Nervös knibbele ich an meiner Wasserflasche, während sich der Seminarraum um mich herum langsam füllt. Wir haben heute unsere erste Selbsterfahrung und ich bin ziemlich aufgeregt. Irgendwie kann ich mir nicht so recht vorstellen, was heute alles auf mich zukommen wird. Wird es wie eine Art Gruppentherapie sein, oder doch ganz anders? Denn es ist ja eine Selbsterfahrung und nicht direkt eine Therapie mit Zielen und einer bestimmten Störung, die bearbeitet werden soll … Eigentlich, so denke ich, kann doch aber gar nicht so viel Neues kommen. Ich habe meine Kommiliton:innen und mich selbst bisher immer als sehr reflektiert wahrgenommen. Schon alleine durch die Inhalte des Studiums und der Therapieausbildung sind wir ja quasi ständig mit psychologischen Themen konfrontiert. So anders wird das ja jetzt auch nicht werden, oder? Mir kommen Gespräche in den Sinn, in denen ich mit Kommiliton:innen über Probleme gesprochen habe, meinen letzten Liebeskummer oder die letzte stressige Prüfungszeit. Aber jetzt ist das Setting natürlich etwas ganz anderes. Schließlich kenne ich hier nicht jede:n und bin auch nicht mit allen befreundet – glücklicherweise sind mir zumindest ein paar Gesichter vertraut. Ich bin mir noch unsicher, wieviel ich von mir preisgeben möchte. Wird es auch um uns als »Privatpersonen« gehen oder »nur« um uns in der Rolle der Therapeut:innen? Werde ich etwas ganz Neues über mich erfahren? Aber wir scheinen zumindest alle in einem Boot zu sitzen: Um mich herum spüre ich ebenfalls eine angespannt-nervöse Grundstimmung.
Sollte ich als Therapeutin meine eigenen Probleme nicht voll im Griff haben?
Die Selbsterfahrungsleiterin betritt den Raum. Sie ist schon etwas älter und wirkt, als würde sie das hier nicht zum ersten Mal machen. Nachdem sie ihren Koffer abgestellt hat, setzt sie sich auf einen freien Stuhl in unserem Stuhlkreis, stellt die Beine nebeneinander auf den Boden, schließt die Augen und atmet sehr tief ein … und wieder aus ... Die Gespräche verstummen allmählich. Das wirkt etwas ungewohnt und merkwürdig auf mich. Als ich in die Runde schaue, sehe ich, dass sich einige meiner Kommiliton:innen der Übung angeschlossen haben. Mit geschlossenen Augen sitzen sie da, scheinbar völlig entspannt, während andere, wie ich, ratsuchend Blickkontakt suchen. Ich muss fast ein bisschen lachen, weil es mir so unangenehm ist und ich nicht weiß, ob erwünscht ist, dass wir alle mitmachen. Die Situation ist neu für mich und ich fühle mich unsicher. Schließlich öffnet die Selbsterfahrungsleiterin wieder die Augen und lächelt breit in die Runde. »Willkommen. Schön, dass ihr da seid«, sagt sie herzlich.
Ich entspanne mich ein wenig. Zunächst sollen wir uns alle kurz vorstellen und erzählen, ob wir ein eigenes Thema mitgebracht haben. Irgendwie habe ich mich darauf eingestellt, dass es eine Art »Programm« geben wird und überlege innerlich hektisch, ob mir etwas einfällt. Reihum werden verschiedene Situationen gesammelt: die Überforderung mit einer Patientin, ein belastender Konflikt in der Klinik. Die Kommilitonin neben erzählt, dass sie sich belastet fühlt, da sich seit ihrer Ausbildung sehr viel in ihrem Freundeskreis verändert hat. Sie habe gemerkt, dass sie nicht mehr so viel für andere da sein könne wie früher, weil sie das nun den ganzen Tag in der Klinik schon sein müsse. Nun habe sie total Angst, ihre Freundschaften zu verlieren. Ganz plötzlich spüre ich einen heftigen Kloß im Hals. Mich überkommt plötzlich so viel Trauer. Vor ein paar Wochen habe ich mich von meinem Freund getrennt und ausgerechnet jetzt holt mich dieses Gefühl mit aller Wucht ein. Tränen bahnen sich ihren Weg. Der Kontrollverlust ist mir in diesem Moment unfassbar unangenehm. »Möchtest du teilen, was gerade in dir vorgeht?«, fragt mich die Selbsterfahrungsleiterin. Offenbar ist mein Gefühlsausbruch nicht unbemerkt geblieben, und nun sind plötzlich einige Augen, wenn nicht gefühlt alle, auf mich gerichtet. Ich fühle mich, als müsste ich vom 10-Meter-Turm springen. Irgendwie ist es doch etwas ganz anderes, sich hier zu öffnen, mit mir fast fremden Menschen, zu einem Thema, mit dem ich mich selbst noch recht hilflos fühle. Und auch mit dem Wissen, dass die anderen, wie ich sonst mit meinen Patient:innen, mit einer psychotherapeutischen Perspektive auf mich schauen. Es ist mir total unangenehm, dass ich meine Gefühle nicht in Schach halten kann. Denken die anderen jetzt vielleicht, dass ich immer weinen muss, wenn mir Patient:innen von ihren Problemen erzählen? Oder noch schlimmer, dass ich meine Probleme nicht genug aufgearbeitet habe, um Therapeutin zu sein? Außerdem ging es gerade gar nicht um mich …
Ich springe ins Ungewisse
Ich zögere kurz, aber springe dann doch vom Turm: »Ja, ich … ich kann sehr gut nachfühlen, wie es dir gehen muss«, sage ich zu meiner Kommilitonin. »Das Thema macht mir auch sehr zu schaffen.« Vorsichtig wage ich einen Blick zu ihr und sehe, dass auch sie sehr traurig aussieht. »Danke, das tut gut zu hören, dass ich damit nicht alleine bin«, sagt sie. Das fühlt sich echt erleichternd an. Mir wird klar: In einem therapeutischen Setting zu sein, ist wirklich noch einmal etwas ganz anderes, als mit vertrauten Menschen über die eigenen Probleme zu sprechen. Man macht sich verletzlich - sehr verletzlich - und das Vertrauen ist eben manchmal nicht einfach von allein da.
Diese Erfahrung möchte ich mir in meine nächste Therapiesitzung mitnehmen, denn viele vergangene Situationen mit meinen Patient:innen erscheinen mir plötzlich in einem neuen Licht: Dass so ein psychotherapeutisches Erstgespräch mit einem wildfremden Menschen richtig Angst machen und Überwindung kosten kann. Wie wichtig es ist, das Gegenüber selbst entscheiden zu lassen, wann sie oder er bereit ist, sich zu öffnen. Dass es helfen kann, bis dahin Halt und Vertrauen zu geben, geduldig Verständnis zu zeigen und Mut zuzusprechen. Ich habe diese Dinge sicher schon vorher irgendwo gelesen. Aber erst jetzt habe ich es so richtig selbst spüren können. Aus dem Nachvollziehen-Können ist eine eigene Erfahrung geworden. Das ist also mit dem «Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung» gemeint: so ein Gefühl von Sicherheit inmitten vom Ungewissen, das ganz langsam beginnt, zu wachsen. Man kann es nicht erzwingen und erst recht nicht voraussetzen. Gerade am Anfang scheint es sehr fragil zu sein, so wie für mich gerade in dieser völlig neuen und fremden Situation. Mir wird dabei sehr bewusst, dass ich soeben um einiges sensibilisierter dafür geworden bin, wie sich meine Patient:innen wohl manchmal fühlen mögen.
In den Herausforderungen Stärke finden
Diese Erkenntnisse waren nur ein paar erste von vielen weiteren, die ich in den folgenden Selbsterfahrungen herausfinden durfte. Manche Entdeckungen waren interessant oder auch positiv überraschend, andere wiederum haben mich auch ganz schön beschäftigt. Manchmal tut sich in einer Selbsterfahrung auch ein Thema auf, das noch weiter bearbeitet und erkundet werden möchte. Doch diese Mühe und schwierigen Gefühle sind es wert, denn ich konnte dadurch immer mehr meine Rolle, Haltung und auch Schwierigkeiten als Therapeut:in und auch darüber hinaus auch als Mia reflektieren lernen und dieser Prozess ist, so denke ich, niemals abgeschlossen. Therapeut:in zu sein, konfrontiert uns regelmäßig mit unseren innersten Themen. Jede:r von uns hat Prägungen, die wir aus unserem Leben mitbringen und darin liegen manchmal echte Herausforderungen, aber auch absolute Stärken. Diese zu kennen, ist ein total wertvolles Geschenk. Ich kann euch daher nur raten: Wagt den Sprung vom 10-Meter-Turm, denn aus der Überwindung wächst so viel Mut!
Eure Mia