Meine Patientin kann sich nicht entscheiden – oder will sie nicht?

Unsere Patientinnen und Patienten befinden sich jeden Tag aufs Neue in Situationen, in denen sie vor Entscheidungen stehen. Diese können alltägliche Themen betreffen oder weitgreifender Natur sein und in der Therapie z. B. folgendermaßen geäußert werden:

  • »Ich will eigentlich wieder öfter zum Sport gehen, aber ich komme einfach nicht von der Couch hoch …«
  • »Ich weiß nicht, was ich tun soll: Sage ich meiner Freundin heute Abend, dass mich ihre Aussage letztens echt gestört hat oder verzichte ich des lieben Frieden Willens besser darauf?«
  • »Wie entscheide ich, ob ich eigentlich Kinder haben möchte oder ob sie mit meinen Lebensplänen nicht gut zusammenpassen?«
  • »Das Feierabendbier hin und wieder wegzulassen wäre auf Dauer wahrscheinlich schon besser für mich. Aber es ist auch eine so schöne Belohnung nach der Arbeit ...«


Manche Entscheidungen treffen wir sehr bewusst, andere laufen »unter dem Radar« ab bzw. werden vielleicht nicht bewusst getroffen.

Warum fällt es Patient:innen häufig so schwer, sich zu entscheiden?

Für uns Therapeut:innen und auch dem Umfeld der Patient:innen liegt es manchmal klar auf der Hand, welche die vermeintlich »richtige« Entscheidung ist: »Das viele Arbeiten tut meiner Patientin nicht gut, sie muss endlich kürzertreten!«, »Mein Bruder muss einfach mehr Sport treiben, dann lebt er gleich viel gesünder!«, »Lass dir das doch nicht immer gefallen und gib endlich mal Contra!« können gut gemeinte Ratschläge sein. In der Regel erzielen sie jedoch keine große Wirkung, manchmal sogar eher das Gegenteil (Miller & Rollnick, 2015; Hötzel, 2023). Und auch, wenn wir für uns selbst erfolgsversprechende Lösungsideen für bestimmte Situationen haben, handeln wir nicht immer danach. Aber warum ist das eigentlich so?

Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass der Entscheidungs- oder auch Veränderungsprozess in mehreren Phasen verläuft (Prochaska & DiClemente, 1984):

  • Um die Entscheidung abzuwägen, muss zunächst überhaupt ein Problembewusstsein bestehen. Manchmal reden sich Patient:innen vielleicht selber ein, dass bestimmte Dinge doch gar nicht so problematisch seien, weil das meist kurzfristig deutlich bequemer ist.
  • Wenn das Problem dagegen deutlich ist, ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen ein wichtiger Punkt: Mögliche Konsequenzen werden durchdacht, die Pros und Cons abgewogen.
  • Auch wenn wir uns dann zu einer Entscheidung durchringen, kann dieser Entschluss – selbst nach versuchter Umsetzung – wieder »kippen« und die Patient:innen sind sich plötzlich doch nicht mehr so sicher, was das Beste ist.


Manchmal trauen Patient:innen sich die Veränderung vielleicht auch einfach nicht zu, weil sie an ihren eigenen Kompetenzen und Möglichkeiten zweifeln (Bandura, 1977). Nicht selten verharren sie lange in einer der Phasen und können sich in manchen Fällen sogar nie wirklich zu einer bewusst getroffenen Entscheidung durchringen.

Keine Entscheidung ist auch eine Entscheidung

Das »Sich-nicht-Entscheiden« fühlt sich dabei häufig so an, als würde man sich an einer Weggabelung befinden. Gehe ich nun den einen Weg oder den anderen? Wird die Entscheidung dann nicht bewusst getroffen, ist uns meist nicht klar, dass auch dies eine Form der Entscheidung ist, nämlich für die Beibehaltung des Status quo (Hötzel & von Brachel, 2022a). Man befindet sich also nicht vor der Weggabelung, sondern bewegt sich bereits – wie auch zuvor – auf einem der beiden Wege.

Häufig ist uns dabei nicht offensichtlich, dass auch dieses vermeintliche Aufschieben der Entscheidung Kosten mit sich bringt. Zum Beispiel lässt uns das ständige Grübeln schlechter schlafen oder die gedankliche Beschäftigung mit dem Thema raubt Energie und Konzentration auf das Hier und Jetzt. Eine gedrückte oder gereizte Stimmung können mögliche Konsequenzen sein.

Wie kann ich meinen Patient:innen helfen, sich schneller zu einer Entscheidung durchzuringen?

Der aktuelle Forschungsstand bietet mehrere Ansatzpunkte, die den Entscheidungs- bzw. Veränderungsprozess günstig beeinflussen können (Hötzel & von Brachel, 2022b). Hier ein Auszug dieser: Zunächst einmal sollte ein Problembewusstsein geschaffen werden.

  1. Ein behutsames Vorgehen ist dafür von äußerster Wichtigkeit, um keine Reaktanz hervorzurufen. Die Vermittlung objektiver Informationen und ein offenes Gespräch über diese, wobei Raum für Bedenken gelassen werden sollte, kann ein guter Einstieg sein.
  2. Sofern ein Problembewusstsein vorliegt, können Sie Ihre Patient:innen dabei unterstützen, sich aktiv mit der Entscheidung auseinanderzusetzen. Die Kosten und Nutzen einer potenziellen Veränderung können dem Status quo dafür auf unterschiedliche Weise gegenübergestellt werden. Ein konkretes Ausmalen der Konsequenzen für den einen oder anderen Weg ist beispielsweise eine Möglichkeit. Dies kann ausgebaut werden, indem sowohl die nahe als auch fernere, potenzielle Zukunft betrachtet wird.
  3. Häufig wird auch die Hinzuziehung von bestimmten Lebenszielen oder persönlichen Werten als hilfreich erlebt. Diese können wie ein bildlicher Leuchtturm als Orientierung dafür dienen, was uns im Leben wichtig ist. An unseren Zielen und Werten gemessen wird möglicherweise deutlich, welche Entscheidung die für die Patient:innen (langfristig) richtige Option darstellt.
  4. Letztlich braucht es auch ein gewisses Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, um eine Veränderung zu initiieren. Es kann hierbei unterstützen, den Patient:innen die eigenen Stärken und persönlichen Möglichkeiten zu verdeutlichen, die für einen ersten Schritt notwendig sind.

Welches Vorgehen Sie auch wählen: Eine für Ambivalenzen sensible Gesprächsführung, die nicht ins „Überreden“ verfällt, sondern die Argumente des / der Patient:in aufgreift (Miller & Rollnick, 2015), stellt die wichtigste Basis dabei dar. Wie so oft ist es die empathische, akzeptierende Haltung des / der Therapeut:in, welche die Grundvoraussetzung für das Gelingen einer jeden Technik darstellt.

Literatur

Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change. Psychological Review, 84(2), 191-215.
Hötzel, K. (2023). Gesprächsführung in Psychotherapie und Beratung. Ein Übungsbuch mit Rollenspielen zur Vorbereitung auf die Approbationsprüfung. Berlin: Springer.
Hötzel, K. & von Brachel, R. (2022a). Bewusste Entscheidungen in schwierigen Lebenssituationen treffen: Ein Ratgeber. Göttingen: Hogrefe.
Hötzel, K. & von Brachel, R. (2022b). Änderungsmotivation fördern. In M. Hautzinger, K. Hahlweg, J. Margraf & W. Rief (Hrsg.), Standards der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
Miller, W. R. & Rollnick, S. (2015). Motivierende Gesprächsführung (3. Aufl.). Freiburg im Breisgau: Lambertus.
Prochaska J. O. & DiClemente, C. C. (1984). The transtheoretical approach. Crossing traditional boundaries of therapy. Homewood, IL: Dow Jones-Irwin.

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Erleben Sie Dr. Katrin Hötzel am 03.06.2024 in einem exklusiven Online-Vortrag zum Thema »Was tun, wenn die Änderungsmotivation bei Patient:innen fehlt?« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!

Die Autorin


Dr. Katrin Hötzel, Psychologische Psychotherapeutin im Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum sowie Dozentin an unterschiedlichen Ausbildungsinstituten und Universitäten. 2014 Promotion (Thema: Steigerung der Änderungsmotivation bei Anorexia und Bulimia nervosa). Seit 2014 Zusatzqualifikation zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen sowie staatlich anerkannte Supervisorin. Seit April 2014 geschäftsführende Leitung der Psychotherapie-Ausbildung an der Ruhr-Universität Bochum.

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