Es ist eine Herausforderung, für viele Therapeut:innen mit Zweifeln verbunden, wurde lange Zeit abgelehnt und kann doch einen positiven Effekt auf den Therapieverlauf haben und die therapeutische Beziehung stärken: Persönliche Fragen und Aufforderungen der Patient:innen, dass ihr:e Therapeut:in Privates über sich preisgibt. Eine Offenbarung kann Vertrauen schaffen, allerdings spielen neben persönlichen Grenzziehungen der Therapeut:innen auch grundsätzliche ethische Regeln eine Rolle.
Ein Fallbeispiel
Manuel F. ist völlig verzweifelt, als Sie ihn im Erstgespräch sehen. Vor einer Woche hat er erfahren, dass seine Frau seit zwei Monaten eine Affäre mit seinem vermeintlich besten Freund hat. Das ganze geplante Leben zerfalle gerade vor seinen Augen, sagt er. »Können Sie sich vorstellen, wie sich das anfühlt? Sagen Sie doch mal, sind Sie auch schon mal betrogen worden?« Heulend blickt Herr F. Sie an und wartet auf eine Antwort.
Das richtige Maß an Selbstoffenbarung finden
(…) Psychotherapie und Beratung sind sehr asymmetrische Situationen: Der Klient soll von seinen intimsten Problemen erzählen, während der Behandler kaum etwas von sich preisgibt; der Klient bekommt Hilfe, der Berater spendet sie; der Klient ist für den Behandler nur »einer von vielen«, während umgekehrt der Klient nur einen einzigen Therapeuten bzw. Berater hat – vielleicht in seinem ganzen Leben. Angesichts dieses Ungleichgewichts und der Besonderheiten der therapeutischen Beziehung verwundert es nicht, dass Klienten mitunter versuchen, durch persönliche Fragen mehr Ausgeglichenheit herzustellen. Berater sollten sich früh in ihrer Laufbahn – und nicht erst dann, wenn sie in einer konkreten Situation erstmalig damit konfrontiert werden – überlegen, was sie von sich preisgeben möchten und was nicht. Natürlich können diese Überlegungen nie erschöpfend sein, sondern nur relativ grob. Es ist jedoch günstig, zumindest eine allgemeine Klarheit darüber zu haben, welche Dinge man ohne Probleme von sich selbst erzählen mag und welche auf keinen Fall.
Von persönlichen und ethischen Grenzen
Es lässt sich natürlich nicht pauschalisieren, welche konkreten Informationen Sie als Berater bedenkenlos preisgeben können und welche nicht. Wie bereits oben angesprochen, muss hier jeder seine persönliche Grenze selbst finden. Doch einige allgemeine Hinweise sind als Orientierung denkbar:
Äußere Merkmale, die man über Sie ohnehin mehr oder weniger leicht in Erfahrung bringen könnte, können in aller Regel ohne Bedenken berichtet werden (Antworten auf Fragen wie »Sind Sie verheiratet?«, »Haben Sie Kinder?« etc.). Weitestgehend unproblematisch sind positive bzw. wertneutrale Selbstöffnungen,
- die insbesondere dazu dienen können, Ähnlichkeit zum Klienten zu betonen, was sich in der Regel beziehungsfördernd auswirkt (Therapeut: »Sie gehen im nächsten Urlaub bergsteigen? Ist ja spannend. Ich bin auch Bergsteiger. Wohin genau gehen Sie denn?«). Nur zwei Dinge sind hier zu beachten: (a) Bei solchen Selbstöffnungen besteht die Gefahr, dass die Behandlung sich zu einer »Plauderei« über die gemeinsamen Interessen hin entwickelt; es ist somit wichtig, dies zu dosieren und bald wieder zum Therapieplan zurückzukehren (s. auch Kap. 17); (b) Gemeinsame Interessen können im Klienten Phantasien gemeinsamer Aktivitäten wecken, was die Möglichkeit einer persönlichen Einladung fördert (s. dazu Kap. 15).
- Eine Selbstöffnung, die dem Klienten Schwächen des Therapeuten offenbart, ist häufig sehr hilfreich für die therapeutische Beziehung, weil sie Vertrauen fördert, den Therapeuten »menschlicher« macht und damit eine zu große und behandlungsbehindernde Imbalance reduziert. Diese Schwächen sollten aber nicht zusammenhanglos angesprochen werden, sondern immer nur dann, wenn der Klient dazu einen Einstieg anbietet. Völlig unbedenklich sind dabei »sympathische« Schwächen (»Ich muss mir auch [das ›auch‹ bezieht sich auf den Einstieg, den der Klient angeboten hat] immer alles auf gelbe Zettel aufschreiben und die an die Tür kleben, sonst vergesse ich alles.«; »Von Computern habe ich auch keine Ahnung und bin immer froh, wenn der Brief endlich aus dem Drucker gekommen ist.«). Sehr wirkungsvoll – im Sinne einer Steigerung der Glaubwürdigkeit des Therapeuten, seiner Authentizität und des Vertrauens in der Beziehung – kann auch das Eingestehen »echter« Schwächen sein, wobei aber beachtet werden muss, dass hier in der Regel nur überwundene Schwächen und Krisen benannt werden (»Ja, ich kann Sie da gut verstehen, ich habe das mit dem Sportmachen auch jahrelang überhaupt nicht auf die Reihe bekommen, bis mir mein Arzt gesagt hat, dass genau daran mein Bluthochdruck lag. Das hat mir einen Riesenschrecken eingejagt, und jetzt halte ich es seit zwei Jahren gut ein, aber es ist echt schwer.«), damit der Klient nicht das Bild eines hilflosen Therapeuten erhält (»Ja, ich kann Sie da gut verstehen, meine Frau hat mich auch gerade vor zwei Wochen verlassen, und ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt überhaupt weiterleben soll. Vielleicht können wir uns da ja gegenseitig helfen?!«).
- Immer zu vermeiden sind Selbstöffnungen, die zu tief in die Intimsphäre gehen und somit unter anderem das Risiko bieten, dass der Klient sich peinlich berührt fühlt und abgeschreckt wird (»Herr X., Sie sind jetzt 35 Jahre alt und hatten noch nie eine intime Beziehung. Ich weiß aus eigener leidvoller Erfahrung, wie schwer das ist. Ich habe dann über ein Internet-Forum eine Frau kennengelernt, die mich mit immerhin auch schon 38 Jahren in die Geheimnisse der Liebe eingeweiht hat.«). Prinzipiell sollten Sie sich bei jedem Impuls einer Selbstöffnung fragen, welches Motiv genau dem Impuls zugrunde liegt. Unbedenklich sind dabei nur Motive, die im Dienst der Behandlung des Klienten liegen (Beziehungsaufbau, Modellfunktion, Motivationsaufbau usw.). Fehlt ein solches klares Motiv, so ist gründlich zu prüfen, ob die Selbstöffnung nicht eher egoistisch motiviert ist (den Patienten beeindrucken, »Fishing-for-compliments«, eigenes Äußerungsbedürfnis befriedigen etc.).
Dos und Don’ts
Dos
- Klärung der eigenen Grenzen: Was will ich sagen, und in welcher Hinsicht will ich mich nicht öffnen?
- Freundliches, aber festes Vertreten der eigenen Grenzen (»Ich kann gut verstehen, dass Sie sich dafür interessieren, aber ich möchte Ihnen sagen, dass mir das zu persönlich ist und ich deshalb auf die Frage nicht antworten werde.«)
- Raum für die Bearbeitung von Kränkung, Zurückweisungsgefühlen etc. bieten und den Klienten darin aktiv unterstützen
- In »einfachen« Fällen einfach antworten (manchmal ist eine Klientenfrage einfach eine Frage, und es steckt nichts Gewaltiges dahinter)
Don’ts
- Schlechtes Gewissen: Seinen Klienten irgendetwas nicht sagen zu wollen, ist etwas »Böses« Lügen, um es sich leichter zu machen (ist nur in den allerwenigsten Situationen erlaubt, die Ausnahme bestätigt hier die Regel!); in der Regel führt das langfristig zu Ärger
- Aus eigenem Peinlich-berührt-Sein heraus aggressiv-abwehrend reagieren (»Meine Güte, wie können Sie mir nur so eine Frage stellen! Ist doch klar, dass ich darauf nicht antworten werde!«)
- Übertriebener »Psycho-Babble«: (»Was glauben Sie, was es mit mir macht, dass Sie mir diese Frage stellen? Und was macht es mit Ihnen, dass ich Ihnen jetzt nicht antworte? Und was glauben Sie, wie ich es erlebe, dass Sie sich nun Gedanken darüber machen, was das mit mir macht?«
- Sich hinter institutionellen oder berufsständischen Positionen verschanzen (»Ich würde Ihnen ja gerne antworten, aber mein Chef/die Berufsordnung erlauben mir das nicht.«)
Leseprobe aus: Noyon ∙ Heidenreich (2020). Schwierige Situationen in Therapie und Beratung - 34 Probleme und Lösungsvorschläge. Weinheim: Beltz, 2020.