Zwänge bezähmen – 10 praktische Tipps für die Therapie eines facettenreichen Störungsbildes

Zwangsstörungen sind hartnäckig und komplex? Die Behandlung von Zwängen gestaltet sich mühsam und langwierig? Viele Mythen ranken sich um Zwangssymptome und ihre Therapierbarkeit. Dabei kann man Zwängen in der Psychotherapie durchaus effektiv begegnen, wenn man ein paar Kniffe kennt.  

1. Den Zwang unter die Lupe nehmen

Kennen Sie den Zwang Ihrer Patient:in genau? Investieren Sie in die Erforschung der individuellen Zwangssymptome! Jeder Kontrollzwang folgt seinen eigenen Regeln, jedes Grübelritual ist anders. Was setzt den Zwang im Alltag »auf Diät«, was verstärkt seine Ausprägung? Wäre der Zwang ein Tier, eine Gestalt, ein Symbol, wie sähe er aus?

Wenn Sie die individuellen Eigenheiten der Zwangssymptomatik interessiert erkunden, kultivieren Sie auch eine Haltung von Neugier, die es Patient:innen erleichtert, sich offen mit ihren Zwangsphänomenen auseinanderzusetzen. Dabei hat es sich wunderbar bewährt, den Zwang als Gegenüber zu definieren, mit dem sich in Dialog treten lässt: Das ermöglicht oft eine erste kleine Distanz gegenüber den quälenden Gedanken und Impulsen.

2. Das Herz des Zwangs durchleuchten

So absurd die Zwangsrituale auch sein mögen: Die Emotionen hinter dem Zwangsverhalten sind echt. Für viele fühlen sie sich geradezu existenziell an. Es ist sinnvoll, schon früh in der Therapie »ins Herzen des Zwangs einzutauchen« und das Eigentliche näher zu erkunden. Gibt es ein zentrales Gefühl, das durch die skurrilen Formen und Inhalte des Zwangs verdeckt wird?
Ist da Angst, von anderen verletzt zu werden? Unsicherheit über die eigene Identität? Ärger über unzureichende Anerkennung? Furcht vor Leere und Einsamkeit? Nicht immer, aber häufig entpuppt sich in diesem Prozess auch eine individuelle Funktion des Zwangs: Vielleicht hilft beispielsweise ein Waschzwang dem einen Patienten, sein Umfeld auf Abstand zu halten. Eine andere Patientin fühlt sich makelloser und liebenswürdiger, wenn sie Waschrituale vollzieht.  Es kann eine bewegende therapeutische Erfahrung sein, zu entdecken, wie viele Ängste, Sehnsüchte und pulsierende Lebendigkeit hinter den rigiden Zwangsritualen verborgen sind.  

3. Das Erleben anerkennen und verstehen

Ganz gleich, ob grundliegende Emotionen erst während der Expositionsbehandlung ans Licht kommen oder schon früh in der Therapie sichtbar werden: Anders als die Zwangsinhalte brauchen sie Fürsorge. Neben klassischen Strategien zur Emotionsbewältigung sind Übungen zur Emotionsakzeptanz oft gut geeignet, wie etwa das wertfreie Benennen von Gefühlen, das Erspüren ihrer körperlichen Resonanz, das »Hineinatmen« in das Gefühl und das freundliche Anerkennen des Erlebens. Manche Patient:innen profitieren hingegen vor allem von praktischen Alltagsveränderungen, um ihre emotionalen Bedürfnisse auf gesundem Wege zu erfüllen. Auch Affektbrücken zum Aufspüren der emotionalen Schlüsselsituationen in der Biographie können hilfreich sein. Gerade weil Zwangssymptome oftmals in deutlichem Widerspruch zu eigenen Werten stehen, bietet die Einordnung ihrer Entstehung in den lebensgeschichtlichen Kontext für viele eine deutliche Entlastung.

4. Komplizenschaft mit dem Zwang vermeiden

So viel Fürsorge die Gefühle hinter dem Zwang verdienen, so wenig Energie sollte in Rückversicherungen fließen – zumindest nicht über den Beginn der Therapie hinaus. Widerstehen Sie der Versuchung, den Zwang mit beruhigenden Antworten zu nähren! Wiederholte Nachfragen der Patient:innen  (etwa: »Sind Sie sicher, dass ich nicht doch schizophren bin?« oder »Hätte ich tatsächlich gemerkt, wenn ich jemanden überfahren hätte?«) sind verständlich. Jede Beruhigung hilft jedoch nur kurzfristig, verstärkt die Abhängigkeit von der Meinung anderer Personen und wirkt wie ein Bumerang: Die Zweifel werden bald umso stärker und verlangen schnell neue Vergewisserung. Beruhigende Antworten können nach Absprache allmählich durch ein gemeinsam vereinbartes Codewort oder eine Gegenfrage (etwa: »Brauchen Sie eine Antwort oder möchte sie der Zwang?«) ersetzt werden.  

5. Einen Leuchtturm etablieren

Das Erarbeiten von Werten und Alltagszielen ist angesichts der Hartnäckigkeit eines Zwangsrituals besonders wichtig. Wofür lohnt es sich, langjährig gefestigte Ordnungszwänge oder Kontrollrituale über Bord zu werfen? Welcher »innere Leuchtturm« weist den Weg durch eine anstrengende Expositionsübung? Schaffen Sie mit den Patient:innen Visionen für ein Leben mit weniger Zwang. Je konkreter und griffiger die eigenen Werte und Ziele notiert, gemalt, imaginiert oder mit Objekten symbolisiert werden, desto schwungvoller lassen sich Expositionsübungen umsetzen.

6. Klartext reden und auf »Talkshow« verzichten

Ermutigen Sie Patient:innen schon früh, auftauchende Zwangsgedanken und -impulse gedanklich mit einem Label zu versehen. Innere Sätze wie »Aha, da ist wieder ein Zwangsimpuls« oder »Das bin nicht ich, das ist nur mein Zwang« nach Jeffrey Schwartz können eine erste wohltuende Distanz zum Zwangsinhalt ermöglichen.  

Gleichzeitig können Sie zum Verzicht auf innere Diskussionen mit dem Zwang einladen: Als Gast in der »inneren Talkshow« wird der Zwang nach jeder vermeintlichen Selbstberuhigung wieder neue Argumente vorbringen. Das liegt alleine schon daran, dass wir nichts mit 100%iger Sicherheit ausschließen können – weder eine tödliche Krankheit noch eine unverschlossene Tür. Es hat sich bewährt, einen gesunden Standpunkt zu erarbeiten, der auch Bereitschaft zum Restrisiko beinhaltet. Hält der Zwang dagegen, lässt sich ein einfacher Satz überlegen, etwa »Nein, lieber Zwang, ich diskutiere nicht mit dir!«.

7. Die Leinwand hinter dem Film erkennen

In der Literatur wimmelt es von Bildern und Metaphern, die zur Distanzierung gegenüber den Zwangsinhalten einladen möchten: Zwangsgedanken werden als lästige Insekten, Vogelschwärme, vorbeirauschende Züge oder Wolken am Himmel dargestellt. Das ist absolut sinnvoll, aber nur eine Seite der Medaille: In der Therapie ist es ebenso wertvoll, den weiten Raum des Gewahrseins, der nicht aus Zwangsgedanken besteht, bewusst zu machen.

Letztlich ist es das beobachtende »Ich« hinter all den Gedanken und Gefühlen, das unveränderlich bleibt, Stabilität und Freiraum vermittelt. In der Therapie ist das ebenfalls über Bilder möglich (etwa »Ich bin nicht der Film, ich bin die Leinwand, auf der sich alles abspielt«).  

8. Einen genauen Plan entwerfen

Einigen Patient:innen fehlt das Maß für ein gesundes Verhalten, wenn sich der Zwang schon lange im Alltag eingenistet hat. Sollte man nicht darauf achten, dass die Schnürsenkelenden gleich lang sind?  Muss man es seinem Partner immer beichten, wenn man eine andere Person attraktiv findet? Wie viel Flüssigseife beim Händewaschen ist normal? Vor den Expositionsübungen mit Reaktionsmanagement, also der Bewältigung von Situationen ohne Ausüben von Zwangsritualen, eine genaue Definition des Zielverhaltens wichtig. Das können Patient:innen durch Rückbesinnung auf zwangsfreie Lebensphasen, Umfragen im eigenen Umfeld (z.B. Häufigkeit der Weckerkontrollen vor dem Einschlafen), offizielle Quellen oder Überlegungen mit dem/der Therapeut:in festlegen. Vielen hilft eine Rangreihe der Verhaltensziele nach Schwierigkeitsgrad. Und dann geht es los!

9. In See stechen

Wenn ich Ihnen hier nur einen Tipp geben dürfte, so wäre es dieser: Führen Sie Expositionsübungen durch! Wirklich! Nach dem Erstellen eines gemeinsamen »Drehbuchs« für die Übung ist es wichtig, die Konfrontation auch zusammen umzusetzen. Das bedeutet: das relevante Lebensumfeld aufzusuchen, an der Seite des/der Patient:in zu bleiben, zu ermutigen, auf Zwangshandlungen zu verzichten und das Zulassen von Gefühlen wertzuschätzen. Drei Stunden intensive Exposition bringen meist mehr als zehn Stunden Besprechung der Symptome und ihrer Ursachen. Mehrere gemeinsame Expositionen sind Gold wert. Wählen Sie zunächst alltagsrelevante und mäßig schwere Situationen, welche der/die Patient:in anschließend alleine weiterüben kann. Klappt eine Situation gut, kann eine neue hinzugenommen werden.

10. Keine Scheu vor reinen Zwangsgedanken!

Viele Therapeut:innen trauen sich die Behandlung eines Kontrollzwangs zu, sind aber bei aggressiven, sexuellen oder religiösen Zwangsgedanken ratlos. Dabei gibt es durchaus bewährte Strategien: Die meisten Zwangsgedanken gehen mit Vermeidung einher, die sich ebenfalls exponieren lässt (z.B. das Hantieren mit Messern bei aggressiven Zwangsgedanken oder die Beschäftigung mit Kindern bei pädophilen Zwangsgedanken). Dies ist völlig unbedenklich, da Zwangsgedanken nicht Ausdruck destruktiver Wünsche sind. Sie betreffen vielmehr Dinge, vor denen Patient:innen Angst haben oder die ihnen besonders zuwider sind. Zwangsgedanken können auch aufgeschrieben und immer wieder laut vorgelesen oder über das Smartphone angehört werden. Wenn es dabei gelingt, sich für alle aufkommenden Emotionen und Gedanken zu öffnen, verlieren die Zwangsgedanken allmählich ihren Schrecken. Dies kann ein beglückender Moment in der Therapie sein, der von einem nachhaltigen Freiheitsgefühl begleitet wird.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude, Mut und Erfolg beim gemeinsamen Zähmen des Zwanges Ihrer Patient:innen.

Ihre Anne Katrin Külz

Literatur

Schwartz, J.M. (2016). Brain Lock: Free Yourself from Obsessive-Compulsive Behavior. Harper Perennial, New York. 

Die Autorin

Dr. Anne Katrin Külz ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt »Verhaltenstherapie und achtsamkeitsbasierte Ansätze«. Sie führt eine eigene psychotherapeutische Praxis in Freiburg und leitete von 2008 bis 2017 die Forschungsgruppe Psychotherapie von Zwangsstörungen an der Klinik für Psychiatrie des Universitätsklinikums in Freiburg. Als Lehrbeauftragte und Supervisorin ist sie an Aus- und Weiterbildungsinstituten für Psychotherapie tätig. Bei Beltz hat sie das Kartenset »Zwangsstörungen. 75 Therapiekarten« und ganz neu in der 2. Auflage den Patientenratgeber »Dem inneren Drachen mit Achtsamkeit begegnen. Selbsthilfe bei Zwängen« veröffentlicht.

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