Kennen Sie das? Eine Patientin äußert in der Therapie so etwas wie: »Ich fühle mich so schuldig. Eigentlich ist mir klar, das kann nicht alles meine Verantwortung sein. Aber ich kann das Gefühl nicht ändern. Es lähmt mich und mein Denken. Ich möchte, dass es aufhört.«
In der psychotherapeutischen Behandlung kommt das subjektiv geäußerte Gefühl der Schuld häufig vor. Es kann in seiner adaptiven Form konstruktives Verhalten begünstigen, in seiner maladaptiven Form jedoch Leid aufrechterhalten. Dabei geht es im Folgenden nicht um Schuld im juristischen Sinne.
Wann erzählen Patient:innen über Schuldgefühle in der Psychotherapie?
- Transdiagnostisch: wenn der Abgleich von eigener Handlung und Gewissen negativ erfolgt (z.B. Dilemma-Situationen)
- Störungsspezifisch: weil die Emotion der Schuld ein Teil der Symptomebene darstellt (z.B. Depression, Zwänge, bei Traumafolgestörungen vor allem bei interpersoneller Gewalt)
- Im Sinne der Schuldabwehr: wenn hauptsächlich andere für das eigene Schicksal verantwortlich gemacht werden (z.B. die Eltern sind schuld daran, dass ich mein Leben nicht bewältigen kann)
- Wenn Schuldkompetenz fehlt: wenn Lebensübergänge eine Verantwortungsübernahme mit sich bringen, die den Aufbau von Schuldkompetenz erfordern (z.B. betagte Eltern ins Pflegeheim bringen, was vielleicht der eigenen Wertewelt widerspricht).
Fallbeispiel Frau Y.: Entscheidungsdilemma
Frau Y. kommt in die Therapie, nachdem sie gemeinsam mit ihrem Mann und Behandlern die Entscheidung für einen medizinischen Abbruch im 3. Trimenon gefällt hat. Das Kind war an einem schweren Herzfehler erkrankt, generell war die Lebensfähigkeit des Kindes auch nach möglichen operativen Maßnahmen in Frage gestellt. Es erfolgte ein medizinischer Abbruch der Schwangerschaft. Frau Y. berichtet in den therapeutischen Sitzungen von heftigen Schuldgefühlen, die es ihr nicht erlauben zu trauern oder sich gar um das ältere Kind zu kümmern.
- Möglichkeiten emotionsfokussierten Arbeitens am Beispiel Frau Y: Erarbeiten der Primär- und Sekundäremotionen: Z.B. ermöglicht imaginatives Arbeiten oder die Arbeit mit Stuhldialogen, die Vielfalt der zusätzlichen Emotionen herauszuarbeiten, die der sekundären Emotion der Schuld zugrunde liegen können. So erlebt Frau Y. sehr viel Trauer, Wut auf das Schicksal und Scham. In Stuhldialogen gelingt es ihr, jedem der Gefühle einen Platz zu geben. Die Schuld scheint plötzlich nicht das wichtigste und vordergründigste Gefühl zu sein.
- Sinnhaftigkeit des Schulderlebens: Das Gefühl wird in akzeptierender Weise in einen Erklärungskontext gesetzt. So erlebt Frau Y., dass in der Akzeptanz der Emotion der Schuld ihre tiefe Bindung zum verlorenen Kind fortbesteht.
- Die 4 Phasen eines vergebenden Prozesses anstoßen, welcher sowohl akzeptierende als auch achtsame Aspekte, kognitive Aspekte und Entscheidungsprozesse beinhaltet. Frau Y. konnte durch Übungen der Akzeptanz und Achtsamkeit den erlebten Schmerz immer mehr zulassen. Die Verurteilung des eigenen Handelns konnte dadurch in ein tiefes Bedauern umformuliert werden, was den Prozess der Selbstvergebung begünstigte.
- Stärken des kollektiven Bewusstseins. Die symbolische Aufstellung der Personen im Raum, kann die Bedeutung und Verantwortung jedes Einzelnen nochmals verdeutlichen. Es wurde dadurch für Frau Y. erlebbar, dass die Entscheidung eine geteilte Verantwortung war, dass auch andere Personen wie z.B. der Ehemann ein Recht auf Beteiligung in dieser Entscheidungsfindung hatten.
- Arbeit mit dem Modusmodell: Schuldgefühle gehen oft mit frustrierten Grundbedürfnissen aus der Kindheit einher. Die bewertende Kognition »Du bist schuld« findet sich im Modusmodell in den ›Aktivierten Bewertern‹ und trifft auf die Basisemotion der ›Angst‹ und ›Traurigkeit‹, dysfunktionale Bewältigungsmodi können dann die Entlastung erschweren. Im Fallbeispiel von Frau Y. stand die Stärkung des gesunden Erwachsenen-Anteils im Vordergrund.
Fazit: Gerade, weil die soziale Emotion der Schuld so »kopflastig« ist, möchte der Beitrag Lust darauf machen und eine Einladung sein, kreative und emotionsfokussierte Techniken anzuwenden.
Exklusiver Workshop
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Die Autorin
Dr. Ines Riessen, Psychologische Psychotherapeutin, seit 2000 in mehreren Ausbildungsinstituten als Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin tätig. Schwerpunkte bilden die Themenfelder Essstörungen, somatoforme Störungen, Selbsterfahrung und gynäkologische Psychosomatik. Grundausbildung in systemischer Therapie und Gesprächspsychotherapie. Seit 2008 als Lehrpraxis niedergelassen, Koordinatorin des integrativen Teams für Verhaltenstherapie (IVT). Im Juli 2024 erschien von ihr bei Beltz »Schuldgefühle. Emotionsarbeit in der Psychotherapie«.