Weil die Toten in uns weiterleben: Transgenerationale Themen in der Psychotherapie

Der Totensonntag (am kommenden Sonntag, den 26.11.2023) als Tag der Erinnerung kann auch in der Psychotherapie zum Thema werden und eine Brücke sein, um zu entdecken, wie Prägungen unserer Vorfahren unser heutiges Leben beeinflussen. Nicht bei jedem löst dabei die Vorstellung, dass die Toten in uns weiterleben, ein wohliges Gefühl aus. Viele verbinden mit ihren verstorbenen Vorfahren nicht nur liebevolle Erinnerungen, denn allzu oft stehen Konflikte sowie Leid und überlieferte Traumata im Vordergrund. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sagt der Volksmund, und tatsächlich haben wir unsichtbare Lasten von unseren Vorfahren übernommen und leiden so an den vererbten Wunden ihrer schmerzlichen Erfahrungen.

Traumatische Erfahrungen unserer Vorfahren können an die nächsten Generationen »vererbt« werden. Dazu gibt es inzwischen zahlreiche Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Bereichen der Neurowissenschaft, Psychologie und Epigenetik. Dabei ist die Entwicklung verschiedenster Symptome möglich. Auf der Ebene der psychischen Erkrankungen finden wir Angststörungen, Zwänge, Sucht, Essstörungen, Depressionen, bei Kindern oft auch ADHS-Symptome, Verlustängste und vieles mehr. Jedes Symptom ist »passgenau« und muss in seiner Gänze verstanden werden, damit es sich auflösen darf.

So beleuchte ich mit meinen Patient:innen sorgfältig die eigene Biografie und die Erfahrungen anderer Generationen. Nicht selten wiederholen sich Symptome und »passen« oft besser zu dem Schicksal einer Vorfahrin als zur Lebensgeschichte meiner Patientin. Hat eine Großmutter vielleicht Sohn und Mann im Krieg verloren und diesen Schmerz nicht verarbeitet, kann ihr Enkel Herzprobleme oder eine Angststörung entwickeln. Bestimmte Fragen helfen, dem Thema auf die Spur zu kommen und den »Treuevertrag« mit den Vorfahren zu erkennen.

Fragen können helfen, diese Themen zu beleuchten

  • Zu welchem Vorfahren und seiner/ihrer Geschichte hätten diese Symptome auch gepasst?
  • Gibt es ein Tabu in dieser Familie?
  • Was wird verschwiegen und weshalb? Ist die Wahrheit zu schmerzhaft, zu schambesetzt oder wird sie verdrängt?
  • Gibt es Täterschaft in den vergangenen Generationen? Muss diese aus Loyalität verleugnet werden?


Fast jeder von uns hat unsichtbare Bindungen zu seinen Vorfahren. Nicht immer sind wir uns dessen bewusst, aber wenn wir uns auf die spannende Reise zu unseren Vorfahren begeben, können wir unserer Treue zu unseren Ahnen und Ahninnen begegnen.

Flaschenpost aus der Vergangenheit

Eine Übung aus meinem Kartenset »Transgenerationale Therapie. 75 Therapiekarten« ist ein guter Einstieg, das eigene unbewusste Wissen über Ahnen zu aktivieren.

Stellen Sie sich vor, Sie stünden an einem Gewässer – am Meer, am Fluss, an einem See … Sie entdecken eine Flaschenpost und finden heraus, dass diese vor vielen Jahren von einer Ihrer Vorfahren an Sie adressiert wurde und nun bei Ihnen angekommen ist. Öffnen Sie in Ihrer Vorstellung diese Flaschenpost und lesen Sie, was darin geschrieben steht.

  • Wer schreibt Ihnen?
  • Lebt diese Person noch?
  • Was will er/sie Ihnen unbedingt mitteilen?
  • Einen Ratschlag oder ein Geheimnis?
  • Wie alt war diese Person beim Verfassen der Nachricht?
  • Haben Sie diesen Ahnen persönlich gekannt?
  • Wie war/ist Ihr Verhältnis zu ihr/ihm?


Auf diese Weise lassen sich unkonventionell neue Eindrücke über die eigenen Ahnen sammeln. Sie werden überrascht sein, wie viel unbewusstes Wissen wir über die Mitglieder unserer Familie in uns tragen, auch wenn wir sie nie persönlich kennengelernt haben. Wenn der/die Verfasser:in der Flaschenpost noch lebt, bietet sich natürlich auch ein persönliches Gespräch mit ihm/ihr an, bei dem Sie mal ganz andere Fragen stellen können.

Macht die transgenerationale Weitergabe von Freud und Leid überhaupt Sinn?

Das ist eine berechtigte Frage, über die ich mir oft den Kopf zerbrochen habe. Der für mich schlüssigste Gedanke ist: Die Natur hat uns Lebewesen mit der Fähigkeit ausgestattet, einmal erworbene Fähigkeiten und gute Überlebensstrategien an unsere Nachkommen weiterzugeben, damit diese darauf aufbauen können und Fortschritt und Progression optimiert werden. Doch was nicht gelöst werden konnte, weil Bedingungen zu schlecht waren, oder Bewältigungsmöglichkeiten fehlten, soll deshalb in der nächsten und übernächsten Generation bearbeitet werden können und so die blockierte Entwicklung auflösen. Dazu wird das Trauma wieder »belebt« und nicht selten wiederholt es sich, um endlich integriert werden zu können.

Zusammen mit Ingrid Alexander haben wir bereits 1994 ein Konzept zur Auflösung transgenerationaler Weitergabe entwickelt und es Generation-Code® genannt, weil uns deutlich wurde, dass nur der Blick auf mehrere Generationen erklären kann, wie die Familienwunde entsteht und weitervererbt wird.

Der Treuevertrag des Kindes und sein Versuch, die Ahnen zu heilen

Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie existentiell darauf angewiesen, dass ihre Bedürfnisse von einfühlsamen und liebevollen Bindungspersonen erfüllt werden. Kinder spüren instinktiv, welche Defizite und unerfüllten Sehnsüchte ihre Eltern schwächen und stellen sich ganz in den Dienst der »Elternrettung«. Sie vermeiden es, ihre Eltern an deren größter Wunde (ihrem Trauma) zu berühren, versuchen alles, diese zu stabilisieren, indem sie sogar die eigene Entwicklung zurücknehmen und ihre Gefühle in sich verschließen. So verzichten sie beispielsweise auf ihre Autonomieentwicklung, wenn es die Eltern ängstigt oder überfordert, oder sie entwickeln bestimmte Eigenschaften, die anderen Familienmitgliedern gefehlt haben, um als Vorbild zu dienen und Ausgleich zu schaffen.

Obwohl auf diese Weise alle gemeinsam an der Heilung der Generationen »arbeiten«, drängt das alte Leid der Vergangenheit bis in die Zukunft, wo es sich sogar wiederholt und zu neuem Trauma führen kann.

Wir müssen dieses Wissen in Therapie und Beratung berücksichtigen, um ganzheitliche Veränderungen zu erreichen. Nur wenn das innere Kind die Treue zum Schmerz der Eltern und den Vorfahren aufgeben kann, wird eigene Entwicklung nachhaltig gelingen. Die Versorgung der Ahnen ist auf einer imaginären Zeitebene immer noch möglich und mit idealen Umständen, idealen Personen und Möglichkeiten kann das Potenzial der Ahnen und Ahninnen wieder sichtbar werden und verkrustete Familienmuster aufweichen. Ein neuer Blick auf das eigene Geworden-sein wird möglich und Glaubensmuster können neuen Zukunftsvisionen weichen.

Der Totensonntag ist ein kirchlicher Feiertag, an dem wir unseren Toten gedenken sollen. In vielen Religionen werden die Ahnen und Ahninnen geehrt, weiß man um die Bedeutung unserer Vorfahren für unser heutiges Leben. Werfen Sie doch einmal selbst oder mit Ihren Patient:innen einen dankenden Blick auf die eigenen Ahn:innen. Es werden nicht nur Leid und Trauma weitergegeben, sondern auch Talente, Fähigkeiten, erfolgreiche Überlebensstrategien und mehr. Sammeln Sie auf kleinen Zetteln alles, wofür Sie dankbar sind, und überlegen Sie, welche Wünsche und gute Ratschläge Ihre Vorfahren Ihnen mitgegeben haben.

So erkennen Sie, dass nicht nur schwere Last weitergegeben wurde, sondern auch Stärkung und Resilienz vererbt wird.

Ihre Sabine Lück

Die Autorin


Sabine Lück, Dipl.-Soz.-Päd., Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Kammerzertifikat in Systemischer Therapie, Lehrende für Systemische Therapie und Beratung und Systemische Therapeutin (DGSF), Supervisorin und Coach (DGsP). Leitung des Instituts für Transgenerative Prozesse (ITP) Wendeburg. Kassenärztliche Zulassung seit 2003 für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Tiefenpsychologie und Systemische Therapie). Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin für Systemische Therapie und Tiefenpsychologie. Bei Beltz hat sie die Kartensets »Transgenerationale Therapie. 75 Therapiekarten« und »Wachstumsschritte. Rituale, Übungen und kleine Abenteuer in Therapie und Beratung« veröffentlicht. Frau Lück ist zudem Autorin einiger Bücher zum Thema Transgenerationale Psychotherapie (u.a. »Ahnen auf die Couch. Den Generation-Code® entschlüsseln und vererbte Wunden heilen«, 2016, Scorpio-Verlag; »Vererbtes Schicksal«, 2023, Kailash-Verlag).

 

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