Von der Zeichnung zur Erkenntnis: Das Squiggle-Verfahren als kreative Intervention

Nonverbale Therapieformen finden in letzter Zeit vermehrt Einzug in die Behandlung psychischer Erkrankungen und erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Das, was die therapeutische Arbeit mit Kunst, Musik, Theater oder Tanz so besonders macht, ist die Fähigkeit, dass Gleichzeitigkeiten abgebildet, innere Bilder sichtbar gemacht und ein Ausdruck für Unbewusstes gefunden werden können. Zugleich kann das Tun eine entspannende Wirkung entfalten und das Gefühl von Selbstwirksamkeit bei Klient:innen unterstützen. Außerdem hat es einen hohen symbolischen Charakter.

Da sich dahinter jedoch mehr als ein bloßes Papier-und-Farben-zur-Verfügung-Stellen verbirgt, beleuchten wir die Kunsttherapie im Folgenden näher.

Was ist Kunsttherapie?

Kunsttherapie ist ein eigenständiges psychotherapeutisches Verfahren, das schöpferisches Gestalten von künstlerischen Produkten zur Linderung von Beschwerden und zur Verbesserung der Ausgangssituation einsetzt. Sie kann dabei helfen, einen bildhaften oder objekthaften Ausdruck für persönliche, oft innere Themen zu finden, die (noch) nicht in Worte gefasst werden können. Dabei kann es sich um Konflikte, Wünsche und Hoffnungen, Erfahrungen, Erlebnisse, aber auch um Gefühle handeln. Belastendes bis Traumatisches kann sichtbar gemacht und im therapeutischen Rahmen bezeugt werden; Ambivalenzen dürfen angeschaut und bearbeitet werden.

Alles kann künstlerisch ausgedrückt werden, was bewusst oder unbewusst bewegt und bearbeitet oder integriert werden will oder einen Leidensdruck auslöst.
Diese Dinge müssen dabei gar nicht groß sein, manchmal kann es einfach hilfreich und lösend sein, eigene Themen in einem anderen Licht oder in einem Symbol zu sehen.
In der Kunsttherapie hat man dafür eine Auswahl an künstlerischen Materialien und eine förderliche Umgebung zur Verfügung.

Die Therapie findet in einem sicheren, klar umrissenen Setting im Einzel aber auch in der Gruppe, themenfokussiert, angeleitet oder wie bei uns nondirektiv – das heißt mit dem Fokus auf dem freien, kreativen Schöpfungsprozess – statt. Begleitet wird man durch eine:n Kunsttherapeut:in, die oder der psychische und kreative Prozesse, die während der künstlerischen Arbeit stattfinden, kennt, und Klient:innen dabei unterstützt, diese zu verstehen. Auch einfache Hilfestellungen bei der praktischen Arbeit sind notwendige und wertvolle therapeutische Interventionen von Kunsttherapeut:innen.

Nicht nur dem Ergebnis, sondern ganz allgemein dem gestalterischen, kreativen Prozess werden heilende bzw. hilfreiche Kräfte zugesprochen. Dabei bedarf es keinem besonderen Talent. Die Fähigkeit zur Symbolbildung steckt in jedem Menschen.

Interdisziplinäres Arbeiten – eine Chance

Insbesondere in der interdisziplinären Zusammenarbeit kann es wichtig sein, über die Wirkmechanismen und Möglichkeiten von Kunsttherapie Bescheid zu wissen, um sie gezielt als Unterstützung hinzuziehen zu können.
Denn in der psychosomatischen und psychotherapeutischen Versorgung ist interdisziplinäres Arbeiten essenziell für eine ganzheitliche Behandlung. Ärzt:innen, Psychotherapeut:innen, Pflegekräfte, Kunst-, Musik- und Bewegungstherapeut:innen sowie Sozialarbeiter:innen bringen unterschiedliche Perspektiven ein und ergänzen sich in ihrer Expertise. Dadurch entsteht eine Versorgung, die weit über die reine Symptombehandlung hinausgeht.
Gerade die Kunsttherapie zeigt, welchen wertvollen Beitrag kreative Prozesse in diesem Zusammenspiel leisten können. Wo Worte an ihre Grenzen stoßen, ermöglichen Farben, Formen und schöpferisches Gestalten einen einzigartigen Zugang zu inneren Erlebenswelten. Im interdisziplinären Kontext eröffnet die Kunsttherapie damit nicht nur neue Ausdrucksmöglichkeiten, sondern auch tiefere Verständnisebenen für psychische und körperliche Prozesse.

Diese Therapieform ergänzt medizinische und psychotherapeutische aber auch heilpädagogische Ansätze, indem sie ressourcenorientiert arbeitet, nonverbale Prozesse aktiviert und kreative Selbstwirksamkeit stärkt. Besonders in der Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen entfaltet sich ihr volles Potenzial: Sie hilft dabei, belastende Erfahrungen zu integrieren, emotionale Blockaden zu lösen und das subjektive Erleben sichtbar zu machen.

Das interdisziplinäre Arbeiten schafft einen Raum, in dem Klient:innen nicht nur behandelt, sondern als ganze Menschen wahrgenommen werden. Die Kunsttherapie trägt dazu bei, Brücken zwischen Körper, Geist und Emotionen zu bauen – und genau hier liegt ihr unschätzbarer Wert in der multiprofessionellen Versorgung.

Wie können kunsttherapeutische Interventionen in Ihrer Praxis Einzug halten?

Um kunsttherapeutisch arbeiten zu können, benötigt es einer kunsttherapeutischen, qualifizierten Ausbildung. Gleichzeitig können einzelne Elemente unter bestimmten Voraussetzungen gezielt eingesetzt werden, um z.B. in der Diagnostik, im Kinder- und Jugendbereich oder im Hinblick auf eine Weiterbehandlung Fortschritte zu erzielen.

Das Squiggle als Intervention

Eine konkrete Intervention, die als diagnostisches Mittel eingesetzt werden kann, ist das sogenannte Squiggle nach D.W. Winnicott (englischer Kinderarzt und Psychoanalytiker, 1896–1971). Das Squiggle-Verfahren ist eine kreative projektive Technik, die Therapeut:innen nutzen können, um den therapeutischen Prozess auf spielerische Weise zu unterstützen. Ziel dieser Methode ist es, den Zugang zur inneren Erlebniswelt von Klient:innen zu erleichtern, den Beziehungsaufbau zu fördern und Hemmungen wie Erwartungsängste oder Leistungsdruck zu mildern. Zudem trägt das Verfahren dazu bei, Abwehrmechanismen aufzulockern, unbewusstes Material zugänglich zu machen und die Fantasie anzuregen. Gleichzeitig bietet es wertvolle Einblicke in projektive Prozesse und diagnostische Aspekte.

In der praktischen Anwendung wird zunächst mit einem Stift – entweder durch die oder den Therapeut:in, den oder die Klient:in oder gemeinsam – ein spontaner zufälliger, abstrakter Schnörkel auf ein Blatt Papier gesetzt. Dies kann mit offenen oder geschlossenen Augen geschehen. Anschließend wird die entstandene Linie betrachtet und weiter gestaltet, sodass daraus eine erkennbare Form oder ein Motiv entsteht. Je nach therapeutischer Zielsetzung kann dies entweder von dem/der Klient:in oder dem/der Therapeut:in übernommen werden. Variationen, wie ein abwechselndes Gestalten oder das Übertragen der Idee auf ein separates Blatt, ermöglichen zusätzliche Differenzierungen im therapeutischen Prozess.
Ein herausfordernder Aspekt dieser Technik besteht darin, dass Therapeut:innen sich stärker in den kreativen Prozess einbringen und als Person – ggf. auch mit ihren künstlerischen Fähigkeiten – sichtbarer für die Klient:innen werden. Dies kann neue Dynamiken in der therapeutischen Beziehung eröffnen, erfordert aber eine bewusste Reflexion der eigenen Rolle.

Die Kunstgeschichte bietet zahlreiche Referenzen für die Arbeit mit Zufallsprozessen und projektiven Techniken. Künstlerische Vorbilder können als Inspiration dienen und die Hemmschwelle zur kreativen Exploration senken. Hier kann es hilfreich sein, entsprechende Kunstkataloge, Poster oder Postkarten bereitzustellen, um den Prozess zu bereichern und den Blick für die Vielfalt schöpferischer Ausdrucksmöglichkeiten zu öffnen.

Resume

Wenn Sie in Ihrer Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen dieses Verfahren einmal anwenden wollen, dann probieren Sie es im Vorfeld gerne einmal selbst aus. Lassen Sie sich ganz auf den Prozess ein und reflektieren Sie anschließend, wie sich die verschiedenen Gestaltungsphasen angefühlt haben. Welche Gedanken tauchten auf? Mit welchen Erkenntnissen schließen Sie die Übung ab? Besonders anregend kann das spielerische Squiggle-Verfahren auch unter Kolleg:innen oder Freund:innen sein.
Der ganzheitliche Ansatz der Kunsttherapie bietet nicht nur neue Wege der Selbsterkenntnis, sondern auch eine wertvolle, erlebnisorientierte, materialbezogene und symbolträchtige Ergänzung zu traditionellen therapeutischen Methoden.

Wir hoffen Sie mit diesem Beitrag aus der Kunsttherapie inspiriert zu haben und die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der psychotherapeutischen Versorgung weiterhin nachhaltig zu unterstützen und zu erweitern.

Literatur

Winnicott, D.W. (2006). Die therapeutische Arbeit mit Kindern. Die Technik des Squiggle oder Kritzelspiels. Karlsruhe: GERARDI Verlag für Kunsttherapie.

Über die Autorinnen


Sarah Arriagada
 ist Kunsttherapeutin und freischaffende Künstlerin und lebt in Missouri, USA. 2010 erhielt sie an der Universität der Künste Berlin den Meisterschülertitel in Bildender Kunst und 2014 den Master in Kunsttherapie von der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Sie war mehrere Jahre in deutschen psychiatrischen Kliniken sowie in London tätig, wo sie kunsttherapeutische Angebote in pädagogischen und forensischen Settings anleitete.

Hannah Elsche ist tiefenpsychologisch fundierte Kunsttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Berlin. Sie arbeitet in der stationären Psychosomatik sowie ambulant kunsttherapeutisch in ihrem Atelier in Berlin-Wedding. Ihre Arbeit beinhaltet sowohl Gruppen- und Einzeltherapien als auch Selbsterfahrungsworkshops und kreative Angebote.

2025 erschien bei Beltz von ihnen die »75 Therapiekarten Kunsttherapeutische Interventionen«.

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