Visualisieren, Verstehen, Verändern: Das Systembrett in der psychotherapeutischen Praxis

In der systemischen Arbeit können Familienkonstellationen auf einem Brett, dem sogenannten Systembrett, vergleichbar mit einem Schachbrett, aufgestellt und visuell sichtbar gemacht werden. Kurt Ludewig entwickelte 1978 das Systembrett als Instrument für die Systemische Familientherapie. Seitdem wird dieses Instrument vielseitig in den verschiedensten Therapieansätzen angewandt.

Es ist ein kreatives und anschauliches Instrument, das sich für eine Vielzahl von Fragestellungen eignet. Durch das Aufstellen und die Auswahl der Figuren, ihre Anordnung und Blickrichtung bilden die Patient:innen intrapsychische Prozesse wie Nähe, Distanz, Beziehungsgeflechte, Verstrickungen und Hierarchien ab. Diese Externalisierung ermöglicht die Sichtbarmachung von sonst Unsichtbarem und eröffnet eine Metaperspektive, um Prozesse aktiv anzugehen.

Das Spannende dabei ist die Interaktivität: Das aufgestellte Bild kann aktiv verändert, Zukunftsvisionen entwickelt werden. Dadurch verändert sich nicht nur die äußere Darstellung, sondern auch die innere Wahrnehmung und Haltung der Patient:innen zu ihrem Problem. Gleichzeitig hilft die begrenzte Größe des Aufstellungsbretts, das aktuelle Problem, Konflikte oder schwierige Konstellationen zu verkleinern, setzt sie in einen Rahmen und erleichtert so das »Hinschauen« und die Lösungsfindung für die Patient:innen. Die Wirkung einer solchen bildhaften Aufstellung kann aber umgekehrt auch rationalen, eher »verkopften« Patient:innen den Zugang zu ihren Emotionen ermöglichen: Beispielsweise können Trauerreaktionen zugelassen, Einsamkeit erstmals bewusst gespürt werden. Die visuelle Darstellung der eigenen Beziehungsgeflechte geht dabei über die rein sprachlichen Beschreibungen hinaus, die in der herkömmlichen Therapie verwendet werden. Das Systembrett wird somit zu einem lebendigen Werkzeug, mit dem komplexe soziale Gefüge und emotionale Prozesse jenseits von Worten erforscht und verstanden werden können. Doch wie wird es konkret angewendet?

Mit dem Systembrett Familiengefüge in Szene setzen

(Leseprobe aus: Borg-Laufs ∙ Breithaupt-Peters ∙ Jankowski: Therapie-Tools Bindung und Bindungsstörungen. Beltz, 2021)

Das System- oder Familienbrett kann sowohl in der Diagnostikphase als auch im Verlauf der Therapie eingesetzt werden. Es stellt ein szenisches Verfahren dar: Dafür werden ein Brett (etwa so groß wie ein Schachbrett) und Figuren (in unterschiedlichen Formen, Farben, Größen usw., möglich sind z.B. Playmobil®-Figuren oder Schleich®-Tiere o.Ä.) benötigt. Auf dem Brett werden alle relevanten Personen aus dem sozialen System platziert, mit dem Fokus darauf, in welcher Beziehung die einzelnen Familienmitglieder zueinander stehen. Dabei spielen

  • die Entfernung zwischen den Figuren,
  • die Blickrichtung der jeweiligen Figuren,
  • die allgemeine Platzierung auf dem Brett (eher am Rand oder eher mittig),
  • die Größe und Form der ausgewählten Figuren und
  • die gestalterische Anordnung der Figuren bzw. der Personen eine wichtige Rolle.

Über dieses Medium können Kinder, Eltern und Familien innerhalb kurzer Zeit zu einer szenischen Abbildung ihrer Familie gelangen. Es gibt zudem die Möglichkeit, neben den Familienmitgliedern auch Problemverhalten, Erkrankungen, Gefühle usw. als eigene Systemelemente auf dem Brett zu platzieren. Mithilfe dieser Methode können die Beziehungen innerhalb der Familie visualisiert werden. Darüber erhalten dann sowohl die Familie als auch die Therapeut:innen Informationen, wie es den einzelnen Familienmitgliedern möglicherweise im Zusammenleben ergehen mag.

Familiensysteme lassen sich für unterschiedliche Situationen und Zeitpunkte aufstellen. So können z.B. auch gewünschte Zielvorstellungen und Lösungsbilder dargestellt werden. Eine Möglichkeit wäre, dass jedes Familienmitglied zum Finden alternativer Lösungsmöglichkeiten nur die eigene Figur – nicht aber die der anderen – hinsichtlich Position, Blickrichtung usw. verändern darf. Insbesondere bei Eltern mit psychischer Erkrankung kann das Herstellen, Wahrnehmen und Einhalten von Grenzen ein häufig wiederkehrendes Thema darstellen: Im Zusammenhang mit Bindungs- und Beziehungsschwierigkeiten zwischen Eltern und ihren Kindern geht es dann insbesondere um die Achtung der körperlichen und psychischen Grenzen der Kinder.

Mithilfe des Familienbrettes lassen sich Grenzen symbolisch aufstellen und untersuchen. Leitfragen können sein:

  • »Wer darf mir wie nah kommen?»
  • »Wie nah möchte ich welchem Mitglied meines Systems kommen?«
  • »Wie wahre ich meine Grenzen? Wo gelingt dies gut, wo weniger gut?«
  • »Wann achte, wann missachte ich die Grenzen anderer, insbesondere die meiner Kinder? Wie können sie mir dies signalisieren und was werde ich tun, wenn ich ein solches Signal erhalte?«

Online-Therapiesitzungen: Das Systembrett auf psychotherapie.tools

Spätestens seit der Corona-Pandemie machen sich auch psychotherapeutische Praxen den digitalen Fortschritt zunutze: Online-Sprechstunden werden immer häufiger eingesetzt und eröffnen eine Vielzahl von Möglichkeiten, die nicht nur den Bedürfnissen der Patient:innen entgegenkommen, sondern auch die zeitliche Flexibilität und regionale Zugänglichkeit zur Therapie entscheidend verbessern. Aber lassen sich auch so klassische und wichtige therapeutische Interventionen und diagnostische Instrumente wie die Nutzung eines Systembretts in die digitale Welt übertragen?

Mittlerweile gibt es einige Online-Systembretter in Form von virtuellen Plattformen, in denen Systeme, Beziehungsgeflechte und komplexe Konstellationen visuell dargestellt werden können. Ein großer Vorteil des Online-Systembretts ist dabei die Möglichkeit, dass es von Patient:innen von überall aus genutzt werden kann. Verschiedene Farbcodierungen und interaktive Elemente ermöglichen eine individuelle Gestaltung des Systembretts. Elemente können schnell hinzugefügt, in Größe und Blickrichtung verändert, verschoben oder gelöscht werden – genau wie bei einem klassischen Systembrett in einer Face-to-Face-Sitzung in der Praxis. Möchten Sie sich selbst einen Eindruck verschaffen?
Auf psychotherapie.tools können Sie kostenfrei ein Online-Systembrett nutzen und jederzeit in Ihrer Online-Sprechstunde einsetzen. Probieren Sie es einfach einmal aus: Zum Systembrett

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