Mitgefühlbasierte Ansätze stoßen in jüngerer Zeit auf wachsendes Interesse – vor allem im psychotherapeutischen Kontext. Schon jetzt zeigen zahlreiche Studien, dass ein gesteigertes Selbstmitgefühl beim Bewältigen sowohl körperlicher Erkrankungen als auch psychischer Störungen enorm hilfreich ist. Neben dem Fokus auf die klinische Behandlung von Patient:innen gewinnen auch Konzepte wie »Compassion Fatigue« (Mitgefühlsmüdigkeit), die die Therapeut:innen adressieren, an Bedeutung. Schließlich sehen sich Psychotherapeut:innen in ihrer Arbeit häufig mit hoher Selbstkritik sowie Schuld- und Schamerleben konfrontiert, was zu starker psychischer Belastung und Schwierigkeiten führen kann, ihrem Gegenüber dauerhaft mit Empathie und Wohlwollen zu begegnen. Angesichts dieser Herausforderungen bietet die Integration von mitgefühlsbasierten Ansätzen in die therapeutische Praxis auch eine spannende Chance, für die eigene psychische Gesundheit zu sorgen. Eine Reise, die sich also für beide Seiten lohnt!
In der therapeutischen Arbeit begegnen wir häufig Patient:innen mit massiver, entwertender Selbstkritik, Selbstabwertung und intensivem Schamerleben. Diese Prozesse verhindern häufig die Erarbeitung hilfreicher und unterstützender Emotionen, alternativer Gedanken und Handlungsmotive. Häufig berichten Patient:innen darüber, dass ihnen z.B. alternative Sichtweisen auf ihre Problematik kognitiv durchaus sinnvoll und logisch erscheinen, sich diese jedoch nicht »richtig« anfühlen und es daher schwer ist, diese konstruktiv anzuwenden. Viele Patient:innen mit z.B. frühen traumatischen Erfahrungen, emotionaler oder körperlicher Vernachlässigung haben nicht gut gelernt sich selbst mit Verständnis, Güte und Mitgefühl zu begegnen. Vor diesem Hintergrund wurde die Compassion Focused Therapy (CFT) von Paul Gilbert entwickelt (2013). Sie zielt darauf ab, Mitgefühl für sich selbst und andere in einem therapeutischen Kontext zu fördern. Dabei wird Mitgefühl als »eine Sensibilität für das Leiden bei sich selbst und anderen mit dem Wunsch, es zu lindern oder zu verhindern« verstanden. Dies beinhaltet zwei zentrale Prozesse: Zum einen ist die gezielte Zuwendung, Betrachtung und Anerkennung des eigenen und fremden Leidens elementar. Zum anderen ist die Entwicklung von hilfreichen Motiven und Strategien zur Linderung dieses Leids wichtig. Dabei ist die CFT neben den buddhistischen Traditionen zu Mitgefühl und der buddhistischen Psychologie vor allem durch die Evolutionspsychologie geprägt.
Die eigenen zentralen Schwierigkeiten und Verletzungen zu betrachten und anzuerkennen, ist ein oft komplexer und schmerzhafter Prozess, der viel Mut und Commitment von uns erfordert. Daher wird Mitgefühl auch als eine »wahre Stärke« gesehen und nicht, wie vielleicht in vielen Vorurteilen oder Mythen, als etwas für »Schwache, Selbstverliebte oder Esoteriker«. Mitgefühl unterscheidet sich auch deutlich von reinem Mitleid (Diedrich, 2016), da Mitgefühl ein aktiver und stark veränderungsorientierter Prozess ist.
Was sind die therapeutischen Kernelemente der CFT?
Um das eigene Leid zu verstehen und gezielt Mitgefühl für sich und andere aufzubauen, sind in der CFT zwei Prozesse bedeutsam.
- Zunächst stehen eine spezifische Psychoedukation sowie die Entwicklung eines Störungsmodells im Fokus. Dabei sind zentrale Lernerfahrungen des/der Patient:in, wie zwischenmenschliche Prägungen (z.B. ablehnende, entwertende Elternhäuser), unzureichende Fähigkeiten zur Emotionsregulation sowie individuell typische Verhaltensstrategien im Umgang mit Bedrohungen wichtig. Die CFT arbeitet mit einem spezifischen Modell zur Affektregulation (3-Kreise-Modell). Zentrale Botschaften sind, dass unser Gehirn uns mit vielen Fallstricken und Tricks begegnet und für uns oft schwer zu »managen« ist. Ferner ist eine wichtige Erkenntnis, dass Leiden etwas Universelles ist, was wir alle teilen und teilen werden (Verluste, Krankheit, Krisen) und dass viele emotionale Schwierigkeiten von uns nicht gewählt wurden und somit nicht unsere »Schuld« sind. Jedoch obliegt uns nun »heute« die Verantwortung, alles zu tun, um unser Leid zu lindern und das Leiden der anderen wahrzunehmen.
- Spezifische Interventionen werden sodann im sog. Compassionate Mind-Training eingesetzt (z.B. Stierle, 2022). Eine gezielte Atemübung, die beruhigende Rhythmusatmung (soothing rhythm breathing), bildet die Grundlage vieler Übungen. Hierbei wird zunächst die Intention und Zielsetzung der Übung fokussiert (»Was will ich mit der Übung erreichen? Ziel: Mit meinem Mitgefühlsystem in Kontakt kommen. «), um danach die Atemfrequenz zu verlangsamen, um eine Aktivierung des Parasympathikus zu bewirken. Dabei ist es wichtig, zusätzlich einen freundlichen und mitfühlenden Gesichtsausdruck aufzusetzen und sich selbst mit einer warmen und wohlwollenden Stimme anzusprechen. Eine weitere Art von häufig genutzten Übungen in der CFT sind Imaginationsübungen. So werden gezielt Vorstellungsübungen wie z.B. Mitfühlender Begleiter, Mitfühlende Farbe oder Innerer sicherer Ort eingesetzt. Teilweise werden Ideen aus dem »Method Acting«, einer speziellen Schauspieltechnik, genutzt, um zunächst nur zu »spielen« bzw. »so zu tun, als ob« wie man mitfühlend mit sich selbst umgehen würde, um überhaupt neue Erfahrungen zu ermöglichen. Um Mitgefühl zu fördern, werden zudem spezifische Verhaltens- und Situationsanalysen durchgeführt und emotionsaktivierende Techniken wie mitgefühlsorientierte Stühlearbeit zum Einsatz gebracht. Besonderes Augenmerk liegt dabei stets auf auftretenden Blockaden, Widerständen und anderen hinderlichen Prozessen, welche die Integration und Ausbildung von Mitgefühl erschweren.
Für wen eignet sich ein mitgefühlsbasierter Therapieansatz?
Die Compassion Focused Therapy (CFT) ist besonders hilfreich für Menschen, die unter stark entwertender Selbstkritik, Schamerleben und Schwierigkeiten, für sich selbst hilfreiche und erleichternde Motive zu entwickeln, leiden. Transdiagnostisch können alle Patient:innen davon profitieren, eine mitfühlende Perspektive auf ihre Situation einzunehmen. Der Ansatz ist zudem flexibel anpassbar und im ambulanten und stationären Setting anwendbar. Auch für Therapeut:innen stellt die CFT eine wertvolle Ressource dar, insbesondere wenn sie sich mit der eigenen Selbstkritik, Erschöpfung oder dem Umgang mit schwierigen Emotionen auseinandersetzen müssen.
Die CFT hat sich als therapeutischer Ansatz gut bewährt und liefert spannende und innovative Ergänzungen zu bestehenden psychotherapeutischen Methoden, Menschen darin zu unterstützen sich und anderen mit mehr Mitgefühl zu begegnen. Ich selbst habe in meiner eigenen therapeutischen Praxis die eindrückliche Wirkung von Selbstmitgefühl erlebt. Die Fähigkeit, sich selbst und anderen mit mehr Mitgefühl zu begegnen, kann einen tiefgreifenden positiven Einfluss auf das Wohlbefinden aller haben. Daher möchte ich Sie ermutigen, diesen Ansatz einmal auszuprobieren und die Reise zu mehr Selbstmitgefühl in Ihrer therapeutischen Praxis zu beginnen.
Exklusiver Live-Vortrag
Erleben Sie Prof. Dr. Christian Stierle am 14.02.2023 in einem exklusiven Online-Vortrag zum Thema »Mitgefühl in der Psychotherapie: Einführung in die Compassion Focused Therapy« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!
Literatur
Diedrich, A. (2016). Mitgefühlsfokussierte Interventionen in der Psychotherapie. Hogrefe: Göttingen.
Gilbert, P. (2013). Compassion Focused Therapy. Junfermann: Paderborn.
Stierle, C. (2022). Compassion Focused Therapy in der Praxis. Beltz: Weinheim.
Der Autor
Prof. Dr. Christian Stierle ist Psychologischer Psychotherapeut und Supervisor für Verhaltenstherapie. Er ist Professor für Klinische Psychologie an der Hochschule Fresenius in Hamburg und beschäftigt sich viel mit Zwangserkrankungen und verwandten Störungen sowie mit dem Feld der Psychodermatologie.