Der tägliche Stress: Prävention und Intervention im therapeutischen Kontext

In unserer täglichen Arbeit treffen wir oft auf Patient:innen, die unter erheblichen Stressbelastungen leiden. Stressauslöser finden sich in den unterschiedlichsten Situationen und Kontexten, sei es in der Familie, am Arbeitsplatz, infolge gesundheitlicher Einschränkungen und vieles mehr. Wie können wir unseren Patient:innen helfen, besser mit Stress umzugehen und krankheitswertige Folgen wie Burn-out zu verhindern?

Zunächst ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir alle Stress kennen und erleben. Lassen Sie mich kurz eine Episode aus meinem Vormittag schildern: Ich stehe im Stau – auf dem Beifahrersitz schreit mein acht Monate altes Kind und mein Vierjähriger hämmert mit den Füßen gegen den Vordersitz: »Weiterfahren! Weiterfahren! Weiterfahren!«, schreit er von hinten. Unaufhörlich. In meinem Kopf kreisen die Gedanken: Ich muss innerhalb der nächsten Viertelstunde den Stau bewältigen, beide Kinder in der Kita abgeben und darauf hoffen, dass ich es pünktlich zur Sitzung schaffe, die ich moderieren muss. Ganz zu schweigen von den Emotionen der Kinder, die ich regulieren soll und meiner eigenen Anspannung, die mit jeder weiteren vergehenden Minute im Auto steigt. Der Puls steigt, die Hände am Lenkrad sind schwitzig, ich bin gereizt und kann mich kaum noch auf die Straße konzentrieren. Stress!

Es ist wohl ein klassisches und einigen Leser:innen vielleicht vertrautes Beispiel dafür, in welchen Situationen wir Stress erleben und wie sich Stress auf physiologischer und emotionaler Ebene äußert.

Aber was ist eigentlich Stress?

Eine wichtige Frage, die es zunächst zu beantworten gilt, um Ansatzpunkte für therapeutische Interventionen zu finden. Stress ist eine automatische Reaktion des Nervensystems auf Bedrohungen. Wenn das Gehirn eine Bedrohung erkennt, aktiviert es das sympathische Nervensystem, das den Körper auf eine »Kampf-oder-Flucht«-Reaktion vorbereitet. Der Hypothalamus signalisiert den Nebennieren Adrenalin und Noradrenalin freizusetzen, wodurch Herzschlag, Atemfrequenz und Blutdruck steigen. Zusätzlich aktiviert der Hypothalamus die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, die zur Produktion von Cortisol führt. Cortisol erhöht den Blutzuckerspiegel, unterdrückt nicht notwendige Funktionen wie das Immunsystem und die Verdauung und verbessert die Gehirnfunktion, um effizient auf die Bedrohung zu reagieren.

Nun – Ist der Stau bedrohlich? Das schreiende Kind? Die nahende Sitzung? Nein – und trotzdem steigt der Stresspegel. Woran liegt das? Es liegt daran, dass wir neutrale Situationen als bedrohlich interpretieren, bei denen uns die nötigen Ressourcen fehlen, diese zu bewältigen. Stressreaktionen entstehen also immer dann, wenn die Anforderungen, die an eine Person gestellt werden, das Maß der verfügbaren Bewältigungsressourcen übersteigen. Schlussendlich ist es nach dem Transaktionsmodell von Lazarus (1984) also die Bewertung, die dazu führt, dass wir Stress erleben oder nicht. Lazarus unterscheidet zwischen der primären und der sekundären Bewertung: Bei der primären Bewertung wird beurteilt, ob eine Situation potenziell bedrohlich ist. Die sekundäre Bewertung betrifft die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Ressourcen, um mit dieser Bedrohung umzugehen. In der Folge tritt entweder eine Stressreaktion ein oder bleibt aus, und verschiedene Bewältigungsstrategien werden eingeleitet. Die vier Komponenten (primäre Bewertung, sekundäre Bewertung, Stressreaktion und Bewältigungsstrategien) stehen in wechselseitiger Beziehung und beeinflussen den gesamten Prozess der Stressbewertung und -bewältigung. Was für die eine Person als stressig empfunden wird, kann für eine andere Person durchaus bewältigbar sein. Die Intensität und Art der Stressreaktionen hängen stark von persönlichen Faktoren wie individuellen Bewältigungsstrategien, Lebenserfahrungen und dem aktuellen Gesundheitszustand ab. 

Warum kurzfristiger Stress manchmal unser Lebensretter ist

Kurzfristiger Stress ist notwendig für unser tägliches Funktionieren, da er uns antreibt und motiviert. In gefährlichen Situationen kann eine Stressreaktion sogar lebensrettend sein: Angenommen, Sie befinden sich in einem Gebäude und plötzlich bricht ein Feuer aus. Der akute Stress löst sofort eine körperliche Reaktion aus: Ihr Herzschlag beschleunigt sich, Ihre Atemfrequenz erhöht sich und Adrenalin wird freigesetzt. Diese physiologischen Veränderungen verbessern Ihre Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit, sodass Sie schnell den sichersten Fluchtweg finden und andere warnen können. Ohne diese stressbedingte Alarmbereitschaft könnten Sie langsamer reagieren, was Ihre Chancen verringern würde, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.

Nun sitze ich wieder im Auto – ohne Kinder, ohne Meeting, höre Musik. Der Stress ist vorüber – ich kann wieder aufatmen. Der Puls beruhigt sich, die Gedanken werden klarer, ich muss über die Situation schmunzeln, auch über die Reste des klebrigen Maisflips, welcher noch in meinem Haar hängt.

Ab wann wird Stress aber ungesund?

Beim Stress fehlt ein Schwellenwert, weil es sich größtenteils um eine subjektive Einschätzung handelt. Diese subjektive Einschätzung hilft, das Stressniveau zu bestimmen – und zwar auf allen unterschiedlichen Ebenen: kognitiv, auf der Verhaltensebene, emotional und körperlich. Vermehrte Reizbarkeit und Schlafprobleme, erhöhter Alkoholkonsum und Rauchen sind Hinweise auf der Verhaltensebene, Konzentrationsstörungen und ständiges Grübeln auf der kognitiven Ebene, sowie Angst und Traurigkeit auf der emotionalen Ebene. Darüber hinaus können auch körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Muskelverspannungen und Magen-Darm-Beschwerden auftreten.

Was sind die Folgen von chronischem Stress? Die Weltgesundheitsorganisation definiert Burn-out als einen Zustand chronischen Stresses, der zu einem Symptommuster der drei Komponenten (1) Erschöpfung, (2) Depersonalisierung und (3) verminderter Leistungsfähigkeit führt. Betroffene fühlen sich ständig müde und ausgelaugt, sowohl körperlich als auch emotional. Sie haben kaum noch Energie für alltägliche Aufgaben und fühlen sich überwältigt von ihren Verpflichtungen (1). Darüber hinaus erleben Menschen, die unter Burn-out leiden, eine Entfremdung ihrer Arbeit und ihrem Umfeld. Sie entwickeln eine negative, distanzierte oder zynische Einstellung gegenüber ihren Aufgaben und Kolleg:innen, was zu einer inneren Abkopplung führt (2). Die verminderte Leistungsfähigkeit (3) beeinträchtigt die Fähigkeit, effektiv und effizient zu arbeiten. Betroffene haben Schwierigkeiten, ihre Aufgaben zu erfüllen, machen mehr Fehler und sind weniger produktiv. Ihre berufliche Leistungsfähigkeit nimmt ab, was oft zu einem Gefühl der Unzulänglichkeit führt. Diese drei Aspekte zusammen definieren Burn-out als einen arbeitsplatzbezogenen Risikozustand, der die Lebensqualität und das berufliche sowie persönliche Leben erheblich beeinträchtigen kann und die Entwicklung psychischer und körperlicher Erkrankungen begünstigt.

Die Herausforderung für uns als Therapeut:innen liegt darin, die Anzeichen von übermäßigem Stress und drohendem Burn-out bei uns und unseren Patient:innen frühzeitig zu erkennen. Da es eben diesen einen allgemeinen Schwellenwert für Stress nicht gibt, ist es wichtig, auf persönliche Stresssignale zu achten und rechtzeitig geeignete Maßnahmen zur Stressbewältigung zu ergreifen, um die psychische und körperliche Gesundheit zu erhalten. Stressprävention sollte deshalb ein integraler Bestandteil unseres therapeutischen Repertoires sein, um nicht nur akute Belastungssituationen zu bewältigen, sondern auch langfristig die Resilienz unserer Patient:innen – aber eben auch unsere eigene – zu stärken. Damit agieren wir auch als ein wichtiges (Rollen-)Modell, inwieweit eigenes Handeln zur Erhaltung der eigenen Gesundheit und der Lebensqualität beiträgt. 

Exklusiver Live-Workshop

Erleben Sie Frau Dr. Mary Princip am 12. Juli, 16:00 bis 19:30 Uhr, in einem exklusiven Online-Workshop »Stressprävention und Burnout« zum Thema im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!

Die Autorin


PD Dr. phil. Mary Princip
ist Fachpsychologin für Psychotherapie und leitet seit 2021 den Forschungszweig der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit im Bereich der Psychokardiologie und Stressfolgeerkrankungen hat sie sich auch in der klinischen Arbeit in diesen Bereichen spezialisiert und betreibt eine eigene psychotherapeutische Praxis. Ihre Erfahrungen und Expertise vermittelt sie in regelmäßigen Workshops, gibt Weiterbildungen im In- und Ausland, schreibt Artikel für Fachleute und Betroffene und verfasst Ratgeber.

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