Familienbande: Experteninterview zur Familienfokussierten Psychotherapie bei Bipolaren Störungen

Bipolare Störungen mit ihren episodisch wiederkehrenden Phasen zwischen »himmelhoch jauchzend« (Manie) und »zu Tode betrübt« (Depression) gehören zu den chronischen psychischen Erkrankungen, die sowohl die Betroffenen als auch ihre Familien vor enorme Herausforderungen stellen. In den USA hat David Miklowitz einen Ansatz entwickelt, der inzwischen in die deutschen S3-Leitlinien aufgenommen wurde und darauf abzielt, die familiären Beziehungen zu stärken, Kommunikations- und Problemlöseprozesse zu verbessern und eine effektive Rückfallprophylaxe zu erreichen. Welche Idee hinter der Therapie steckt und wie die Therapie aussieht, erläutern die Bearbeiter:innen des deutschsprachigen Manuals Lene-Marie Sondergeld, Lydia Zönnchen und Thomas Stamm im Interview. 

Bipolare Störungen zählen, genauso wie die schizophrenen Erkrankungen, zu den schwereren chronischen Erkrankungen der Psyche. Im Kontext der Schizophrenie wurde lange Zeit der Begriff der »schizophrenogenen Mutter« geprägt und eine frühe Interaktionsstörung zwischen Mutter und Kind als ursächlich für die Entstehung der Erkrankung angenommen. Wie ist das bei der Bipolaren Störung – welche Rolle spielt nach dem heutigen Kenntnisstand die Familie bei der Entstehung der Erkrankung?

Thomas Stamm: Bipolare Störungen sind zwar multifaktoriell bedingt, die genetische Komponente ist allerdings sehr groß, möglicherweise sogar die innerhalb der Psychiatrie ausgeprägteste Komponente. Psychologische Modelle erklären dann zusätzlich den Einfluss der Lebensereignisse, der sozialen Systeme, Umwelten und Kommunikationsformen der Betroffenen.

Lene-Marie Sondergeld: Tatsächlich haben Betroffene und ihre Angehörigen ein großes Bedürfnis zu verstehen, wie es zu den Erkrankungsepisoden kommt, die das Erleben und Verhalten der Erkrankten phasenweise fundamental verändern. Familienfokussierte Psychotherapie (FFT) setzt genau dort an, erklärt diese Zusammenhänge und räumt damit auch mit dem überholten Modell der »schizophrenogenen Mutter« auf, das tatsächlich auch im Rahmen von Bipolaren Störungen häufig von Angehörigen in die Therapie mitgebracht wird.

Lydia Zoennchen: Wir erleben oftmals eine große Erleichterung bei den Teilnehmenden im Rahmen des Psychoedukationsmoduls von FFT, wenn über die Genese der Bipolaren Erkrankung ausführlich gesprochen und ein Störungsmodell vermittelt wird. Es wird dann der Schwerpunkt darauf gelegt, den Familien die vielfältigen Einflussmöglichkeiten nahe zu bringen. Sowohl die Bedeutung einer medikamentösen Prophylaxe, als auch psychosoziale Einflussfaktoren werden thematisiert. FFT arbeitet zum Beispiel intensiv an der Verbesserung der Kommunikation innerhalb der Familie. Dies kann beispielsweise wichtig sein, wenn die Familie die Erkrankten übermäßig bei der Medikamenteneinnahme kontrolliert oder jede »gute Laune« ein Alarmsignal für die Familie darstellt.

Inwiefern unterscheidet sich die Familienfokussierte Psychotherapie bei Bipolaren Störungen von klassischen Formen der Familientherapie oder Elternarbeit?

Lene-Marie Sondergeld: In Familien bipolar Erkrankter gibt es oft viel Spannung, Unverständnis, aber auch Angst, Sorge und Überforderung. Brüche zwischen Erkrankten und Angehörigen sind keine Seltenheit. FFT zeichnet sich dadurch aus, dass die Familie aktiv in die Behandlung einbezogen wird, u.a. um eine gemeinsame Bewältigung der Erkrankung zu erreichen. Dies geht über Angehörigengespräche in der Regelversorgung hinaus. Alle Therapiesitzungen finden gemeinsam mit dem/der Erkrankten und ihren nahen Angehörigen statt. Die Psychoedukation, die Aufarbeitung der zurückliegenden, oft verstörenden Krankheitsepisoden oder die Rolle der Angehörigen bei der Rückfallprophylaxe werden zusammen erarbeitet. Das reduziert Konflikte und stärkt die Familienbande. Sie erhöht auch die Chancen, dass die Betroffenen in Krisensituationen die Hilfe ihrer Verwandten erhalten und annehmen.

Thomas Stamm: Und das ist besonders wichtig, denn letztlich tragen alle Beteiligten schwer an der Erkrankung. Der Aufbau gegenseitigen Verständnisses, die Förderung von Perspektivenwechsel und die ehrliche und offene Kommunikation über Bedürfnisse, Grenzen, Ängste und Intentionen können während einer FFT ideal unterstützt werden.

Lydia Zönnchen: Ein zusätzlicher diagnostischer und therapeutischer Pluspunkt ist, dass Interaktionsmuster und bestehende Beziehungskonstellationen in der Familie von den Behandelnden beobachtet werden können. Stellen Sie sich vor es fällt auf, dass ein Familienmitglied sich immer abfällig lächelnd abwendet, wenn ein anderes spricht oder ein anderes dazu tendiert den Anderen ins Wort zu fallen. Solche Beobachtungen können dann direkt in die Behandlung einfließen.

Jeder kennt sicher aus der eigenen Familie, dass Familienmitglieder manchmal Dinge in guter und fürsorglicher Absicht tun, diese aber in Wirklichkeit wenig hilfreich sind. Welchen typischen Verhaltensweisen begegnen Sie in Ihrer Arbeit mit bipolaren Patient:innen und deren Familien und inwieweit geht die FFT darauf ein?

Lydia Zönnchen: Absolut. Die Muster der innerfamiliären Dynamik unterscheiden sich natürlich nicht grundsätzlich von denen in Familien ohne ein bipolar erkranktes Mitglied. Es kommt zu Konfliktvermeidung, Bevormundung, anklagendem Verhalten und vielem mehr. Dennoch bringt die Erkrankung einige Besonderheiten mit sich: Die Notwendigkeit einer regelmäßigen Medikamenteneinnahme, erlebte Krisen sowie die stetige Möglichkeit der Entstehung einer neuen Krankheitsepisode begünstigen schwierige Interaktionsmuster.

Thomas Stamm: FFT bietet für diese schwierigen Familiendynamiken gezielt Interventionen. Auch wenn jede Familie Individuelles mitbringt, kann es hilfreich sein einen Leitfaden an die Hand zu bekommen, wie therapeutisch schwierige Familiendynamiken aufgelöst werden können.

Lene-Marie Sondergeld: Eine typische Konstellation, mit der in FFT gearbeitet werden kann, ist die eines erkrankten Jugendlichen mit dem Wunsch nach Normalität und Leichtigkeit und einem sehr besorgten Elternteil, das stark in die Autonomieentwicklung des jungen Menschen eingreift. In anderen Familien, in denen ein Familienmitglied womöglich schon viele Episoden erlebt und darüber selbst Hoffnung und Zutrauen verloren hat, kann es problematisch sein, wenn Angehörige „Normalität“ fordern und hohe Erwartungen an das Funktionsniveau stellen. Beide Konstellationen führen häufig zu Konflikten und reduzieren die Lebensqualität aller.

Patient:innen mit hypomanen Phasen genießen häufig ihre Energie, Lebensfreude, Kreativität und Produktivität. Getreu dem Motto »Endlich geht es mir wieder richtig gut« fehlt oft die Motivation für eine Medikamenteneinnahme oder für psychotherapeutische Sitzungen. Wie geht FFT damit um?

Thomas Stamm: Krankheitseinsicht und Therapieadhärenz sind generell wichtige Themen bei Bipolaren Störungen und daher ist die Förderung von Krankheitsakzeptanz expliziter Teil einer FFT-Behandlung. Beides ist bei einer hypomanen Phase mit positivem Affekt nachvollziehbarerweise schwierig aufrechtzuerhalten.

Lydia Zönnchen: Deshalb wird dieses Thema auch proaktiv von den Behandelnden angesprochen. Ein wichtiger Aspekt kann dabei sein, die Erkrankten in ihrer Selbstverantwortung zu stärken, indem über frühere Episoden und Verlaufsmuster gesprochen wird. Bipolar-II-Erkrankte haben mitunter infolge einer Hypomanie schwere depressive Episoden. Ist ein Muster erstmal erkannt, kann das die Therapieadhärenz steigern.

Thomas Stamm: Es kann in diesem Zusammenhang auch helfen, den Blickwinkel mit den Erkrankten gemeinsam auf die Prävention von Rückfällen zu lenken. Nach dem Motto: Durch die Mitarbeit tragen Sie aktiv dazu bei, eine weitere schwere manische oder depressive Episode zu verhindern. Konkret können Patient:innen z.B. durch das Erkennen von Frühwarnzeichen, einen stabilen Schlaf-Wach-Rhythmus oder die Reduktion von Stress im Alltag zu ihrer eigenen Stabilität beitragen.

Welche Familienmitglieder können an einer FFT teilnehmen und wie lange dauert eine solche Therapie? Gibt es auch Vorbehalte vonseiten der Angehörigen oder Patient:innen?

Lene-Marie Sondergeld: Es können alle nahestehenden Familienmitglieder teilnehmen. Eine sinnvolle Voraussetzung ist regelmäßiger Kontakt zur erkrankten Person. So kann von den Interventionen am besten profitiert werden und der/die Erkrankte nimmt die therapeutisch erarbeiteten Veränderungen auch direkt im Alltag wahr. FFT arbeitet auch mit Übungsaufgaben für die Zeit zwischen den Terminen.

Lydia Zönnchen: Wie alle therapeutischen Interventionen kann auch FFT individuell gestaltet werden. Die prototypische Behandlungsstruktur, die von David Miklowitz im US-amerikanischen Raum evaluiert wurde, geht über 9 Monate, wobei zu Beginn wöchentlich, im Verlauf 14-tägig und letztlich monatlich Termine stattfinden.

Lene-Marie Sondergeld: Sie haben auch nach Vorbehalten gefragt. Natürlich gibt es die, sowohl von Seiten der Erkrankten als auch der Angehörigen. Häufig begegnen uns Ängste der Erkrankten, von den Angehörigen nicht verstanden zu werden oder Wut, zum Beispiel nach einer von den Angehörigen initiierten Klinikeinweisung. Wir erleben auch Berührungsängste seitens der Angehörigen, die Krankheit werde erst real, wenn sie sich in einer Therapie damit befassten.

Thomas Stamm: Nicht jede Familie ist bereit, sich auf FFT einzulassen und sich gegenseitig zuzuhören. Es ist sinnvoll, den Druck rauszunehmen und erst einmal ein unverbindliches Erstgespräch zu führen.

Benötigen Psychotherapeut:innen, die Interesse haben, diese Therapieform ihren Patient:innen anzubieten, eine besondere Zusatzqualifikation und wo können Sie diese erwerben?

Thomas Stamm: Es ist sicherlich wichtig, mit dem Erkrankungsbild vertraut zu sein und im Umgang mit schweren psychiatrischen Störungsbildern generell geschult, da im Verlauf einer Therapie mit Rückfällen und Krisen zu rechnen ist, bei denen die Familie auf die Unterstützung der Behandelnden angewiesen ist. Eine gezielte Weiterbildung oder Zusatzqualifikation für FFT gibt es nicht, jeder kann sich mit dem Manual eigenständig einarbeiten. 

Lene-Marie Sondergeld: Erfreulicher Weise gibt es zudem die Möglichkeit, sich in diesem Herbst auf dem DGBS-Kongress in Bielefeld über den Ansatz fortzubilden. Der Kongress der Fachgesellschaft für Bipolare Störungen findet vom 14.9. bis 16.9.2023 in Bielefeld statt. Thomas Stamm wird dort sowohl einen Vortrag als auch einen Workshop zur FFT anbieten.

Die Expert:innen


Lene-Marie Sondergeld ist Verhaltenstherapeutin und arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in der teilstationären und ambulanten Patient:innenversorgung in der Klinik Pacelliallee in Berlin sowie in eigener Privatpraxis. Sie ist als Supervisorin und Dozentin in der Psychotherapieweiterbildung für Verhaltenstherapeut:innen tätig. Zudem ist sie Mitglied der Arbeitsgruppe Affektive Störungen der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane. Ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt im Bereich der Bipolaren Störungen.

Prof. Dr. Thomas Stamm hat eine Professur für Klinische Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg inne und begleitet seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn Betroffene und ihre Angehörige durch die unterschiedlichen Phasen der Bipolaren Störung. Besonders geprägt haben ihn dabei Erfahrungen im Rahmen des Trialogs, der eine andere Perspektive auf das Erleben dieser Erkrankung und auch das eigene professionelle Handeln möglich macht.

Lydia Zönnchen ist psychologische Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane in der Ausbildung von psycholgischen Psychotherapeut:innen tätig. Sie ist an selbiger Hochschule Mitglied der Arbeitsgruppe Affektive Störungen. Zudem arbeitet sie in eigener Privatpraxis in Berlin mit dem Schwerpunkt Transitionsbegleitung.

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