Ressourcen sind Schutzfaktoren. Das Wissen um die eigenen Ressourcen hilft unseren Patient:innen dabei, emotional stabil zu bleiben oder zu werden, mit psychischen Verletzungen besser umzugehen und Krisensituationen besser zu bewältigen. Wenn unsere Patient:innen, egal ob jung oder alt, ihre eigenen Ressourcen kennen, also wissen, was sie können, was sie auszeichnet und was ihnen hilft, dann erleben sie sich als gestärkt.
Die Arbeit an und mit Ressourcen ist ein guter Ansatzpunkt, um zu Beginn einer Psychotherapie eine Beziehung aufzubauen. Sie stellt auch einen wesentlichen inhaltlichen Bestandteil des psychotherapeutischen Prozesses dar. Damit die Patient:innen sich ihrer Ressourcen bewusst werden, diese präsenter und abrufbarer werden, ist es sinnvoll, die Ressourcen im psychotherapeutischen Setting nicht einfach nur abzufragen oder aufzulisten, sondern die Patient:innen aktiver zu beteiligen.
Experimente mit AHA-Effekt, wie ich sie gern nenne, bieten kreative Ansätze, um in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie das Erleben von Selbstwirksamkeit und die inhaltliche Auseinandersetzung sowie die symbolhafte Verankerung psychotherapeutischer Inhalte zu fördern. Hier ein Experiment, das ich gerne mit jungen Patient:innen im Vor- oder Grundschulalter nutze, um den eigenen Fähigkeiten und Ressourcen auf die Spur zu kommen.
Über sich hinauswachsen
Material: zwei gleichfarbige, Gelatine enthaltende Gummibärchen; eine Untertasse; ein zur Hälfte mit Wasser gefülltes Glas
Hinweis: Das Experiment müsste vor oder zu Beginn der Therapiestunde begonnen werden, da es etwa 30 Minuten dauert.
Experiment: Lege beide Gummibärchen auf die Untertasse. Nimm ein Gummibärchen und lege es ins Wasserglas. Warte circa 30 Minuten ab.
Hole nach circa 30 Minuten das Gummibärchen aus dem Wasser und lege es neben das noch trockene Gummibärchen auf die Untertasse.
Was beobachtest du?
Vergleiche das Gummibärchen aus dem Wasserglas mit dem noch trockenen Gummibärchen.
Ergebnis: Das Gummibärchen aus dem Wasserglas ist größer geworden.
Impulsfragen zur Besprechung: In welchen Situationen, zu welchen Anlässen bist du schon mal größer geworden oder über dich hinausgewachsen? Beschreibe die Situation, das Erlebnis genau!
Wie hast du dich dabei gefühlt? Wie lange dauerte das Gefühl an? In welchen Situationen wäre es gut, sich an das Gefühl zurückzuerinnern? Was könnte das bewirken? Wie könntest du diese Erfahrung in dein jetziges Leben integrieren?
So binde ich das kleine Experiment in die Therapiestunde ein
Bereits das Material, nämlich die Gummibärchen, lässt die Kinder neugierig werden. Die meisten Kinder verbinden etwas Positives mit Gummibärchen – kunterbunt, süß und essbar. Dadurch wird schon gleich die Compliance des Kindes gefördert.
Da das Experiment eine längere Ruhephase braucht, starte ich gleich zu Beginn der Therapiesitzung mit dem Experiment.
T: Heute möchte ich mit dir etwas Besonderes machen. Schau mal, hier sind Gummibärchen!
K: Darf ich welche essen?
T: Jetzt noch nicht. Wir können damit ein Experiment machen. Dazu darfst du das Gummibärchen in dieses Glas mit Wasser werfen.
K: Welche Farbe soll ich nehmen?
T: Das ist egal. Kannst du entscheiden.
(Das Kind wirft das Gummibärchen ins Wasserglas.)
T: Super! Was vermutest du, was jetzt wohl passiert, wenn wir abwarten?
K: Weiß nicht – vielleicht verliert das Gummibärchen seine Farbe?
T: Lass uns mal abwarten! Und dann schauen wir mal, was passiert.
(In der Regel nutze ich die Zwischenzeit, um ins Gespräch über Ressourcen zu kommen. »Was kannst du besonders gut?« Wenn den Kindern nicht so viel einfällt, frage ich nach lustigen Dingen, zum Beispiel: »Kannst du gut lange ausschlafen oder lange wach bleiben?« Weitere Fragen sind: »Woran merkst du, dass du Dinge gut kannst?“ und »Welche Gefühle hast du, wenn du Dinge gut machst oder kannst?« Wenn noch Zeit ist, dann kann das Kind ein Bild von einer Sache malen, die es besonders gut kann. Nach etwa 30 Minuten, darf das Kind dann das Gummibärchen aus dem Wasser nehmen. Am besten legt es das nasse Gummibärchen neben die noch trockenen Gummibärchen, um zu vergleichen, was sich verändert hat.)
T: Was fällt dir auf?
K: Das nasse Gummibärchen ist ganz glitschig.
T: Ja, was fällt dir noch auf?
K: Es ist größer geworden.
T: Ja, richtig. Und du kannst mal überlegen, ob dich deine Fähigkeiten oder Kenntnisse auch schon mal haben größer werden lassen. Natürlich meine ich nicht, dass du plötzlich gewachsen bist. Das geht ja nicht! Eher, dass du innerlich größer geworden bist, z.B. mutiger, weil du dich etwas getraut hast oder zufriedener geworden bist, weil du etwas geschafft hast. Überleg mal!
K: Ja, ich bin schon einmal vom Drei-Meter-Brett gesprungen.
T: Ja, das ist richtig mutig! Und da bist du wahrscheinlich innerlich auch richtig groß geworden, weil du dich das getraut hast. Fällt dir noch etwas ein?
Und zum Schluss, kann man (sofern die Eltern nichts dagegen haben) die Gummibärchen gemeinsam naschen.
Die eigenen Schätze an die Oberfläche befördern
Jetzt noch ein kleines Experiment, das ebenfalls für die Arbeit mit Ressourcen genutzt werden kann, allerdings eher bei älteren Patient:innen. Ich würde das nächste Experiment eher mit Kindern ab 9 Jahren machen oder auch mit Jugendlichen.
Material: ein leeres, gespültes Marmeladenglas mit passendem Deckel, das relativ breit ist; einige Muscheln, Kieselsteine und/oder Murmeln; trockenen (Vogel-)Sand
Hinweis: Überlege dir vor diesem Experiment, für welche persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Fertigkeiten die Muscheln, Steinchen oder Murmeln stehen könnten. Es sollten Ressourcen sein, auf die du in deiner Vergangenheit häufiger oder besser zurückgreifen konntest als heute.
Experiment: Wähle fünf bis sechs Murmeln (Muscheln und/oder kleine Kieselsteine) aus, die deine Ressourcen repräsentieren und lege diese in das geöffnete Glas. Bedecke nun die Gegenstände mit Sand. Dann verschließe das Glas gut mit dem Deckel und schüttele das Glas auf und ab.
Was beobachtest du?
Ergebnis: Die verborgenen Gegenstände kommen an die Oberfläche. Impulsfragen: Welche Ressourcen, Fähigkeiten und Fertigkeiten von dir kennst du? Über welche deiner Ressourcen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten aus der Vergangenheit wurde dir etwas berichtet? Welche von deinen Ressourcen, die du aus deiner Vergangenheit kennst, würdest du gerne wieder offenlegen? Sie schlummern ja in dir! Wie könntest du das schaffen? Welche Unterstützung bräuchtest du dafür?
Vor der Therapiestunde lege ich schon ein paar kleine Gegenstände zurecht, die sich für das Experiment eignen. Zudem benötigt man noch ein etwas größeres Glas, das verschlossen werden kann (z.B. ein Gurkenglas), und Vogelsand. Als kleine Gegenstände nutze ich kleine Steine, Murmeln oder Muscheln. Ich lege vier bis sechs Gegenstände auf den Tisch. Schon diese kleine Veränderung weckt die Neugierde der Patientin.
Jetzt taste ich mich an die Ressourcen (in diesem Beispiel) meiner Patientin heran
T: Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten oder anderen Ressourcen kennst du von dir?
P: Ich habe gute Freunde, ich bin gut in der Schule und treibe viel Sport.
(Anschließend gehe ich noch intensiver auf ihre Ressourcen ein und lass mir Beispiele nennen. Dann lenke ich das Gespräch auf die Vergangenheitsressourcen.)
T: Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten oder anderen Ressourcen hattest du denn, als du noch kleiner warst? Vielleicht haben deine Eltern oder andere Verwandten dir darüber berichtet?
P: Ich war sehr offen und immer neugierig.
T: Erinnerst du dich an Beispiele?
(Patientin erzählt ein Beispiel.)
T: Fallen dir vielleicht noch mehr Ressourcen ein, die du früher hattest, und vielleicht auch besser abrufen konntest?
P: Ja, ich hatte immer ganz viele Ideen und konnte meine Freunde begeistern, dass sie mitmachen.
T: Ja, toll. Jetzt such doch mal für jede Ressource, die du von früher kennst und die du gerne heutzutage wieder mehr oder stärker haben würdest, einen von diesen Gegenständen aus.
P: Da nehme ich die Muschel für Offenheit und diese gelbe Murmel für Begeisterungsfähigkeit. Und vielleicht noch diesen Stein für Neugierde. Der hat nämlich so ein interessantes Muster.
T: Dann leg bitte die drei Gegenstände mal in das Gurkenglas und bedecke die Gegenstände mit Sand, sodass du sie nicht mehr sehen kannst.
(Patientin legt die Gegenstände ins Glas und schüttet Sand darüber.)
T: Habe ich das richtig verstanden, dass du früher diese Ressourcen genutzt hast, aber heute das Gefühl hast, dass sie nicht mehr so da sind?
P: Ja, richtig.
T: Dann ist das ja ein bisschen, wie in diesem Glas. Die Gegenstände sind verdeckt, aber sie sind noch da.
P: Vielleicht.
T: Ich habe eine Idee. Jetzt schraube das Glas zu und schüttel es mal kräftig hin und her.
(Patientin schüttelt das Glas.)
T: Was siehst du? Was ist passiert?
P: Die Gegenstände sind an die Oberfläche gekommen.
T: Ja, richtig. Und kannst du dir vorstellen, was das mit unserem Gespräch gerade zu tun hat?
P: Ja, das wäre schön, wenn das, was ich schon mal so gut konnte oder was mich früher ausgezeichnet hat, wieder sichtbar werden könnte. So wie diese Gegenstände.
T: Vielleicht können wir gemeinsam überlegen, was du verändern könntest oder welche Unterstützung du bräuchtest, damit das wieder ein bisschen mehr der Fall ist.
…
Das Therapiegespräch wurde noch weitergeführt. Am Ende der Therapiestunde hätten die drei Gegenstände zur Erinnerung und zur Förderung der Motivation nach Hause mitgegeben werden können.
So, das war ein kleiner Einblick, wie Experimente mit AHA-Effekt in die Therapiestunde integriert werden können.
Aber warum lohnt sich der (Mehr-) Aufwand mit den Experimenten?
Eins ist klar: Wenn ich die kleinen Experimente mit meinen Patient:innen machen möchte, brauche ich das Material. Das ist allerdings nicht so aufwändig, da die viele Materialien ohnehin in den meisten Haushalten vorhanden sind.
Beim Anwenden der Experimente habe ich sofort gemerkt, dass die Kinder und Jugendlichen aufmerksamer und interessierter sind. Sie beteiligen sich zum einen bei der Durchführung, aber auch bei der Übertragung auf ihre persönliche Situation aktiv. Die Themen, Gedanken und/oder Gefühle, die durch die Experimente aktiviert werden, können auch im therapeutischen Verlauf immer wieder durch Verweis auf das Experiment abgerufen werden. Das Erlebte bleibt gegenwärtiger!
Und mir macht es als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Spaß, anhand der Experimente mit den Kindern und Jugendlichen gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen. Die Experimente lockern die Stunde auf und bieten gute, weitere Ansatzpunkte für die psychotherapeutische Arbeit. Nicht zuletzt verbindet das gemeinsame Erleben und fördert die Beziehung zwischen Patient:in und Therapeut:in.
Die Autorin
Anja Gruhn, Dipl.-Pädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT), arbeitet in einer neuropädiatrischen Praxis und in eigener Privatpraxis für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Lüneburg. Bei Beltz hat sie das 2025 die 75-Therapiekartensets »Experimente mit Aha-Effekt in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie« und »Depression bei Jugendlichen« (zusammen mit Gunter Groen) veröffentlicht.