Mythen in der Therapie von Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung

Vermeiden Sie es, Patient:innen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) aufzunehmen, weil sie Ihnen »zu anstrengend« sind? Fühlen Sie sich oft erschöpft und unzufrieden, weil die Therapie mit dieser Patient:innengruppe aufgrund häufiger Krisen oft keinen Fortschritt zu machen scheint? Möglicherweise glauben Sie auch, dass BPS-Patient:innen ihre intensiven Emotionen erst regulieren lernen müssen, bevor eine Verhaltensänderung nachhaltig möglich ist. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese gängigen therapeutischen »Mythen« zu dekonstruieren, um Ihnen mehr Neugierde und vielleicht sogar Lust auf die Therapie mit Borderline-Patient:innen zu eröffnen.

Mythos 1: Ich muss vorsichtig mit emotional-instabilen Patient:innen sein, sonst »retraumatisiere« ich sie.

Vielen Therapeut:innen fällt es schwer, ihren emotional-instabilen Patient:innen eine authentische Rückmeldung zu geben, da die Angst besteht, sie könnten dadurch destabilisiert werden. Dies führt häufig dazu, dass keine direkte Ansprache erfolgt, wenn Patient:innen wiederholt Termine ausfallen lassen, die therapeutischen Hausaufgaben nicht erledigen oder sich in den Sitzungen nur auf ihre akuten Krisen konzentrieren, anstatt an den gemeinsam festgelegten Zielen zu arbeiten.

Nicht selten besteht auch der Gedanke, dass man BPS-Patient:innen schonen müsse, um ihnen das Gefühl von Zurückweisung zu ersparen und ihnen eine neue, positive Beziehungserfahrung im Therapiekontext zu ermöglichen. Diese Denkweisen gehen aber oft auch damit einher, dass die Sie als Therapeut:in irgendwann keine Lust mehr auf die Therapiestunden mit Ihren BPS-Patient:innen haben. Vielleicht haben Sie sogar mal eine Therapie beendet, weil es Ihrem/Ihrer Patient:in immer schlechter ging oder Sie selbst immer erschöpfter wurden? Die Patient:innen, die eigentlich eine neue Beziehungserfahrung machen sollten, erleben dann etwas, dass sie seit ihrer Kindheit kennen: Sie werden verlassen, verstehen nicht warum und beziehen es auf sich.

Fehlende Abgrenzungen und fehlende authentische Rückmeldungen der Therapeut:innen erfüllen in diesem Fall die klassische Definition von (in diesem Fall therapeutischem) Vermeidungsverhalten: Das Nicht-Ansprechen oder »Schonen« soll kurzfristig dazu dienen, den Patient:innen die Möglichkeit einer neuen Beziehungserfahrung zu bieten: Sie werden nicht kritisiert, es wird ihnen gezeigt, dass der/die Therapeut:in mit allem umgehen kann. Ergo: Die Beziehung ist sicher und stabil. Langfristig führt das therapeutische Vermeidungsverhalten jedoch dazu, dass Therapeut:innen häufig erschöpft sind und Patient:innen mitunter weiter »kriseln«, statt Fortschritte zu machen.

Nicht selten kommt es dann zum Beziehungsabbruch (vorzeitige Therapiebeendigung), wodurch das Verlassenheitsschema auf Seiten der Patient:innen reaktiviert wird.   Das ursprünglich gut gemeinte Vermeidungsverhalten hat dann zur Folge, dass das Vertrauen des/der Patient:in in sich selbst oder in Beziehungen weiter geschwächt wird, wenn es »nicht mal mit den Profis klappt«.

Für Menschen mit einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung sowie auch für komplex traumatisierte Patient:innen ist Ehrlichkeit häufig wichtiger als Nettigkeit. Denn Ehrlichkeit bietet Orientierung in der Beziehung und stellt damit eine echte neue Beziehungserfahrung dar. Gleichzeitig sind sie sehr kränkungssensitiv und die Balance zwischen Ehrlichkeit und Umsicht zu finden, gehört zu den wunderbaren Herausforderungen in der Therapie mit diesen Patient:innen. Einmal gemeistert, ist sie auf jede andere psychische Störung übertragbar.

Mythos 2: Emotional-instabile Patient:innen müssen lernen, ihre Emotionen abzuschwächen.

Lange Zeit glaubte man, dass es in der Therapie von Borderline-Patient:innen entscheidend sei, ihnen beizubringen, ihre meist übermäßig starken Emotionen herunter zu regulieren. Mittlerweile wissen wir, dass das Gegenteil der Fall ist: Wenn Patient:innen lernen, ihre Emotionen wertfrei (auch frei von »angemessen« vs. »unangemessen«) wahrzunehmen und zu akzeptieren, ist ein schneller und nachhaltiger Therapieerfolg möglich.

BPS-Patient:innen kommen vermutlich mit einer genetisch bedingten erhöhten Vulnerabilität, auch im Sinne der Neurodiversität, zur Welt und erleben in ihrer Kindheit ein erhebliches Ausmaß an (sexuellen, körperlichen und/oder sozial-emotionalen) Traumatisierungen. Die Kombination dieser beiden Faktoren führt auf Seiten der Betroffenen zu einer »traumatisch erlebten Invalidierung«; die Kinder erleben ihre Emotionen und damit ihre Bedürfnisse sowie bestimmte körperliche Zustände als gefährlich, unbedeutend und unwichtig. Emotionen, Bedürfnisse und damit verbundene körperliche Empfindungen gehören zum normalen Dasein eines jeden Kindes und Menschen. Werden sie als gefährlich erlebt, kommt es zur Ausbildung von Grundannahmen wie »Ich bin nicht in Ordnung, so wie ich bin«, »Ich bin zu viel«, »Ich bin anders als die anderen«, die später in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter zu erheblicher Selbstdestruktivität und entsprechenden dysfunktionalen Verhaltensweisen wie Suizidalität, Selbstverletzungen etc. führen können.

In der Therapie ist es essenziell, dass Borderline-Patient:innen lernen, ihre Emotionen wieder wahrzunehmen, sie akzeptieren lernen und die Therapie einen Raum bietet, in dem das Erleben jedweder Emotion sicher möglich wird. Gleichzeitig ist es unabdingbar, dass Patient:innen schnell lernen, destruktive Verhaltensweisen wie Suizidalität, Selbstverletzung, Hochrisikoverhalten, restriktives Essverhalten etc. schnell zu stoppen. Was vermeintlich widersprüchlich klingt, wird durch die radikale Akzeptanz aller Emotionen und den sich nur dadurch öffnenden Zugang zu inneren Werten und Wünschen erst möglich. Im besten Fall entwickeln sich Überzeugungen, die sich wie folgt äußern: »Ja, ich erlebe Ohnmacht und existenzielle Scham und Selbsthass. Das ist so. Und ich kann gleichzeitig mein Handeln auf meine Werte ausrichten und stabile Beziehungen aufbauen, mich selbst verwirklichen und ein gesundes Leben führen.«

Fazit

Durch das Hinterfragen und Dekonstruieren solcher Mythen, die sich um die Behandlung von BPS-Patient:innen ranken, können wir authentische sowie bereichernde therapeutische Beziehungen, in denen sich beide Seiten entwickeln können, ermöglichen. In dem Sinne hoffe ich, Ihre Neugierde geweckt zu haben und die Herausforderungen, die diese Arbeit mit BPS-Patient:innen zweifellos mit sich bringt, als Chance zu begreifen.

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Die Autorin

Dr. Charlotte Auer, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin (VT), Supervisorin und DBT-Trainerin und DBT-Supervisorin. Nach ihrer Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin und Promotion in Marburg war Charlotte Auer am Universitätsklinikum Lübeck therapeutisch tätig, mit dem Schwerpunkt auf der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und komplexer Traumatisierung. Heute arbeitet sie in eigener psychotherapeutischer Praxis in Berlin. Sie gibt Fortbildungen für Therapeut:innen, PiAs und Pädagog:innen an verschiedenen Ausbildungsinstituten, therapeutischen Einrichtungen und Beratungsstellen. Ihre Schwerpunktthemen sind Achtsamkeit und Emotionen, ACT, DBT und Imaginationsarbeit.

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