Vom Widerstand zur Zusammenarbeit: Ein Fallbeispiel für die Therapiemotivation mittels therapeutischer Kinderbücher

Immer wieder erleben wir, dass Kinder, bei denen vor allem das Umfeld Probleme sieht, Therapeut:innen oder Ärzt:innen vorgestellt werden. Es gibt zahlreiche »Beschwerden« von Eltern und/oder Lehrer:innen über das Verhalten des Kindes. Das Kind selbst zeigt in diesen Fällen oft zunächst nur wenig oder kein Problembewusstsein. Die Eltern wiederum haben aufgrund der vielen Alltagsprobleme oft den wertschätzenden Blick auf das eigene Kind verloren. Mit der Vorstellung in der Praxis ist dann meist ein Kränkungserleben verbunden: Das Kind erlebt sich als abgelehnt, nicht richtig oder »reparaturbedürftig«. Wir sehen Kinder mit hoher emotionaler Belastung.

Oft hat man als Behandler:in den Impuls, mit den Eltern zu arbeiten, einen wertschätzenderen Blick auf das Kind zu fördern und den Eltern zu helfen, das »Wording« gegenüber dem Kind bezüglich der Therapie zu optimieren. Wenn man sich in solchen Fällen zunächst überwiegend auf die Arbeit mit den Bezugspersonen konzentriert, hat man es mit zwei Fallstricken zu tun.

  1. Zum Zeitpunkt der Erstvorstellung sind die Familiensysteme oft hochbelastet. Es fehlen den Eltern die Ressourcen, um den Blick auf das Kind und die eigene Kommunikation effektiv verändern zu können.
  2. Zudem ist häufig zu erleben, dass die Kinder ein Misstrauen gegenüber dem/der Behandler:in entwickeln, wenn zu viel Gesprächszeit ohne ihre Anwesenheit mit den Eltern verbracht wird. Das Kind ordnet den/die Therapeut:in dann schnell dem Team zu: »Erwachsene, die gegen mich sind«

Therapeutische Allianz bilden: Das Kind zunächst in den Mittelpunkt rücken

Auch wenn die Arbeit mit Bezugspersonen insgesamt ein wichtiger Baustein der Therapie ist, empfehlen wir in solchen Fällen, sich zunächst auf die Arbeit mit dem Kind zu konzentrieren, und es als Verbündeten zu gewinnen. Schaffen Sie für das Kind einen angenehmen und sicheren Ort im Therapiesetting. Das Kind sollte sich gesehen fühlen und Spaß an den Terminen gewinnen. Falls Sie einen schematherapeutischen Behandlungsansatz planen, eignen sich verschiedene Optionen zum Einstieg. Je nach Interessenslage des Kindes ist ein Beginn mit Bewegungselementen, Spielfiguren, Fingerpuppen, Zeichnungen, Videoclips oder auch Büchern möglich. In folgendem Fallbeispiel haben wir den Therapiebeginn mit dem Kinderfachbuch »Wer ist Waru Wombat« begleitet.

Fallbeispiel Leonie*: Eifersucht und Geschwisterrivalität als Therapieanlass

In der Praxis wurde die 8-jährige Leonie von ihrer Mutter vorgestellt. Anlass der Vorstellung war eine massive Eifersucht auf den 4-jährigen Bruder, die zu ausgeprägten Konflikten im Familiensystem führte. Leonie entzog sich in der Wahrnehmung der Eltern jeglicher pädagogischer Gegenregulation. Sie schilderte beispielsweise über Zimmerarrest, wie dankbar sie sei, in ihrem Zimmer ihre Ruhe zu haben und dort stundenlang lesen oder basteln zu können. Die Eltern waren genervt vom »kreativen Chaos«, das danach im Zimmer herrschte sowie der kompletten Verweigerung der Tochter, das Zimmer aufzuräumen oder Ordnung zu halten. Die Eltern übernahmen das Aufräumen regelmäßig, da Leonie mit massiven Wutanfällen reagierte, wenn sie beispielsweise ihre Schere im Chaos nicht mehr finden konnte.

Leonie zeigte sich im Erstkontakt emotional sehr belastet und in einer ausgeprägten Verweigerungshaltung. Dass ihre Eltern sich dazu entschieden hatten, sie in einer psychotherapeutischen Praxis vorzustellen, empfand sie als eine weitere Ungerechtigkeit. Das Familiensystem wirkte insgesamt eher misstrauisch bezüglich therapeutischer Unterstützung und war diesen Schritt nur gegangen, da die Ressourcen der Familie zur Problembewältigung zunehmend erschöpft waren und sie keinen anderen Rat mehr wussten. Der 4-jährige Bruder konnte nicht anderweitig betreut werden und war deshalb beim Erstgespräch und zahlreichen Folgeterminen anwesend, so dass ein ruhiges Gespräch auf Erwachsenenebene kaum möglich war. Leonie war zudem eine sehr kluge und aufgeweckte 8-Jährige, die vehement protestierte, wenn hinter ihrem Rücken über sie gesprochen wurde. In der Schule hatte Leonie kaum soziale Probleme. Die schulischen Leistungen waren sehr gut, sodass die Lehrer bereit waren, bei häufig vergessenen Materialien sowie dem Dazwischenrufen der richtigen Antwort ein Auge zuzudrücken. Eine besondere Stärke lag in ihrer schon sehr hohen Lesekompetenz.

Wir entschieden uns zunächst mit Leonie zu arbeiten, um einen besseren Zugang zu ihr zu bekommen. Leonie vermied im Erstkontakt demonstrativ Blickkontakt und antwortete einsilbig. Spielangebote lehnte sie ab. Hier ein Auszug aus dem damaligen Gespräch mit Leonie:

T: »Ich habe den Eindruck, du empfindest es als extrem ungerecht, zu mir geschickt worden zu sein.«
L: »Ja.« 
T: »Ich glaube in deiner Situation würde es jedem so gehen. Gerne würde ich noch genauer verstehen, was bei euch zuhause los ist.«
L: »Da gibt es nichts zu erzählen. Mein Bruder bekommt immer was er will, und ich bekomme den Ärger.«
T: »Du kennst mich noch nicht so gut, und da kann ich gut verstehen, dass du erst einmal zurückhaltend bist. Trotzdem habe ich das Gefühl, dir geht es nicht gut, und würde gerne herausfinden, wie ich dir gut helfen kann. Was hältst du davon, wenn wir erst mal eine Geschichte zusammen lesen.«
L: »OK.«

Das Potenzial kreativer Ansätze und Bilderbücher in der Kindertherapie

Mit dieser zaghaften Zustimmung begannen wir mit Leonie den Einstieg in die gemeinsame Arbeit über ein therapeutisches Kinderbuch (»Wer ist Waru Wombat«). In dem Moment, in dem der Fokus plötzlich nicht mehr auf ihr als Person lag, entspannte sich Leonie sichtlich. Beim gemeinsamen Lesen übernahm sie das Vorlesen einzelner Abschnitte und konnte so stolz ihre Stärke, das Lesen, demonstrieren. Es fand zudem schnell eine Identifikation mit dem Wombatkind Waru statt. Es machte ihr Freude, mehr über Wombats zu erfahren. Wir malten und bastelten viel mit den Vorlagen aus dem Buch, was dazu  führte, dass Leonie zunehmend lieber zu ihren Terminen kam. In den Buchpassagen, in denen der Wombat Waru über seine emotionale Belastung und Konflikte in der Familie berichtete, zeigte sich Leonie sehr betroffen und wirkte selbst den Tränen nahe. Nach einiger Zeit begann sie von sich aus, Parallelen zwischen Warus Erleben und ihrem eigenen zu ziehen und darüber zu berichten. Folgende Textpassage fand bei Leonie dabei eine besondere Resonanz: »Am Abend konnte ich vor lauter Kummer nicht einschlafen. Heute war ein richtig doofer Tag. Nichts, aber auch gar nichts hatte geklappt. Früher, als ich noch klein war, nahmen mich Mama und Papa in den Arm und trösteten mich, wenn ich wütend wurde, weil etwas nicht geklappt hat. Aber jetzt bekam ich immer nur Ärger. Meine Schwester Alinta wurde viel mehr gekuschelt. Das Ganze machte mich furchtbar traurig.« [aus Rakow & Seufert, 2024, »Wer ist Waru Wombat?. Ein Kinderfachbuch für die Schematherapie«, S. 18]

Leonie öffnete sich nun zunehmend in den Sitzungen. Erstaunlicherweise zeigte sich in ihren Berichten nicht nur die von den Eltern geschilderte Geschwisterrivalität, sondern – trotz guter Noten – ein hoher Leidensdruck in der Schule. Leonie besuchte eine sehr unruhige Klasse und litt unter der Unruhe und Lautstärke in der Klasse sowie massiver Langeweile und Unterforderung. Ihre Lieblingsaufgaben im Wochenarbeitsplan hatte sie immer schnell bereits in der Schule erledigt und sich danach gelangweilt.  Unliebsamere Aufgaben erledigte sie zuhause auf dem Boden, während sie herumturnte und Hörspiele hörte.  

Therapeutisch war der frühe Einsatz der Bilderbuchgeschichte ein Eisbrecher: Es ermöglichte nicht nur einen emotionalen Zugang zum Kind, sondern lieferte auch für die Diagnostik wertvolle Informationen. Am Ende der Diagnostikphase konnte neben der emotionalen Störung mit Geschwisterrivalität ADHS mit im Vordergrund stehender Unaufmerksamkeit bei Hochbegabung diagnostiziert werden.

Die Bedeutung der Elternarbeit im weiteren therapeutischen Prozess

Im weiteren Verlauf der Therapie war es auch wichtig, Raum für die begleitende Elternarbeit zu finden. Hier war es sehr günstig, Leonie als »Expertin« den Eltern berichten zu lassen, was sie bislang über die Schematherapie und sich selbst herausgefunden hatte. Ergänzend war es wichtig, auch ohne den kleinen Bruder einen ruhigen Raum für Gespräche auf Erwachsenenebene zu schaffen. Die Eltern brauchten besondere Unterstützung dabei, einen ressourcenorientierten Blick auf Leonie zu bekommen und auch das sehr hohe Begabungsniveau anzunehmen. Parallel begab sich Leonie auch mit Hilfe ihrer Eltern auf eine Veränderungsexpedition (ähnlich wie Waru Wombat in der anfänglich gelesenen Geschichte). Es gelang ihr besser, impulsive Verhaltensweisen in familiären Konflikten zu reduzieren und eine Reizüberflutung durch rechtzeitiges Aufsuchen von Rückzugsräumen zu vermeiden. Eskalationen mit Zimmerarrest konnten durch eine Tagesstruktur mit Ruhezeiten sowie selbständigem Rückzug bei sich anbahnender Überforderung abgelöst werden. Auf diese Weise verbesserte sich das Familienklima deutlich. Insgesamt zeigt Leonies Fall, wie wichtig es ist, das Kind in den Mittelpunkt der therapeutischen Arbeit zu stellen und zunächst zu ihr/ihm eine sichere und vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen. Bilderbücher, therapeutische Spiele und andere kreative Mittel können hier Eisbrecher sein, um einen ersten Zugang zum Kind zu finden und es behutsam in den therapeutischen Prozess einzubinden. Sie bieten die Möglichkeit, schwierige Themen auf eine indirekte Weise anzusprechen, sodass sich das Kind weniger unter Druck gesetzt fühlt und leichter über seine Gefühle sprechen kann. Besonders wenn Misstrauen und Widerstand vorhanden sind, können diese kreativen Ansätze offene Kommunikation fördern und den Therapieverlauf kindgerecht und kreativ unterstützen. Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Ausprobieren.

*Name wurde von der Autorin verändert.

Die Autorin

Dr. Claire Seufert steht kurz vor Ende ihrer Weiterbildung zur Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie. Nach einer Tätigkeit an der KJPP des Universitätsklinikums Freiburg und der KJPP Lörrach arbeitet sie aktuell in einer kinderpsychiatrischen Praxis. Sie hat Weiterbildungen in Schematherapie, Verhaltenstherapie, Multifamilientherapie, IPT-A, DBT-A, Traumatherapie, Triple P und Progressiver Muskelrelaxation absolviert. Neben ihrer ärztlichen Tätigkeit gibt sie Seminare in der Psychotherapeutenausbildung und ist Mutter zweier Kinder.

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