10 Ideen für eine gelingende Kontaktaufnahme mit selektiv mutistischen Kindern

Kinder mit selektivem Mutismus wirken oft wie gefangen in ihrem gehemmten Verhalten und der Stille, die sie umgibt. Von sich aus zeigen sie meist keinen Impuls, Kontakt aufzunehmen, wodurch viele Kinder und Erwachsene in der Kommunikation verunsichert sind. Dabei gibt es viele Wege, wie ein gelingender Kontakt hergestellt werden kann.

Kinder mit selektivem Mutismus in der Therapie

Sprache ist in den meisten Therapien ein wichtiges Medium. Da diese bei selektiv mutistischen Kindern zunächst immer fehlt, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Wir Therapeut:innen müssen auf eine andere Weise kreativ werden, non-verbale Kommunikation zulassen und fördern, sowie viele andere Themen mitdenken, bevor sich Spracherfolge einstellen können (und in vielen Fällen ist dies nicht mal der wichtigste Schritt der Therapie). Kinder, die schweigen und erstarren, entgehen vielen Möglichkeiten, sich als selbstwirksam zu erleben. Sie können nur wenig von ihrer Persönlichkeit zeigen, sind bei vielen Aktivitäten ausgeschlossen. Der Leidensdruck kann sehr hoch sein.

Wichtig für die erste Kontaktaufnahme: Selektiv mutistische Kinder therapeutisch zu begleiten, bringt Besonderheiten mit sich. Patient:innen, die nicht sprechen, sich vielleicht in den ersten Gesprächen eher abwenden, nicht auf Ansprache reagieren, erstarren und keinen Blickkontakt aufnehmen, können bei Therapeut:innen Gefühle von Unsicherheit, Abgelehnt-Werden und Hilflosigkeit auslösen. Gerade deshalb sind ein umfangreiches Wissen über das Störungsbild sowie passende Selbstfürsorgestrategien so wichtig.

Je entspannter und sicherer Therapeut:innen sich im Umgang mit selektiv mutistischen Patient:innen fühlen und dies auch zeigen, desto mehr Orientierung bieten sie diesen. Dadurch wiederum können sich die Kinder mehr entspannen. Ein gelingender erster Kontakt wird wahrscheinlicher.

Ein Beispiel aus der Praxis

Der fünfjährige Luis zeigt seit seinem Kindergarteneintritt vor zwei Jahren selektiv mutistisches Verhalten. Als er gemeinsam mit der Mutter zum ersten Mal den Therapieraum betritt, bleibt er nah bei ihr, richtet den Blick ausschließlich auf den Boden, zeigt eine eingefrorene Körperhaltung und schweigt. Auf Ansprache reagiert er nicht. Er sieht sich nicht im Zimmer um, spielt nicht, exploriert nicht. Wie könnten Sie nun therapeutisch vorgehen?

Intervention 1: Situation entkatastrophisieren

Für Kinder mit selektivem Mutismus sind erste Kontakte mit Therapeut:innen deutlich emotional aufgeladen. Sie treffen dabei nicht nur auf eine fremde Person und eine fremde Situation, sondern nehmen zumeist auch an, dass das vorrangige Therapieziel sei, dass sie möglichst schnell beginnen zu sprechen. Der empfundene Erwartungsdruck führt jedoch zur Verstärkung der Angst sowie der allgemeinen Symptomatik. Wichtig ist daher, dass Therapeut:innen der Situation zunächst die Schwere nehmen. Es gibt verschiedene Techniken, um die ersten Kontakte so zu gestalten, dass das Kind etwas aus seiner hohen Anspannung herauskommt. Wichtig ist auch, die eigene Haltung zu reflektieren. Kinder mit selektivem Mutismus sind oft gut darin, Emotionen und Erwartungshaltungen des Gegenübers zu spüren. Je regulierter wir als Gegenüber auftreten, desto besser.

  • »Heute geht es nicht um das Sprechen, sondern wir wollen uns erstmal kennenlernen. Das geht auch ohne Sprechen.«
  • »Zu mir kommen viele Kinder, die erstmal nicht sprechen. Das ist für mich kein Problem.«

Intervention 2: Kinder und Jugendliche bewusst nicht in den Mittelpunkt stellen

Sinnvoll kann sein, das Kind nur kurz zu begrüßen und ihm dann relativ schnell die Möglichkeit zu bieten, zu malen oder zu spielen, während man mit den Eltern spricht. Dabei kann man die Patient:innen so im Zimmer positionieren, dass man sie aus den Augenwinkeln sieht, sie sich aber nicht im direkten Blickfeld befinden. Dann kann man sich den Eltern widmen. Die meisten Kinder und Jugendlichen entspannen sich mit der Zeit, beginnen zu malen, zu spielen oder lassen zumindest ihren Blick durch das Zimmer wandern oder beobachten die Erwachsenen. Auch in Spielsituationen können Therapeut:innen ihre Aufmerksamkeit deutlich einem Kuscheltier oder einer Spielfigur zuwenden und damit den Fokus von den Patien:innen wegnehmen. Dadurch entspannt sich die Situation für diese.

Intervention 3: Kinder und ihre Eltern kurz allein im Zimmer lassen

Wenn es darum geht, zum ersten Mal gemeinsam zu spielen, können wir Therapeut:innen unter einem Vorwand für einen Moment das Zimmer verlassen. Dadurch wird ein Faktor (beteiligte Personen) weggenommen. Den Kindern und Jugendlichen sowie den Eltern wird damit die Möglichkeit gegeben, sich im Zimmer umzusehen oder sogar in ein Spiel zu starten, in welches man sich dann als Therapeut:in einklinken kann.

  • »Ich bin gleich wieder da. Ihr könnt ruhig schon mal schauen, was ihr gerne spielen würdet oder was ihr hier im Zimmer spannend findet.«

Intervention 4: Kommunikationsverantwortung abnehmen und den Druck, sprechen zu müssen, herausnehmen

Eine der größten Herausforderungen für selektiv mutistische Kinder ist es, auf offene Fragen zu antworten. Daher ist es wichtig, direkt zu benennen, wie eine erste Kommunikation gelingen könnte.

  • »Wichtig ist, dass es heute darum geht, uns kennenzulernen und gemeinsam zu spielen. Dabei musst du nicht sprechen. Damit wir uns aber verständigen können, wäre es gut, wenn du mir Zeichen geben könntest, was du möchtest, zum Beispiel Kopfschütteln oder Nicken. Wäre das okay, Luis?«


Falls dies noch nicht klappt und die Patient:innen komplett einfrieren, kann es hilfreich sein, in ein – möglichst vertrautes – Regelspiel mit den Eltern zu starten. Hierbei ist wichtig, keine Erwartungshaltung auszustrahlen (»Komm, spiel schon mit!«), sondern eine einladenden Haltung zu zeigen (»Spiel gern mit, wenn du magst. Du kannst aber auch erstmal zusehen«).

Intervention 5: Einen Rückzugsort anbieten – Safe place

Gerade in den ersten Stunden ist es sinnvoll, den Kindern einen Rückzugsort als sicheren Ort anzubieten. Das kann eine Höhle, ein Spielhaus oder ein selbst gewähltes Versteck im Zimmer sein. Die Kinder dürfen dabei den Kontakt bestimmen, sich zurückziehen und selbst entscheiden: Wann gehe ich raus und wann nicht. Sie dürfen spüren: Jetzt möchte ich kommunizieren, jetzt gerade nicht. Eine wichtige Botschaft an die Patient:innen ist hier: Ich respektiere deine Privatsphäre und werde eine von dir gesetzte Grenze nicht überschreiten!

  • »Schau mal, Luis, hier in die Höhle kannst du ruhig reinklettern und dir das mal anschauen.«

Intervention 6: Handpuppen einsetzen

Kommunikation über ein drittes Medium, wie beispielsweise eine Handpuppe, funktioniert bei Kindern im Vorschulalter meist erstaunlich gut. Mit einer Schneckenhandpuppe können mögliche Gefühle des Kindes in der Interaktion beispielsweise gut gespiegelt werden.

  • In der Rolle der Schnecke könnte man z. B. sagen: »Oje, wo bin ich denn hier gelandet? Hier ist alles neu und ich fühle mich noch ganz unsicher. Ich verstecke mich lieber in meinem Schneckenhaus, da kann mir nichts passieren.«


Viele Kinder finden es dann sogar spannend, die Schnecke aus ihrem Haus herauszulocken.

Intervention 7: An den Interessen der Kinder ansetzen

Ein wichtiges Tool ist es, an den Interessen des Kindes anzusetzen. Diese kann man vorher im Elterngespräch erfragen und gegebenenfalls passendes Spielzeug von zuhause mitbringen lassen.

  • »Oh Luis, ich habe gehört du kennst dich gut mit Autos aus? Schau mal, hier habe ich eine ganze Kiste mit Spielzeugautos, sollen wir mal mit denen spielen?«

Intervention 8: Stille zulassen und alternative Kommunikationsweisen anbieten

Viele Therapeut:innen sind mit der ungewohnten Stille zunächst überfordert und berichten von einem starken Gefühl, diese Stille durch viel Gerede ihrerseits ausgleichen zu wollen. Kinder mit selektiv mutistischem Verhalten sind jedoch sehr sensibel für diese Schwingungen und spüren dann teilweise umso mehr Druck. Wichtig ist, ruhig und entspannt zu bleiben, Momente der Stille zuzulassen und diese gegebenenfalls zu verbalisieren:

  • »Du kannst es gerade noch nicht sagen. Das ist nicht schlimm. Irgendwann schaffst du es. Aber vielleicht kannst du mir ein Zeichen geben, was du möchtest? Wie wäre es, wenn du etwas aufmalst oder aufschreibst?«


Auch die Arbeit mit Bildkarten ist in dieser ersten Phase des Kennenlernens einen Versuch wert. Eine gute Idee ist es, im Therapieraum einige Basic-Bildkarten zur Kommunikation bereitzulegen. Mit deren Hilfe können Kinder und Jugendliche beispielsweise folgende Dinge ausdrücken:

  • Ich muss auf die Toilette.
  • Ich möchte jetzt etwas anderes spielen.
  • Ich habe Durst.

Intervention 9: Lautierungen als Einstieg in die sprachliche Kommunikation nutzen

Im Spiel und im allgemeinen Umgang mit selektiv mutistischen Kindern macht es Sinn, viel zu lautieren. Die meisten Kinder lautieren nämlich, bevor sie das erste Wort sagen. Dies im Therapieraum auszuprobieren, fällt deutlich leichter, wenn wir Therapeut:innen viel und unbeschwert lautieren, gerne auch mit einer Prise Humor – denn gemeinsames Lachen löst körperliche und emotionale Anspannung.

Intervention 10: Unaufgeregte Reaktion auf erstes Sprechen zeigen

Wichtig ist zudem, ein erstes Sprechen nicht übermäßig hervorzuheben oder zu loben, da dies die Kinder verschrecken kann. Stattdessen sollte einfach wie selbstverständlich weitergesprochen werden. Ein vorsichtiges Lob kann dann, wenn es passt, am Ende der Stunde gegeben werden.

  • »Heute hast du so toll mit mir gesprochen. Da habe ich mich richtig gefreut, dass du das geschafft hast!«


Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Ausprobieren der Interventionen!

Die Autorin 

Hannah-Marie Heine, geboren 1991 in Freiburg, ist Heilpädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (VT). Sie arbeitet in einer Frühförderstelle, schreibt Kinderbücher und entwickelt Therapiematerialien. Arbeitsschwerpunkte: heilpädagogische Spieltherapie und Entwicklungsförderung, Elternarbeit, selektiver Mutismus. Bei Beltz hat sie das Buch »Therapie-Tools Selektiver Mutismus im Kindes- und Jugendalter« veröffentlicht.

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