»Die Essstörung bin ich« – Das Wozu, Woher und Wohin der Essstörung

Woran lässt sich eine Essstörung erkennen? Vielleicht geht Ihnen durch den Kopf: Auffälligkeiten im Essverhalten, bei der Lebensmittelauswahl und der Bewertung des eigenen Körpers, Angst vor Gewichtszunahme, Essanfälle, Kompensationsmaßnahmen (wie Erbrechen oder übermäßiges Sporttreiben). All dies sind wesentliche Symptome und entsprechend sind Ess-, Purging- und Bewegungsverhalten wie auch das Körperbild wichtige Themen in der Psychotherapie und Beratung. Doch Essen bzw. Nicht-Essen sind nur vordergründig das Problem. In den meisten Fällen sind sie Lösungsversuche für tieferliegende Schwierigkeiten, aus denen die betroffene Person gerade keinen anderen Ausweg weiß. 

Wozu? Die Funktion der Essstörung erforschen

Eine Essstörung kann für die Betroffenen wichtige Funktionen erfüllen: Sie kann Halt und Sicherheit geben, helfen Emotionen zu regulieren und den Selbstwert stabilisieren. Nicht selten identifizieren sich betroffene Personen mit »ihrer« Essstörung: »Die Essstörung bin ich« oder »Ohne die Essstörung bin ich nichts«. Es lohnt sich also die individuelle Funktion der Essstörung zu erkunden. Ein therapeutischer Zugangsweg können Satzergänzungen sein, bei denen die Klient:innen Gedanken und Gefühle in einer Art projektivem Verfahren ergänzen, indem sie Satzanfänge wie »Meine Essstörung…«  oder »Die Essstörung bedeutet für mich…« vervollständigen. Auch kann eine Auswahl möglicher und typischer Funktionen der Essstörung vorgegeben, individuell durch eigene Ideen ergänzt und in eine persönliche Rangreihe gebracht werden. Essstörungen stehen mit wesentlichen psychischen Grundbedürfnissen in Zusammenhang, sie können Selbstwert, Zugehörigkeit, Orientierung und Kontrolle vermitteln. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Zuge der COVID-19-Pandemie: Der Kontrollverlust durch Verbote, Schließungen und Krankheitsängste sowie der Wegfall sozialer Kontakte haben vielen (jungen) Menschen sehr zu schaffen gemacht. Und das ließ die Essstörung als Möglichkeit, Kontrolle und Zugehörigkeit zu erlangen, leider noch attraktiver erscheinen, gerade auch für Menschen, die ohnehin schon Essstörungssymptome zeigten. 

Woher? Subjektive Erklärungen für die Essstörung erkunden

Vom »Wozu«, also der Funktion der Essstörung, ist es nicht weit zum »Woher«, dem subjektiven Erklärungsmodell: Warum habe gerade ich gerade jetzt gerade diese Essstörung? Inwiefern werden biologische, psychologische und/oder soziale und soziokulturelle Faktoren dafür verantwortlich gemacht? Das subjektive Erklärungsmodell beeinflusst, ob, wann und welche Hilfe gesucht wird, es bestimmt Emotion, Kognition und Motivation. Und das nicht nur bei der betroffenen Person, sondern auch bei den Angehörigen. Daher lohnt es sich, das jeweilige »Woher« zu erforschen und gegebenenfalls psychoedukativ zu differenzieren.

Wie weiter? Ambivalenzen aufdecken und auflösen

Die Funktionen der Essstörung stellen im Sinne der Motivierenden Gesprächsführung ihre Vorteile dar. Diese anzuerkennen ist ein wesentlicher Schritt im Beziehungsaufbau mit Klient:innen. Die meisten betroffenen Personen haben unzählige Male gehört, warum sie die Essstörung aufgeben sollten, wie unsinnig, ungesund und gefährlich sie sei. Doch was die Essstörung ihnen bringt, wird selten erfragt und verstanden. Eine Pro-Contra-Liste bietet die Möglichkeit, Vor- und Nachteile strukturiert zu sammeln, alternativ kann ein Brief an die Essstörung als »Freundin« vs. »Feindin« verfasst werden. Eine erlebnisorientierte Möglichkeit ist die Ambivalenzarbeit als dialogische Methode mit Stühlen im Raum, die oft eine tiefere emotionale Auseinandersetzung ermöglicht.

Mit welchen Worten? Sprachliches Framing und Reframing einsetzen

Sprache schafft Wirklichkeit und kann den Genesungsprozess unterstützen – oder hemmen. Von »der Anorektikerin« oder »dem Bulimiker« zu sprechen, setzt Klient:innen und Essstörung gleich und fördert damit die Identifikation mit der Essstörung, die »Essstörungsidentität«. Ein wichtiger Schritt ist daher die Externalisierung, die als systemische Technik die Verlagerung eines Persönlichkeits- oder Störungsanteils nach außen beschreibt. Wenn eine »Anorektikerin« mit der Essstörung kämpft, kämpft sie zwangsläufig gegen sich selbst. Ein »Klient mit Anorexia nervosa« kämpft hingegen nur mit einem Teil seiner Person und kann leichter eine »Genesungsidentität« aufbauen, die viele weitere wichtige Aspekte, Persönlichkeitsanteile und -merkmale umfasst. So kann der/die Klient:in in der Therapie der Essstörung beispielsweise ein Gesicht geben und sie zeichnen oder als Collage gestalten: Wie sieht sie aus? Ist sie eine Person, ein Tier, ein Objekt oder ganz anderes Wesen? Ist sie freundlich oder böse, friedlich oder streng? Weiterhin kann ein »Reframing« negativ konnotierte Begriffe in einen neuen, positiveren Rahmen setzen. Aus »stur« wird »willensstark«, aus »Fehlern« werden »Lernmöglichkeiten«, aus einem »nicht« ein »noch nicht«. Das mag aufs erste Hinhören weichgespült klingen, kann bei der oft vorhandenen starken Selbstabwertung jedoch wichtige neue Akzente für Klient:innen setzen.

Wohin: Die Essstörung als Chance?!

Die Essstörung kann Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten bieten – für die betroffene Person, aber auch für das soziale Umfeld. Wenn die Funktionen erkannt, wesentliche psychische Grundbedürfnisse in den Fokus gerückt und andere, konstruktive Möglichkeiten gefunden werden, um diese zu befriedigen. Der Weg durch die Essstörung ist beschwerlich, aber lohnend. Und nach und nach kann der/die Klient:in so einen guten Platz für sich selbst im Leben suchen und finden  – und daneben auch einen für die (externalisierte) Essstörung.

Die Autorin

Portrait Autorin Dr Eva Wunderer, psychotherapietools Blog, Essstörungen

Prof. Dr. Eva Wunderer ist Diplom-Psychologin und Systemische Paar- und Familientherapeutin (DGSF). Sie lehrt und forscht an der Hochschule Landshut an der Fakultät Soziale Arbeit und hat sich auf die (systemische) Arbeit mit Menschen mit Essstörungen spezialisiert. Sie ist Autorin des Therapiekartensets »Essstörungen«, erschienen 2020 bei Beltz. 

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