In der sicheren Atmosphäre des Spiels verarbeiten Kinder Eindrücke aus ihrem Alltag, bearbeiten innere Konflikte und Gefühle oder entwickeln Fähigkeiten weiter. Das Spielen von Kindern ist eine Art Probehandeln. Die Erfahrungen, die es im Spiel macht, sind für ein Kind im Moment des Spielens genauso intensiv, real und wertvoll wie die Erfahrungen, die es im Kindergarten, in der Schule oder auf dem Spielplatz macht. Außerdem hat das Spiel spannungsregulierende Eigenschaften: Kann das Kind aggressive Impulse auf Spielebene ausleben oder angstbesetzte Situationen nachspielen und wird dabei unterstützend begleitet, wird es auf Realebene besser mit den eigenen aufkommenden Gefühlen und Impulsen umgehen können.
Ablauf einer spieltherapeutischen Sequenz
Eine spieltherapeutische Sequenz folgt klaren Regeln, die der/die Therapeut:in dem Kind als Orientierung vorgibt. Die Rahmenbedingungen werden zunächst gemeinsam besprochen. Idealerweise stehen für eine spieltherapeutische Sequenz Spielmaterialien zur Verfügung, wie beispielsweise: Puppenhaus, Kaufladen, Arztkoffer, Materialien zum Höhle bauen, Verkleidungskiste, Handpuppen, Hartgummi-Tiere, Spiegel, Ritterburg, Spielfiguren.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, eine spieltherapeutische Sequenz zu gestalten. Bei der non-direktiven Spieltherapie wird dem Kind das Spielmaterial zur Verfügung gestellt und es kann sein Spielthema frei wählen. Der/Die Therapeut:in begleitet das Kind in dem (meist sowieso vorhandenen) Impuls, aktuelle Themen zu bearbeiten. Ein anderer Weg wäre, ein Thema vorzugeben oder eine Szene anzuspielen und das Kind dann weiterspielen zu lassen. Man kann das Kind auch bitten, eine Szene aus seinem Alltag nachzuspielen.
Praxisbeispiel
Der 7-jährige Anton steckt mitten in einer Umbruchsphase – die Eltern, die jahrelang heftige Konflikte in seinem Beisein ausgetragen haben, haben sich vor kurzer Zeit getrennt. In der ersten spieltherapeutischen Sequenz entscheidet Anton sich für 2 Drachen, die er gegeneinander kämpfen lässt, sowie einen kleinen Tiger, der zuschauen soll. Dabei wirkt er stark emotional involviert und achtet genau darauf, dass kein Drache gewinnt. Die Drachen brüllen laut, spucken Feuer und verletzen sich gegenseitig. Der kleine Tiger soll sich ängstlich verstecken. Nach einiger Zeit bekommt jeder Drache eine eigene Drachenhöhle. Der Tiger hat kein eigenes Zuhause, aber besucht mal den einen Drachen, dann den Anderen.
10 therapeutische Interventionen für spieltherapeutische Sequenzen
Intervention 1: Unterscheidung von Spiel- und Realebene und So-tun-als-ob-Prinzip
Eine wichtige Aufgabe der Therapeutin bzw. des Therapeuten ist es, für das Kind die Unterscheidung von Spiel- und Realebene immer zu signalisieren. Dies kann durch das Sprechen in verschiedenen Stimmlagen geschehen oder indem man beispielsweise entweder auf die Spielfiguren und die Szene schaut (Spielebene) oder den Blickkontakt des Kindes direkt sucht (Realebene). Damit alle Impulse des Kindes Raum haben dürfen (auch Wut, Ärger, Aggression), kann man sich des So-tun-als-ob-Prinzips bedienen und dies sprachlich ausdrücken: »Die Drachen würden jetzt kämpfen. Der eine Drache wurde vom Feuer getroffen und ist verletzt. Er ruft: Auaaaa!«. Auf diese Weise kann das Kind direkt und klar gestoppt werden, sollte es zu einer Grenzüberschreitung auf Realebene kommen: »Stopp. Ich möchte nicht, dass du mir in echt weh tust. Wir können aber spielen, dass der Drache sich verletzt hat und verarztet werden muss.«
Intervention 2: Regieanweisungen einholen
Um den Spielverlauf nicht willentlich oder unbewusst zu beeinflussen, ist es wichtig, sich genaue Regieanweisungen vom Kind einzuholen. Das Spiel soll vom Kind kommen, damit die inneren Themen so inszeniert werden, wie das Kind es gerade braucht. Außerdem hilft man dem Kind so, sich selbst zu strukturieren und tiefer in das Spielgeschehen einzusteigen.
- »Was würde der Drache jetzt sagen?«
- »Was möchte der kleine Tiger jetzt machen?«
- »Was soll jetzt passieren?«
Intervention 3: Verbalisieren (emotionaler Erlebnisinhalte)
Verbalisieren bedeutet zunächst, Handlungen des Kindes, die aufgestellte Szene oder das Spielgeschehen ohne Wertung zu beschreiben. Dadurch merkt das Kind, dass wir ihm die volle Aufmerksamkeit schenken. Außerdem können wir zusätzlich emotionale Vorgänge und Gefühle des Kindes oder von Spielfiguren benennen. Dadurch unterstützen wir das Kind darin, sich selbst und das Spielgeschehen besser zu verstehen.
- »Die Drachen kämpfen ganz lange und laut.«
- »Es kann anstrengend sein, so viel Streit auszuhalten.«
- »Der Tiger sagt: Ich bin gerade noch ganz überfordert. Wo soll ich denn jetzt wohnen? Habe ich jetzt plötzlich 2 Kinderzimmer, bei jedem Drachen eins?“
Intervention 4: Strukturieren
Um das Kind darin zu unterstützen, seinen/ihren inneren Konflikt oder das Spielthema sowie alle damit verbundenen Gefühle, Erfahrungen und Kognitionen zu sortieren, kann der/die Therapeut:in das Kind zu seinen Spielfiguren und der aufgestellten Szene befragen.
- »Soll der Tiger nur ein bisschen Angst haben oder ganz viel Angst?“
- »Sagt der Drache das mit strenger Stimme oder eher in nettem Tonfall?«
- »Kann der Tiger direkt eintreten oder muss er erst klingeln?«
Intervention 5: Helferfiguren anbieten
Wenn es im Spiel für eine Figur gefährlich wird und das Kind selbst keinen Impuls zeigt, daran etwas zu ändern, kann der/die Therapeut:in aktiv eine Helferfigur anbieten.
- »Oje, der arme Tiger ist ganz verängstigt. Ich glaube, der bräuchte dringend Hilfe. Können wir jemanden aussuchen, der ihm helfen kann?«
- »Die Drachen tun mir jetzt richtig leid. Die streiten ganz heftig und es geht ihnen nicht gut damit. Könnten wir den Zauberer mal fragen, ob er Ideen hat, was den Drachen helfen könnte?«
Intervention 6: Ein Hilfs-Ich anbieten
Ein Hilfs-Ich anzubieten bedeutet, einen funktionalen Umgang mit einer Situation vorzumachen, den das Kind sich abschauen kann. Der kleine Tiger könnte beispielsweise überlegen:
- »Ich muss mich erstmal an die neue Situation gewöhnen. Das kenn ich ja noch gar nicht. Es ist okay, wenn es sich erstmal komisch anfühlt.«
- »Vielleicht kann ich jetzt die Zeit mit den Drachen mehr genießen, weil sie nicht mehr so viel zusammen sind und dadurch nicht mehr so viel streiten. Was würde ich denn heute gerne mit dem Mama-Drachen unternehmen?«
Intervention 7: Positive Selbstinstruktionen etablieren und stärken
Um Selbstinstruktionen zu stärken, kann es hilfreich sein, eine der Spielfiguren ein stärkendes Selbstgespräch führen zu lassen.
- »Der Tiger sagt: Ich bin gestresst! Was kann ich denn jetzt machen, damit ich mich entspannen kann?«
- »Der Tiger sagt: Die Drachen haben selbst entschieden, dass sie keine gemeinsame Höhle mehr wollen. Sie sind erwachsen und treffen eigene Entscheidungen. Ich habe daran keine Schuld!«
Intervention 8: Alternativverhalten aufzeigen
Eine schöne Möglichkeit ist, eine Figur zu spielen, die ein ähnliches Thema wie das Kind hat oder ähnliches Verhalten zeigt. Kinder finden es meist spannend, wenn sie sich in einer Figur erkennen und beobachten dann mit großem Interesse, wie diese an Probleme herangeht.
In dem Praxisbeispiel von Anton könnte der Tiger beispielsweise einen kleinen Eisbären treffen, der erzählt: »Meine Eltern haben sich schon vor ein paar Jahren getrennt. Ich habe mir große Sorgen gemacht, weil sich Alles verändert hat, aber jetzt habe ich mich schon daran gewöhnt. Es ist normal geworden, dass ich manchmal Mama-Zeit und manchmal Papa-Zeit habe. Schau mal, ich habe einen Rucksack mit meinem Lieblingssachen drin, den ich immer dabei habe, egal ob ich gerade bei Mama oder Papa bin. Das hilft mir.«
Intervention 9: Ein Spiel zur Psychoedukation nutzen
Wenn es passt, kann eine Spielfigur einer anderen Spielfigur etwas Wichtiges erklären. Wenn es das Thema des Kindes trifft, wird es die Informationen eingebettet in ein selbst-inszeniertes Spiel gut erfassen können und konzentriert zuhören.
Der Eisbär sagt: »Oje, Tiger. Du bist ja schon total erschöpft. Kein Wunder bei so viel Veränderung! Du machst dir viele Gedanken, was den Drachen helfen könnte. Dabei sind ja die Drachen schon groß und entscheiden selbst, was sie machen wollen. Du kannst also gar nichts dafür und hast nichts falsch gemacht! Es passiert oft, dass Kinder denken, die Eltern trennen sich, weil die Kinder etwas falsch gemacht haben – das stimmt aber nicht. Eltern müssen sich richtig liebhaben, um eine Familie zu sein. Wenn es aber viel Streit gibt und die Liebe nicht mehr da ist, kann es besser sein, wenn sie sich trennen. Das entscheiden die Erwachsenen ganz allein und es hat gar nichts mit den Kindern zu tun!«
Intervention 10: Durch Bewegung und Humor Entspannung anbieten
Wenn Kinder ein belastendes Thema spielen, kann es wichtig sein, Leichtigkeit in die Situation zu bringen, beispielsweise durch Bewegung oder durch das Verhalten einer Spielfigur, mit der das Kind nicht gerechnet hat. Viele Kinder wirken zunächst irritiert, dann vordergründig erleichtert. Durch einen humorvollen Umgang verliert die Situation an Bedrohlichkeit. Gemeinsames Lachen kann die innere Anspannung lösen.
Persönlicher Blickwinkel: die wertvollen Impulse der Spieltherapie
Aus meiner Sicht kann das therapeutisch begleitete Spiel in jeder Therapie mit Kindern neue Impulse bringen und hilfreich sein. Ich bin selbst immer wieder überrascht, wie klar und eindeutig viele Kinder ihre inneren Themen und Konflikte meist bereits in der ersten spieltherapeutischen Sequenz symbolisch darstellen und wie positiv sie auf die therapeutischen Interventionen reagieren. Gerade bei unseren kleinen Patient:innen können spieltherapeutische Sequenzen besonders sinnvoll sein, da sie sprachlich noch wenig ausdrücken können, was in ihnen vorgeht – auf Spielebene dazu umso mehr. Eine gewisse Spielfreude ist beim Anbieten von spieltherapeutischen Sequenzen natürlich von Vorteil, aber auch wenn Sie bisher wenig Erfahrung mit spieltherapeutischen Sequenzen gemacht haben – die Kinder machen es uns oft leicht, einzusteigen. Ich kann also nur dazu ermutigen, das Spiel in der therapeutischen Arbeit als Sprache des Kindes zu nutzen – viel Spaß dabei!
Die Autorin
Hannah-Marie Heine, geboren 1991 in Freiburg, ist Heilpädagogin und aktuell in der Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin am ZPP in Heidelberg. Sie arbeitet in einer Frühförderstelle, schreibt Kinderbücher und entwickelt Therapiematerialien für die Elternarbeit. Arbeitsschwerpunkte: heilpädagogische Spieltherapie und Entwicklungsförderung, Elternarbeit, selektiver Mutismus.