Zwischen Kinnlade und Zehenspitzen: Zehn Impulse für mehr Mut zu körperorientierten Interventionen

Stellen Sie sich für einen Moment ein Bild von Psychotherapie vor. Vielleicht sehen Sie zwei Personen, die sich in einem ruhigen Raum auf Stühlen gegenübersitzen und miteinander sprechen. Das ist das gängige Bild, das viele Menschen mit Psychotherapie verbinden. Doch was ist mit dem Körper unserer Patient:innen?

Der Gedanke, den Körper aktiv in die psychotherapeutische Arbeit einzubeziehen, löst bei vielen Psychotherapeut:innen Verunsicherung aus. Manche halten körperorientierte Interventionen für zu intim oder komplex. Oder sie haben die Vorstellung, dass man dafür ein eigenes Sportstudio oder zumindest eine riesige Matratzenlandschaft benötigt.

Dabei haben körperorientierte Interventionen viele Vorteile. Sie ermöglichen einen erlebnisorientierten Zugang zu therapeutischen Themen: Probleme, die vor allem kognitiv bearbeitet wurden, werden dadurch fühlbarer. Viele Methoden setzen an den Ressourcen unserer Patient:innen an und fördern dadurch ihre Selbstwirksamkeit. Zudem gibt es Patient:innen, für die ein rein sprachlicher Zugang sehr abstrakt ist und die von einem Zugang über den Körper profitieren.

In den letzten Jahren beobachten wir zum Glück zunehmend eine positive Entwicklung:  Fortbildungen und Literatur vermitteln Wissen und konkrete körperorientierte Techniken. Und – immer mehr wird auch die Wirksamkeit von bewegungsbasierten Verfahren durch wissenschaftliche Studien belegt.

In der praktischen Arbeit gibt es viele einfache Möglichkeiten, körperorientierte Ansätze zu integrieren. Sie können als Therapeut:in simple, achtsame Körperwahrnehmungsübungen, Atemtechniken, sanfte Bewegungen oder auch verspielte Übungen in den Sitzungen einbauen. Folgende Impulse können dabei helfen, den Raum zwischen Kinnlade und Zehenspitzen bewusster in die Therapie einzubeziehen.

1. Körperorientierte Ressourcen aktivieren

Jeder von uns kennt positive körperorientierte Aktivitäten – sei es in Form von Tätigkeiten wie Spazierengehen, Tanzen oder auch scheinbar einfachen Handlungen wie dem Eincremen oder dem Streicheln eines Tieres. Diese Ressourcen können therapeutisch genutzt werden, um Patient:innen zu ermutigen, einen positiven Blick auf ihren Körper zu entwickeln. Eine Übung könnte sein, mit Patient:innen gemeinsam eine Liste ihrer persönlichen körperorientierten Ressourcen zu erstellen. Was tut ihnen gut? Welche Körpererfahrungen sind positiv für sie? Das können kleine Dinge sein, wie das achtsame Trinken von Tee oder das Umarmen einer nahestehenden Person. Im zweiten Schritt überlegen Sie gemeinsam, wie diese Ressourcen in den Alltag integriert werden können.

2. Auf die Sprache achten

Unsere Sprache ist voller körperlicher Metaphern. Wir haben »weiche Knie bei Angst«, »einen Kloß im Hals«, »kalte Füße« oder »einen Stein im Magen«. Diese Ausdrücke sind nicht nur rhetorisch, sondern spiegeln oft real erlebte körperliche Empfindungen wider. Wir können an dieser Stelle neugierig fragen: »Wie fühlt sich dieser Kloß im Hals an? Ist er groß oder klein? Wann tritt er auf?«

Solche Fragen regen dazu an, den Körper intensiver wahrzunehmen und ihn in den therapeutischen Dialog einzubeziehen, ohne dass direkte körperliche Übungen nötig sind. Wir laden unsere Patient:innen dazu ein, ihre Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu lenken und fördern damit die eigene Körperwahrnehmung.

3. Kleine Übungen einbauen

Körperorientierte Interventionen müssen nicht immer lang oder komplex sein. Schon einfache Achtsamkeitsübungen wie die »5-4-3-2-1-Übung«, der »Bodyscan« oder auch Atemübungen wie das »Box-Breathing« können Patient:innen helfen, einen besseren Zugang zum eigenen Körper zu entwickeln.

4. Perspektivenwechsel durch Bewegung

Wer sagt, dass Therapie immer nur im Sitzen stattfinden muss? Ein Perspektivenwechsel durch Bewegungseinheiten, wie z.B. einem Spaziergang während der Sitzung oder das Wechseln der Position – vom Sitzen zum Stehen oder Hinsetzen auf den Boden – kann neue Sichtweisen eröffnen. Eine andere Körperhaltung einzunehmen, kann oft dazu führen, dass Patient:innen Probleme oder Situationen aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Natürlich sollten solche Interventionen mit den Patient:innen abgesprochen und an ihre körperlichen Voraussetzungen angepasst werden. Hier können Sie z.B. gemütliche Kissen oder eine Decke nutzen, die das Sitzen auf dem Boden gemütlicher macht.

5. Arbeiten mit Materialien

Manchmal können auch einfache Materialien wie ein kleiner Ball, ein Balance Board oder sogar Kissen helfen. Diese Materialien können eine symbolische Bedeutung haben oder als Hilfsmittel für gezielte Bewegungen genutzt werden.

6. Transparent mit Patient:innen kommunizieren

Ein wichtiger Bestandteil der körperorientierten Arbeit ist die transparente Kommunikation mit den Patient:innen. Es ist entscheidend, im Vorfeld zu erklären, welche Übungen durchgeführt werden, warum sie sinnvoll sind und was das Ziel der jeweiligen Intervention ist. Auch nach der Übung sollte das Erlebte gemeinsam reflektiert werden, um einen Transfer in den Alltag zu ermöglichen. Diese Reflexion hilft den Patient:innen, das Erlebte zu verarbeiten und im Alltag anzuwenden. Dazu können Sie Mindmaps erstellt, Karteikarten beschriftet oder wichtige Erkenntnis im Therapietagebuch notiert werden. Es lohnt sich, gegen Ende der Therapiestunde immer genügend Zeit für die gemeinsame Reflexion einzuplanen.

7. Psychoedukation erlebbar machen

Psychoedukation über die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche muss nicht rein theoretisch ablaufen – sie kann durch einfache Experimente erfahrbar gemacht werden.

Laden Sie Ihre Patient:innen ein, ihre Schultern bewusst hängen zu lassen, den Kopf zu senken und dabei den Satz zu denken: »Ich bin toll und liebenswert.« Anschließend können sie eine aufrechte Körperhaltung einnehmen und sich bewusst machen, wie es sich anfühlt, währenddessen zu denken: »Ich bin eine Versagerin.«

In der Reflexion berichten viele Patient:innen, dass es ihnen schwerfällt, einen positiven Satz zu glauben, wenn ihre Körperhaltung das Gegenteil signalisiert – und umgekehrt. So kann erlebbar gemacht werden, dass der Körper unsere Emotionen beeinflusst und umgekehrt.

Ein weiterer hilfreicher Ansatz ist ein körperorientiertes Tagebuch. Darin können Ihre Patient:innen ihre körperlichen Reaktionen in verschiedenen Situationen notieren – zum Beispiel Anspannung in den Schultern bei Stress oder ein Kribbeln im Bauch bei Vorfreude. Ergänzend können Gedanken und Emotionen festgehalten werden, um gemeinsam zu erforschen, welche Sprache der eigene Körper spricht.

8. Machen Sie mit – Bewegung als gemeinsames Erleben

Wenn Sie körperorientierte Übungen in Ihre therapeutische Arbeit einbauen möchten, machen Sie am besten immer selbst mit. Für viele Patient:innen kann es unangenehm sein, wenn der/die Therapeut:in lediglich zuschaut, während sie eine Übung ausprobieren.

Gleichzeitig sind Sie ein positives Modell, indem Sie sich gemeinsam mit Ihren Patient:innen bewegen. Dabei geht geht es nicht darum, perfekt zu sein. Im Gegenteil: Wenn Sie den Ball einmal fallen lassen oder das Gleichgewicht auf dem Balance-Board verlieren, demonstrieren Sie, wie positives Scheitern und Üben gelingen kann. Und vermutlich haben auch Sie selbst mehr Freude an der Stunde, als wenn Sie nur beobachten.

9. Eigene Grenzen setzen – und die unserer Patient:innen respektieren

Körperorientiertes Arbeiten bedeutet nicht, dass Sie plötzlich alles mitmachen oder jede Übung anbieten müssen. Überlegen Sie sich im Vorfeld, wo Ihre persönlichen Grenzen liegen – besonders bei Themen wie Berührung, bestimmten Bewegungsübungen oder auch in Bezug darauf, mit welchen Patient:innen Sie auf welche Weise arbeiten möchten. Wir können nur dann einen unterstützenden therapeutischen Rahmen bieten, wenn wir dabei selbst authentisch bleiben.

Gleichzeitig sollten Sie auch die Grenzen Ihrer Patient:innen respektieren. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn jemand eine Übung ablehnt, sich nicht wohlfühlt oder einfach nur sprechen möchte. Das hat nichts mit Faulheit oder mangelnder Motivation zu tun, sondern kann von der Tagesform oder auch von körperlichen Beschwerden abhängen.

Bieten Sie Ihren Patient:innen Alternativen an oder passen Sie die Übungen individuell an ihre Bedürfnisse an. Denn es geht nicht darum, etwas zu »erledigen« oder eine Leistung zu erbringen. Vielmehr ist es eine wertvolle Erfahrung, zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, sie ernst zu nehmen und klar zu kommunizieren. Und manchmal ist genau dieser Prozess schon die wichtigste Übung.

10. Sich selbst weiterentwickeln

Wenn Sie Freude an körperorientierter Arbeit finden, lohnt es sich, neugierig zu bleiben und sich weiterzuentwickeln. Es gibt zahlreiche Fort- und Weiterbildungen, die unterschiedliche Ansätze vermitteln – sei es Bouldertherapie, therapeutisches Boxen oder ein achtsamkeitsbasierter Ansatz. Auch der regelmäßige Austausch mit Kolleg:innen, körperorientierte Selbsterfahrung und Supervision können wertvolle Impulse liefern – auf therapeutischer, aber sicher auch auf persönlicher Ebene.

Die Autorin

Alexandra de Carvalho (M.Sc.) ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet ambulant psychotherapeutisch. Neben ihrer verhaltenstherapeutischen Ausbildung liegen ihre Interessenschwerpunkte vor allem auf körperorientierten Psychotherapieverfahren wie der integrativen Tanztherapie, Somatic Experiencing und achtsamkeitsbasierten Methoden. Darüber hinaus verfügt sie über jahrelange praktische Erfahrung in verschiedenen Bewegungsformen wie freiem Tanz und Contact Improvisation, Bouldern, Kampfsport, Yoga und Improvisationstheater, die sie in ihre therapeutische Arbeit einfließen lässt. Sie gibt Workshops und Seminare zum Thema Embodiment und ist ebenfalls als Autorin tätig.

Passende Artikel
Materialien dieses Titels
Materialien dieses Titels

Therapie-Basics Körperpsychotherapie

Körperorientierte Methoden in der Psychotherapie setzen eine Einheit von Körper und Geist voraus. Kernelemente sind...
Körperpsychotherapie: Achtsamkeit
Infoblatt
Infoblatt

Körperpsychotherapie: Achtsamkeit

Achtsamkeitsinformierte und -basierte Methoden finden immer wieder Anwendung in körperorientierten Therapiestunden....
Körperpsychotherapie: Arbeit am Boden
Infoblatt
Infoblatt

Körperpsychotherapie: Arbeit am Boden

Der Boden wird in der Psychotherapie selten benutzt. Dabei kann es interessant sein, die therapeutische Arbeit auf...
Körperorientierte Techniken: Body-Scan
Übung
Übung

Körperorientierte Techniken: Body-Scan

Das an Therapeutinnen gerichtete Arbeitsblatt beschreibt eine Übung, die die Körperwahrnehmung der Patientinnen...