzen einer Entscheidung bzw. eines Verhaltens hinsichtlich der kurz- und langfristigen Aspekte ab.
- Cheerleading: Feuern Sie Ihre Patient:innen an und zeigen Sie diesen somit, dass Sie Ihnen eine Veränderung zutrauen.
- Fuß in der Tür: Auf eine kleine Anforderung folgt eine größere.
- Tür ins Gesicht: Eine sehr hohe Anforderung wird gestellt, um sie dann zu verringern.
- Advocatus Diaboli: Sie argumentieren paradox, also für das selbstverletzende Verhalten, was Patient:innen nicht erwarten. Somit ist es diesen möglich, die gegenteilige Haltung zu vertreten. Wichtiger Hinweis: Dies funktioniert nur, wenn der/die Patient:in bereits eine gewisse Veränderungsmotivation aufweist.
Bitte beachten Sie, dass Commitment nichts Statisches ist, das einmalig hergestellt wird. Insbesondere bei Betroffenen von selbstverletzendem Verhalten schwankt dieses im Verlauf und muss immer wieder auf den Prüfstand gestellt und erneuert werden. Somit können Sie die aufgeführten Strategien flexibel und wiederholt einsetzen.
Emotionsregulation
Das selbstverletzende Verhalten stellt eine dysfunktionale Emotionsregulationsstrategie dar, weshalb im Rahmen der Behandlung funktionale Ansätze etabliert werden sollten. Zunächst geht es jedoch darum, einzelne Emotionen überhaupt zu identifizieren. Betroffene berichten nämlich häufig von einem Gefühl der Anspannung und sind oft nicht in der Lage, einzelne Emotionen zu benennen. Die Etablierung eines geeigneten Emotionsvokabulars erscheint somit wichtig, um im Folgenden bestimmte Gefühle bearbeiten zu können. Die Forschung zeigt, dass insbesondere die Thematisierung der beiden Emotionen Scham und Schuld eine wichtige Rolle spielt. Bei diesen und weiteren aversiv erlebten Emotionen, geht es im Weiteren u.a. darum, diese durch entgegengesetztes Verhalten abzuschwächen. Diese Abschwächung kann auf folgenden Ebenen stattfinden:
- Entgegengesetztes Handeln: Hierbei geht es darum, entgegen der vorherrschenden Emotion zu handeln. Bei Angst wird die angstauslösende Situation aufgesucht und nicht vermieden.
- Entgegengesetztes Denken: Patient:innen werden angeleitet, an Situationen zu denken, die sie erfolgreich gemeistert haben und somit der vorherrschenden Emotion widersprechen.
- Entgegengesetzte Körperhaltung: Der Körper wird in eine Lage gebracht, die entgegen des emotionalen Impulses steht. Bei Angst also in eine aufrechte Haltung, anstatt sich zu ducken oder zu verstecken.
Gut zu wissen
Das selbstverletzende Verhalten beginnt häufig im Jugendalter, erreicht um das 15. Lebensjahr einen ersten Höhepunkt und nimmt mit zunehmendem Alter wieder ab. Das bedeutet aber nicht, dass das Verhalten ohne Behandlung spontan remittiert, sondern dass mit voranschreitendem Alter häufig Zugang zu weiteren (dysfunktionalen) Emotionsregulationsstrategien, wie dem Konsum von Alkohol oder Drogen entsteht. Diesen möglicherweise auftretenden Symptom Shift sollten Sie unbedingt berücksichtigen und bei Verdacht genau explorieren.
Und zu guter Letzt: Denken Sie auch an sich. Die Arbeit mit Betroffenen von selbstverletzendem Verhalten kann unter Umständen anstrengend und zehrend sein. Holen Sie sich daher immer wieder Unterstützung z.B. im Rahmen von Interventionszirkeln und tauschen sich aus.
Die Autorin
Dr. Alexandra Edinger, M.Sc., ist Anleitende Psychotherapeutin an der Heidelberger Akademie für Psychotherapie. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und DBT-A-Therapeutin. Außerdem ist sie Autorin des Therapie-Tools-Bandes Selbstverletzendes Verhalten, erschienen 2025 bei Beltz.