Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg stellt für mich eines der unverzichtbaren Werkzeuge in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dar. Die Methode ermöglicht es Familien, Konflikte besser zu verstehen und konstruktive Lösungen zu finden, indem sie die Bedürfnisse und Gefühle aller Beteiligten in den Fokus rückt. Dies ist insbesondere in familiären Konstellationen von Relevanz, in denen wiederkehrende oder tief verwurzelte Konflikte und kritische Verhaltensmuster bearbeitet werden müssen. Empathie stellt dabei den entscheidenden Faktor dar: Erst wenn sich alle Beteiligten verstanden und gehört fühlen, sind sie bereit, Lösungen zu finden. Daher erfordert die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen auch die Einbeziehung aller Beteiligten – zumeist der Eltern. Unsere Aufgabe als Psychotherapeut:innen ist es, die Eltern oder Bezugspersonen darin zu schulen, Kinder in Konfliktsituationen besser zu unterstützen und Verständnis für die Gefühle und Bedürfnisse das Gegenübers zu entwickeln. Verschiedene Techniken (z.B. Kartensets) können dafür angewandt werden. Welchen Unterschied dann der Einsatz der gewaltfreien Kommunikation im häuslichen Umfeld machen kann und so manche eskalierende Situation entschärft, veranschaulicht das folgende Beispiel.
Wenn es laut wird, kracht es!
Im Kinderzimmer wird es plötzlich ungewöhnlich laut. Mutter Melli* ist alleinerziehend und kennt ihre »Pappenheimer«. Sie ist müde von der vielen Arbeit und hätte sich lieber eine kurze Weile ausgeruht. Doch nun sieht sie sicherheitshalber nach, was passiert ist: Sie entdeckt ihre Söhne Jonas (7) und Stefan (9) gemeinsam am Boden ringend. Beide Gesichter sind wutverzerrt. Die Jungs beschimpfen sich lauthals, auf den Wangen sind bereits rötliche Kratzspuren zu sehen.
Melli ruft: »Stopp! Seid ihr noch ganz dicht? Hört sofort auf!« Jonas und Stefan befinden sich noch im Kampfmodus, sodass Mama Melli direkt eingreifen muss. Mühsam entzerrt sie die beiden und bekommt dabei selbst ein paar versehentliche Kratzer ab. Beim Anblick der gegenseitigen Verletzungen sagt sie entschlossen: »Heute gibt es keine Serie mehr. Nach dem Abendessen geht jeder von euch direkt ins Bett!«
In Anbetracht der unliebsamen Konsequenz reagieren die beiden Brüder empört und sagen: »Das ist unfair! Wieso?« Ihre Mutter erwidert: »Seht euch doch mal an, ihr seid ja wie wilde Teufel aufeinander losgegangen! Sogar ich habe was abbekommen. Ganz ehrlich und bei aller Liebe, das akzeptiere ich nicht.«
Mellis Ansage schürt sogleich neuen Zwist, denn die Jungs fangen nun an, sich gegenseitig zu beschuldigen: »Wegen dir kann ich heute nicht weiterschauen, du Esel!«, motzt Stefan. Jonas kontert mit: »Wegen mir sicherlich nicht. Du wolltest mir am Schreibtisch keinen Platz machen und hast mich getreten. Deshalb habe ich mich gewehrt, Doofian.«
»Schluss jetzt, es bleibt dabei«, trennt Melli die Streithähne. »Heute ist ein serienfreier Abend. Lest ein Buch oder übt für die Schule«, sagt sie und zieht die Zimmertür hinter sich zu.
Mellis Söhne streiten hinter verschlossener Tür weiter, während sie selbst das Abendessen vorbereitet.
Was ist passiert?
Jonas und Stefan sind sich in die Quere gekommen, weil jeder am gemeinsamen Schreibtisch etwas machte, das den anderen gestört hat: Jonas wollte malen, Stefan seine Hausaufgaben erledigen. Die Bedürfnisse der Brüder prallten also aufeinander.
Die dabei entstandenen negativen Gefühle haben die Geschwister körperlich ausagiert. Mutter Melli hat zwar interveniert, doch beide Söhne fühlen sich durch die Ansage der Mutter, keine Serie ansehen zu dürfen, gestraft und erst recht missverstanden. Sie fallen neuerlich in das Muster der wechselseitigen Beschuldigungen und werden mit ihren Gefühlen und ihren unerfüllten Bedürfnissen alleine gelassen.
Welche Lösung hilft allen?
Statt ein Verbot aufzuerlegen, kann Mutter Melli ihren Söhnen so begegnen, dass sich diese gehört und verstanden fühlen und darüber hinaus eine Lösung für ihr Problem finden. Die Gewaltfreie Kommunikation (kurz: GFK) nach Marshall B. Rosenberg ist ein bewährter Weg dorthin. Das Gespräch könnte in etwa wie folgt verlaufen:
- »Jonas, ich merke, du bist gerade sehr wütend. Richtig?«, bemerkt Mama Melli, als sie an ihre streitenden Jungs herantritt.
- »Ja«, nuschelt dieser.
- »Und du, Stefan, bist du auch sehr verärgert?«, fragt Melli gezielt nach.
- »Ja, total“, bestätigt Jonas‘ großer Bruder.
- »Du, Jonas, möchtest gerade kreativ sein und hast deine neuen Aquarellfarben ausprobiert«, meint die Mutter zu ihrem Jüngsten.
- »Ja, es regnet, ich kann nicht raus und wollte deshalb unbedingt die neuen Farben ausprobieren. Doch Stefan hatte Angst, dass ich sein Deutschheft bekleckere«, erklärt Jonas.
- Melli wendet sich Stefan zu: »Und du, Stefan, möchtest in Ruhe deine Hausaufgaben erledigen und brauchst Rücksichtnahme von deinem Bruder, stimmt’s?«, fasst sie die Situation zusammen.
- Stefan nickt.
- »Ich verstehe euch beide«, sagt Melli. Sie fragt: »Was könnt ihr nun tun, damit sich eure Bedürfnisse nach Kreativität, Ruhe und Rücksichtnahme erfüllen?«
- Die beiden Brüder überlegen.
- Stefan fällt ein, dass er seine Hausaufgaben auch am Esstisch erledigen kann.
- Und Jonas schlägt vor, dass er die Schreibtischunterlage am besten auf den Boden legt und dort seine Aquarellfarben ausprobiert. Auf diese Weise hat er sogar viel mehr Platz zum Malen.
- Die feindselige Stimmung ist mit einem Mal vorbei.
Fazit
Unerfüllte Bedürfnisse äußern sich in starken Gefühlen, die mitunter auch körperlich ausgetragen werden. Kinder brauchen daher Eltern und Bezugspersonen, die ihnen bei der Bewältigung von Konflikten helfen. Die Aufgabe lautet, herauszufinden, worum es genau geht und wer gerade was braucht. So fällt es Kindern spielend leicht, ihre Gefühle mit Bedürfnissen zu verknüpfen und selbst gewaltfreier zu kommunizieren. Als Psychotherapeut:innen können wir dabei einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung leisten. Durch die Vermittlung grundlegender Prinzipien einer gewaltfreien Kommunikation an die Familien, die sich uns mit ihren Problemen anvertrauen, schaffen wir die Basis für ein besseres Miteinander.
*Name geändert
Die Autorin
Mag. Sigrun Eder ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und hat sich auf die Begleitung von Kindern und Jugendlichen spezialisiert. Sie ist auch Autorin der SOWAS!-Buchreihe (»Was brauchst du?« -Titel zur GFK) bei der edition riedenburg. Außerdem hat sie gemeinsam mit Dr. Caroline Oblasser das Kartenset »Sag es wie die Giraffe« entwickelt.