Wenn Kränkungen krank machen – therapeutische Interventionen für die Praxis

Stellen Sie sich vor, eine:r Ihrer Patient:innen möchte plötzlich die Therapie bei einem anderen Psychotherapeuten bzw. einer anderen Psychotherapeutin fortsetzen. Wie fühlen Sie sich mit dieser Ablehnung? Jeder Mensch – bestimmt auch Sie als Psychotherapeut:in – hat schon einmal Ablehnung erfahren, wurde mit Worten verletzt oder gekränkt. Und genauso begegnen wir auch im psychotherapeutischen Kontext immer wieder Patient:innen, die von Kränkungserlebnissen berichten. Unsere Autorinnen schildern Fallbeispiele und geben Anregungen für therapeutische Ansätze.

Von der Arbeit, über Freunde bis zur Familie: Wo Kränkungen lauern und die größte Herausforderung liegt

Es existieren vielfältige Möglichkeiten, im Alltag Kränkungen zu erfahren. Kränkungen entstehen in fast allen Lebensbereichen: bei der Arbeit, in der Familie, in Beziehungen. Sie entstehen durch die Widrigkeiten des Alltags und auch durch Selbst-Enttäuschungen. Kränkungen sind so komplex wie weitreichend – genauso wie ihre Folgen. Eindeutige Rahmenbedingungen, die bei den meisten Menschen zu Kränkungen führen, lassen sich in wissenschaftlichen Studien nicht feststellen. So bleibt es individuell zu betrachten was Kränkungen verursacht, wie intensiv sie sich für betroffene Menschen äußern und welche Reaktion diese darauf zeigen. So vielfältig Kränkungen und ihre Folgen sind: fast allen Kränkungserfahrungen ist gemein, dass diese wirkliche Verletzungen darstellen. Sich die Verletzung einzugestehen, ist dabei die große Herausforderung.

Fallbeispiel Arin D.*: Vom eigenen Körper gekränkt

»Ich bin enttäuscht von mir und meinem Körper«, berichtet Arin D*. (40 Jahre alt) nach der Chemotherapie in Folge einer spät entdeckten Krebserkrankung. Die Empfehlung, sich psychoonkologisch begleiten zu lassen, habe noch mehr Unmut ausgelöst. Die Krankheit habe genug Raum eingenommen. Solche Empfehlungen von »unqualifizierten Ärzten« bestätige die Haltung, sowohl diese als auch Krankenhäuser zu vermeiden. Nachsorge belaste das Sozialsystem und das könne Arin D. keineswegs weiter verantworten. Die »Krebsbehandlung« habe genug Kosten verursacht. Sich zu einem Erstgespräch zu motivieren, habe viel Energie gekostet. Arin D. fordert außerdem: »Kommen Sie mir nicht mit Mitleid oder so was«. Disziplin, um sich wieder in Form zu bringen, sei nun wichtig.

Therapeutische Einordnung. Kränkungen im Kontext körperlicher Erkrankungen stellen oft große Herausforderungen an uns Behandler:innen dar. Die Patient:innen berichten von Enttäuschungsgefühlen gegenüber ihrer Körper. Arin D. lehnt z.B. Mitgefühl ab und fordert konkrete Strategien, um aus sich und dem Körper mehr herauszuholen. Gleichzeitig hat Arin D. hohe moralische und ethische Anforderungen an sich und die Gesellschaft. Zu medizinisch versorgenden somatischen Kolleg:innen soll es keinen weiteren Kontakt geben. So enthält sich Arin D. wichtige Dinge vor und riskiert ein Rezidiv. Zeitgleich gibt es viele Verbote für die soziale Umwelt. Trotz allem befindet sich Arin D. nun in einem therapeutischen Gesprächsangebot.

Fallbeispiel Robin L*.: Durch Perfektionismus und Selbstoptimierung Kränkungen vermeiden

Robin L*. (45 Jahre alt) erzählt in der Therapie, als Kind eher schüchtern und zurückhaltend gewesen zu sein. »Rebellion« hatte keinen Platz in der Herkunftsfamilie. Die zurückhaltende Art stellte immer wieder die Ausgangsbasis für Invalidierung und kränkende Bewertungen dar. Als junger und werdender Mann habe man ein »Macher« zu sein, »stark und fokussiert«, war der Leitsatz des Vaters, wenn dieser überhaupt mal Zeit mit den Kindern verbrachte. Es zählten die Leistungen und die Meinung der umgebenden Personen. So entwickelte sich ein starres Normen-Konstrukt, das stark internalisiert zu einem hohen Leistungsanspruch gegenüber sich selbst, dem eigenen Körper sowie anderen Menschen führte. Alles, was diesen Zielen nicht entsprach, was diese »kränkte«, wurde ausgeblendet. Dem Bedürfnis nach Kontrolle und Selbstwertsteigerung konnte Robin L. durch Listen, To-dos und hohen Lebenszielen nachgehen. Den entsprechend vorgelebten sozialen Status galt es zu erhalten. Dazu zählten ein definierter Körper, entsprechende Kleidung und eine berufliche Position samt dazugehörigem Gehalt. Durch den hohen Leistungsanspruch an die Mitmenschen einerseits und der Schüchternheit andererseits gelang es jedoch kaum emotional befriedigende und nachhaltig soziale Beziehungen aufzubauen. Auslöser für bisherige depressive Episoden waren vor allem Situationen, in denen es um Leistungserbringung ging. Zum Schutz vor der eigenen Vulnerabilität halfen zunächst noch mehr Regeln, Meilensteine und Messkriterien, z.B. ein gesundes, perfekt organisiertes Leben durch Wochenpläne mit Ernährung, Sport und Pausen aufzustellen. Immer wieder gab es jedoch Phasen, in denen die eigenen Ansprüche, Ziele und Lebenspläne nicht erreichbar waren. Prokrastination schützte vor dem täglichen Versagen und war zeitgleich ein aufrechterhaltender sowie auslösender Faktor für die depressive Symptomatik. Durch Rückzugsverhalten konnte niemand sehen, wie es Robin L. wirklich ging. Mehrere Stunden am Tag bot die Welt der Social Media ihm Bestätigung darin, dass die eigenen Ansprüche angemessen sind und einhergehen mit dem Erreichen des Wunschlebens. Gleichzeitig entsteht die Idee von Beziehungen mit demselben Wertesystem und dem Wunsch »dazuzugehören«.

Therapeutische Einordnung. Häufige und sehr massive Kränkungserfahrungen können unverarbeitet auch psychische Erkrankungen auslösen bzw. diese aufrechterhalten. So wie das Beispiel von Robin L. zeigt, der aufgrund der Bedingungen seines Aufwachsens immer wieder in seiner Bedürfnisbefriedigung gekränkt wurde und sich seither durch einen Hang zum Perfektionismus vor weiteren Kränkungen schützen möchte. Doch als Folge hat sich eine Depression entwickelt. Deshalb ist es uns Psychotherapeut:innen ein Anliegen, Betroffenen wieder zu einem guten alltäglichen Funktionsniveau zu verhelfen und Kränkungen selbstfürsorglich zu verarbeiten und nicht bloß in die Vermeidung zu gehen, wie Robin L.. Wie und wo können Therapeut:innen hierbei ansetzen?

Therapieansatz

Die oben ausgeführten Fallbeispiele sind sehr typisch für Kränkungserfahrungen. Individuelle Schilderungen beziehen sich häufig auf die Sachinformationen und vernachlässigen die emotionalen Aspekte. Natürlich ist es auch möglich, dass fast ausschließlich die emotionalen Aspekte der Verletzung immer wieder geschildert werden. So spezifisch die einzelnen Erfahrungen auch sind, bilden diese aber auch eine gute Ausgangsbasis, um im therapeutischen Gespräch auch die emotionale oder kognitive Seite gemeinsam zu betrachten. Stehen kognitive und emotionale Anteile miteinander in Kommunikation, gelingt es besser, sich die verletzlichen Anteile zuzugestehen und zeitgleich emotionsregulatorisch aktiv zu sein – ohne letzteres gänzlich zu vermeiden.

Zu Beginn des Gespräches kann eine kombinierte Verhaltens- und Emotionsanalyse anstehen. Sie können also den/die Patient:in anregen, sich folgende Fragen zu stellen: Was hat die Kränkung bewirkt? Wie habe ich mich in dieser Situation gefühlt? Was habe ich gedacht? Was habe ich unternommen? Welche alternativen Verhaltensweisen würde ich zukünftig gerne anwenden? Die einseitige Betrachtung dysfunktionaler Kognitionen verhindert die Bearbeitung emotionaler Prozesse. Um die individuelle Kränkungsreaktion und dominierende Gedanken oder Emotionen zu entmachten, ist es sinnvoll, die Vielzahl der aktivierten Emotionen zu entschlüsseln.

Viele verschiedene Emotionen stehen im Zusammenhang mit Kränkungen, wie eine Betrachtung seiner Synonyme offenbart: Bloßstellung, Erniedrigung, Beleidigung und Verunglimpfung – um nur einige zu nennen. In jedem Fall wird bei Kränkungen das Selbst verletzt und die Emotionen, die mit dieser einhergehen, heißt es zunächst zu benennen, um dagegen wirken zu können. Dafür eignet sich beispielsweise das Arbeitsblatt »Emotionales Netzwerk« unseres neuen Therapie-Tools-Bandes »Kränkung und Einsamkeit«. Das Arbeitsblatt leistet erste Hilfe bei der Zuwendung zum emotionalen und gedanklichen Netzwerk, welches eine Kränkung begleitet. Sie können mit Ihren Patient:innen die Waben des individuellen Netzwerkes in unterschiedlichen Farben markieren, z.B. »rot« für die größte persönliche Herausforderung, »grün« für Aspekte, die schon zu bewältigen sind und »blau« für Themen mit besonderer biographischer Bedeutung. Diese Übung soll die Patient:innen dabei unterstützen, ihre inneren Prozesse besser zu verstehen.

Dos und Don’ts bei der Behandlung von Kränkungen

Dos:

  • alles zu seiner Zeit angehen,
  • mit Taktgefühl dabei sein,
  • Validieren, validieren, validieren und nochmal validieren
  • gemeinsam die Bedeutung/Funktionen vom Wertesystem erkennen,
  • echtes Interesse zeigen,
  • Emotionen und Kognitionen in den gemeinsamen Austausch bringen.

Don'ts: alle »zu früh‘s«

  • zu früh die Überlebensstrategien in Frage stellen,
  • zu früh Wertesysteme disputieren,
  • zu früh Loyalitätskonflikte aktivieren, etc.


Wir grüßen Sie in herzlicher Verbundenheit und freuen uns über Ihre Rückmeldung. Dieser Beitrag soll auch als Ermutigung für Sie dienen, sich in der Therapie auch der emotionalen Seite von Kränkungserfahrungen zuzuwenden.

Maren Lammers & Isgard Ohls

*Namen wurden von den Autorinnen geändert.

Die Autorinnen:

© Katrin Schöning
Maren Lammers ist Diplom-Psychologin und Psychotherapeutin in eigener Praxis sowie freie Mitarbeiterin an verschiedenen verhaltenstherapeutischen Ausbildungsinstituten und Universitäten, Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin für Verhaltenstherapie, Hypnotherapie sowie emotionsbezogene Psychotherapie. Ihre Schwerpunkte sind: Verhaltenstherapie, Emotionsbezogene Psychotherapie, Hypnotherapie nach Milton Erickson sowie Schematherapie. Sie ist Autorin mehrerer Fachbücher, Ratgeber und Zeitschriftenbeiträge.

© Privat
Priv. Doz. Dr. med. Dr. theol. Dipl. mus. Isgard Ohls ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie), Evangelische Theologin sowie A-Kirchenmusikerin und Cembalistin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projekt- und Forschungsgruppenleiterin im Psychosozialen Zentrum des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Forschungsschwerpunkte sind, neben dem Trialog der drei Fachgebiete, existenzielle Fragestellungen, medical humanities und healing arts, die Suizidologie, Psychoonkologie, Spiritualität/Religiosität und Extremismus sowie Musikmedizin.

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