»Die ADHS-Nuss knacken«: Im Therapiealltag ADHS vielseitig begegnen

Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wetzen auf der Couch unruhig hin und her, folgen mit ihrem Fokus Geräuschen von außen und springen auf, um vielleicht noch einen kurzen Blick auf den landenden Rettungshubschrauber zu erhaschen. Sie erkunden mein Büro, greifen für sie interessante Gegenstände an und zeigen mir offenkundig, wenn sie sich langweilen. Während der klinisch-psychologischen Diagnostik merke ich bei reizärmeren Aufgaben, dass Kinder mit ADHS vermehrt auf die Uhr schauen und beim Reaktionstest impulsiv reagieren. Sie regen sich lautstark über den »blöden« Test, über mich oder über beides auf. Andererseits führt ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn unbeabsichtigt zu Konflikten. Interessant ist, wie sie sich in subjektiv interessante Tätigkeiten vertiefen und spielerisch mit anderen konkurrieren, sobald eine attraktive Belohnung auf sie wartet.

Blickdiagnose ADHS  

Kinder und Jugendliche mit ADHS werden allzu oft auf ihre Defizite reduziert, weil unsere Welt nicht für Menschen mit neurodivergenten Bedürfnissen gemacht ist. Es wird ihnen noch immer ein Mangel an Anstrengungsbereitschaft unterstellt und ihren Eltern vorwurfsvoll nachgesagt, dass sie die Kinder nicht im Griff hätten.
Als erfahrene Psychotherapeutin sehe ich hingegen empfindsame Kinder, die traurig über negative Zuschreibungen und fehlendes Zutrauen sind. Ich spüre bleierne Hilflosigkeit, wenn die Wut bei den Kindern nachlässt und sie versuchen, Kaputtgegangenes wieder zu kitten. Die Eltern leiden gemeinsam mit ihren Kindern. Im Alltag mit der Zusatzbelastung ADHS in liebevoller Beziehung zu bleiben, ist alles andere als leicht. Genau hier setze ich an und unterstütze die Betroffenen.

Schulische Anforderungen erzeugen Leidensdruck

Angesichts der Schulpflicht sind ADHS und aggressives Verhalten im Kindes- und Jugendalter typische Anlässe für die Inanspruchnahme psychiatrischer oder psychologischer Hilfe. ADHS stellt aufgrund seiner Prävalenz mit 3 bis 5 Prozent eine der häufigsten kinderpsychiatrischen Erkrankungen dar und kann bis ins Erwachsenenalter fortbestehen.
Der größte Leidensdruck für betroffene Familien entsteht durch sozial-emotionale und leistungsbezogene Probleme. Denn für einen erfolgreichen Schulbesuch braucht es Fähigkeiten wie z.B. ein funktionierendes Arbeitsgedächtnis, Emotionsregulation, das Setzen von Prioritäten und ein gutes Zeitmanagement. Neuropsychologisch betrachtet handelt es sich dabei um sogenannte Exekutivfunktionen, die bei Kindern mit ADHS nur schwach oder defizitär entwickelt sind. Aus diesem Grund fällt es ihnen schwer, komplexen Alltagsanforderungen gerecht zu werden.

ADHS als entwicklungsneuropsychologische Störung

Die fachliche Sicht auf ADHS hat sich von einer reinen Verhaltensstörung in Richtung einer entwicklungsneuropsychologischen Störung (ICD-11) stark verändert. Der Fokus liegt nun auf den Exekutivfunktionen. Nach wie vor sind jedoch die Kernsymptome Aufmerksamkeitsstörung, Überaktivität bzw. Hyperaktivität und Impulsivität gültig. Diese typischen Symptome sind z.B. daran erkennbar, dass wegen Ablenkung oder Interessensverlust von einer Tätigkeit zur anderen gewechselt wird oder Tätigkeiten nicht beendet werden. Weitere Anhaltspunkte sind exzessive Ruhelosigkeit in Situationen, die Ruhe erfordern, sowie die impulsive, unbekümmerte Missachtung sozialer Regeln in gefährlichen Situationen. Eine hyperaktive oder impulsive Symptomatik verbessert sich häufig im Jugendalter und zeigt sich bei Erwachsenen als leichte motorische Unruhe.

ADHS in der Praxis

In meiner beruflichen Tätigkeit blicke ich aus der klinisch-psychologischen, familientherapeutischen und traumaspezifischen Perspektive auf das Kind. Ich versuche zunächst, meine Klient:innen außerhalb ihres ADHS-Problems kennenzulernen, indem ich mich auf ihre bereits vorhandenen Ressourcen und den Selbstwert konzentriere. 

Hierfür arbeite ich gern mit Bildkarten, um den Kindern ihre individuellen Stärken bewusst zu machen. Danach widme ich mich insbesondere der neuropsychologischen Diagnostik. Die Defizite bei den Exekutivfunktionen setze ich in Verbindung mit dem Schulalltag und den für ADHS-Kinder typischen Problemen. 

  • So kann das Kind beispielsweise verstehen, dass seine explosive Zündschur mit fehlender Impulskontrolle zu tun hat und dass es günstig ist, nachhaltige Strategien zur Emotionsregulation zu etablieren.
  • Die häufig fehlende Flexibilität mache ich sichtbar, indem ich mir vom Kind erzählen lasse, welche ungewollten Planänderungen es gab und wie es darauf reagiert hat.
  • Den Drang, aus normalem Spielen einen Wettbewerb zu machen, erkläre ich damit, dass neurodivergente Gehirne Belohnungen besonders spannend finden.
  • Dem fehlenden Zeitgefühl bzw. Zeitmanagement wirke ich entgegen, indem ich von der Schlafenszeit ausgehe und den vergangenen Tag rückwärts plane. So lernt das Kind besser einzuschätzen, wie viel Zeit es für Schule und Freizeit am jeweiligen Wochentag hat.


Im direkten Kontakt mit Eltern und Lehrkräften beziehe ich mich klar auf die »neue« Sichtweise von ADHS. Diese besteht vor allem darin, Defizite in den Exekutivfunktionen erkennbar zu machen und auszugleichen. Die auf diese Weise gewonnenen Informationen verändern die Sichtweise auf das Kind rasch in eine positive Richtung. Hier bieten sich zum Beispiel folgende therapeutische Maßnahmen an:

  • Einen Rückzugsort zur Selbstregulation finden
  • Unterstützung bei der Konfliktklärung in der Familie anbieten
  • Geeignete Formulierungen von Arbeitsaufträgen an das Kind erarbeiten


In die von mir praktizierte individuelle Psychoedukation fließt auch traumaspezifisches Wissen mit ein, weil ich neben Highlights auch Lowlights, konkrete belastende Erinnerungen sowie traumatische Erlebnisse abfrage. Am liebsten erstelle ich gemeinsam mit den Kindern eine Timeline und wir zeichnen Umzüge, die Geburt von Geschwistern, Verluste, Übergänge sowie andere belastende Ereignisse ein. Den jeweiligen Belastungsgrad erhebe ich durch die Frage: »Wie sehr belastet dich jetzt gerade das Erlebnis auf einer Skala von 0 bis 10, wobei 0 gar keine und 10 die maximale Belastung darstellt?« Dadurch erfahre ich, welche Erlebnisse noch stark nachwirken und später bearbeitet werden sollten. Anhand der Timeline verstehen wir gemeinsam, welche dominante Lebensgeschichte sich entwickelt hat und finden heraus, welche Kapitel umgeschrieben werden dürfen.

Viele Kinder mit ADHS erzählen von ihren Ablehnungserfahrungen sowie schambesetzen Konfrontationen mit Lehrpersonen oder Mitschüler:innen. Sie haben diese Erlebnisse als belastende Erinnerungen abgespeichert, was sich in negativen Kognitionen zeigt. So sagen Betroffene beispielsweise über sich: »Ich bin dumm«, »Ich bin ein:e Versager:in« oder »Ich bin allein«. Mithilfe der Traumakonfrontationsmethode EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) kann ich belastende Erinnerungen und negative Kognitionen mittels bilateraler Stimulation schonend auflösen.

Defizite in den Exekutivfunktionen bearbeiten

Ein zentraler Baustein ist im Anschluss, die Stärkung defizitärer Exekutivfunktionen. Der Sammelbegriff »Exekutive Fähigkeiten« oder »Exekutivfunktionen« beschreibt eine Vielzahl kognitiver Prozesse, die für zielgerichtetes Handeln nötig sind. Kindern und Jugendlichen kann erklärt werden, dass es sich dabei um geistige Fähigkeiten handelt, die das menschliche Denken und Fühlen steuern. Die folgenden drei exekutiven Funktionen gelten als zentral und können im therapeutisch-psychologischen Setting beobachtet und direkt beim Kind erfragt werden:

1.      Inhibitorische Kontrolle: einem starken Impuls kann widerstanden werden.

Beispiel: Ein Kind mit ADHS wird angerempelt. Anstatt sein Gegenüber zu beschimpfen oder einen Streit anzuzetteln, reguliert es sich und geht weiter.
Frage: Wie gut denkst du nach, bevor du handelst?

 2.      Arbeitsgedächtnis: Informationen werden im Gedächtnis behalten.

Beispiel: Ein Kind ist in der Lage, bei den Hausaufgaben direkt weiterzumachen, auch wenn jemand ins Zimmer gekommen ist, um sich die Kopfhörer auszuleihen.
Frage: Wie gut merkst du dir Dinge, die dir aufgetragen werden?

3.       Kognitive Flexibilität: Ein Kind ist in der Lage, auf kurzfristig veränderte Umstände flexibel zu reagieren.

Beispiel: Es kommt damit zurecht, dass der Englischunterricht ausfällt oder der Musiktest im Physikraum geschrieben wird.
Frage: Wie gut kommst du mit Planänderungen zurecht?

Defizite in den Exekutivfunktionen lassen sich durch computergestützte Programme gezielt trainieren. Allerdings fällt Kindern und Jugendlichen der Transfer in den Alltag häufig schwer. Das reine Üben am Bildschirm im Therapiekontext reicht oft nicht aus, um die gelernten Strategien im schulischen oder familiären Alltag anzuwenden. In meiner therapeutischen Arbeit hat es sich daher als hilfreich erwiesen, mit zusätzlichen Materialien zu arbeiten, die konkrete Zielsetzungen und leicht umsetzbare Strategien für den Alltag bieten. Hierfür setze ich gerne mein Kartenset »Squippi Squirrel knackt die Nuss« ein. Es enthält viele Aktionskarten, die zentrale Exekutivfunktionen aktiv fördern und auch zur Reflexion der eigenen Fortschritte anregen. Ein Beispiel: Hat ein Kind Schwierigkeiten mit dem Arbeitsgedächtnis, führt das oft dazu, dass es alle möglichen Dinge, z.B. für die Schule, vergisst. Gemeinsam überlegen wir, wer oder was das Kind hier unterstützen kann. Eine mögliche Strategie auf den Karten ist: »Ich überprüfe mit meinem Stundenplan, welche Fächer ich morgen habe.« So wird das Kind angeleitet abends schon alle Hefte und Bücher in den Ranzen zu packen und die Exekutivfunktionen im Alltag stärken, verankern und nachhaltig festigen.

Der von mir seit vielen Jahren verfolgte Ansatz ist vielseitig. Die auftragsorientierte Herangehensweise ist dabei stets kindorientiert. Es hat sich bewährt, strukturiert und transparent zu arbeiten, damit mir die Kinder ihr Vertrauen schenken. Gemeinsam finden wir geeignete Dreh- und Angelpunkte, um ADHS die Stirn bieten zu können.

Die Autorin

Mag. Sigrun Eder ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und hat sich auf die Begleitung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Sie ist auch Projektleiterin und Autorin der SOWAS!-Buchreihe bei der edition riedenburg. Außerdem hat sie gemeinsam mit Dr. Caroline Oblasser das ADHS-Kartenset »Squippi Squirrel knackt die Nuss« entwickelt. 

 
 
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