Wenn Worte Gefühle verdecken: Intellektualisierung im Therapieprozess

Die psychotherapeutische Praxis birgt zweifellos viele Situationen, die gemeinhin als herausfordernd oder schwierig gelten. Im ersten Beitrag unserer Reihe »Schwierige Therapiesituationen« geht es darum, wie Patient:innen geholfen werden kann, die dazu neigen, ihre Probleme zu intellektualisieren. Unsere Autoren kennen Dos und Don’ts, um Betroffene zu unterstützen, ihre Gefühle stärker zu spüren.

Ein Fallbeispiel

Der Blick in den Terminkalender offenbart, dass als nächster Patient Dr. Helmut K. kommt, den Sie nur »den Philosophen« nennen. Sie fühlen sich schon müde und angestrengt, noch bevor die Stunde angefangen hat, denn Sie wissen, dass jetzt wieder 50 Minuten Analysieren, gedankliches Sezieren und komplexes Nachvollziehen auf mindestens vier ineinander verschachtelten Verständnisebenen vor Ihnen liegen. Sie hören Herrn K. im Geiste auf eine Ihrer Interventionen schon mit »Das ist eine interessante Frage!« antworten, meist seine Einleitung für einen längeren elaborierten Monolog – außer, Ihre Frage lautet beispielsweise »Wie haben Sie sich bei … gefühlt?«, denn da blickt er Sie nur hilflos an.

Zum Hintergrund

Mitunter werden Behandler in der Psychotherapie mit Klienten konfrontiert, die zu ihren Emotionen keinen guten Zugang zu haben scheinen oder die aus anderen Gründen nicht bereit dazu oder in der Lage sind, sich den emotionalen Anteilen ihrer Problemsituation zuzuwenden. Eine Möglichkeit der »Abwehr« in solchen Situationen ist das Intellektualisieren. Solche Klienten beherrschen es sehr gut, ein Problem in all seinen Details gründlich zu analysieren und zu elaborieren, doch die emotionale Beteiligung dabei bleibt auf der Strecke. Besonders prekär kann die Lage dann werden, wenn ein akademisch hochgerüsteter Klient auf einen sehr kognitiv und analytisch geprägten Behandler trifft (zwei Akademiker unter sich!). Dann besteht die Gefahr, dass die Behandlung zu einem intellektuellen Machtkampf degeneriert (»Wer ist der Schlauere von uns beiden?«). Eine falsch verstandene sokratische Gesprächsführung (vgl. dazu Stavemann, 2015) kann beispielsweise einen solchen Trend noch weiter verstärken.

Geeignete Interventionen

In solchen Fällen kann der Behandler versuchen, den Schwerpunkt der Interaktion zu verschieben, und das in einer wohlwollenden und ressourcenorientierten Art und Weise: »Ich finde es gut, wie präzise und treffsicher Sie Ihre Schwierigkeiten beschreiben können. Ich würde gerne noch mehr darüber erfahren, wie Sie sich dabei gefühlt haben.« Solche Schwerpunktverschiebungen weg vom Intellekt können auch gut durch die Fokussierung auf den Körper eingeleitet werden. »Was haben Sie in Ihrem Körper gespürt, als … passiert ist?« statt »Was haben Sie gedacht, als … passiert ist?«
Je höher der Intellektualisierungsgrad eines Klienten ist, desto eher sind nach unserer Ansicht therapeutische Vorgehensweisen, die stark auf den Körper fokussieren, günstig. Sehr fruchtbar erscheint uns auch die Kombination von achtsamkeitsbasierten Ansätzen mit körperfokussierten verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen. Wenn nötig – falls Klienten auch durch weniger konfrontative Interventionen nicht in Bewegung kommen – kann man deutlicher die eigene Wahrnehmung anbieten:
»Aus meiner Sicht haben Sie beim Berichten von … sehr sachlich, fast schon emotional unbeteiligt gewirkt. Wenn ich mir … vorstelle, dann löst das bei mir … (Emotionen) aus. Wie geht es Ihnen damit?« Vielen Klienten kann bereits wirkungsvoll geholfen werden, wenn ihnen ein Zugang zum Bereich des Erlebens ermöglicht wird: Dabei sollen sie durch entsprechende Interventionen auf die sinnliche Erfahrung zurückgeführt werden, die häufig zugunsten des intellektuellen Zuganges zur Welt vernachlässigt wird. Es geht konkret also darum, wieder bewusster und gezielter die Sinnesorgane einzusetzen und sich dieser Erfahrung zu widmen. Besonders wertvoll erscheinen uns hierbei Riechen, Schmecken und Fühlen, weil diese Sinne häufig sehr direkt mit emotionalem Erleben in Zusammenhang stehen. Als Übung kann – nach entsprechender Vorbereitung, also Klärung der Notwendigkeit, einen stärkeren Zugang zur Emotionalität zu finden – in diesem Sinne zum Beispiel »bewusstes Baden« verordnet werden: »Bei vielen Menschen sind Fühlen und Riechen gute Wege zur Emotion. In diesem Sinne wäre eine gute Idee, wenn Sie sich einmal Zeit und Ruhe für ein langes und ausgiebiges Bad nehmen könnten. Welche Düfte riechen Sie sehr gerne? Dann könnten Sie sich einen Extrakt besorgen und diesen ins Wasser geben.« Häufig wird es nötig sein, entsprechende Klienten erst einmal im achtsamen Erleben zu unterweisen (vgl. z. B. Kabat-Zinn, 1990, 1994), damit die Erfahrungen bei einem solchen »bewussten Bad« überhaupt wahrgenommen werden können. Auch Übungen aus der Euthymen Therapie (auch »Genusstraining« genannt) sind bei Klienten, die Schwierigkeiten haben, einen direkten Zugang zum eigenen Erleben zu erhalten, sehr hilfreich (vgl. Lutz, 2009). Nach der Formulierung sog. »Genussregeln« (z. B. »Genuss braucht Zeit«) werden die Patienten angeleitet, sich auf konkrete sensorische Erfahrungen wie Geschmack, Geruch etc. zu konzentrieren.

Bei alledem sollte nicht übersehen werden, dass Intellektualisieren möglicherweise auch ein Kontrollmechanismus sein kann, um überwältigende Emotionen nur dosiert oder auch erst einmal gar nicht lebendig werden zu lassen (beispielsweise bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung). In diesen Fällen sollte der Behandler nicht zu früh versuchen, das Intellektualisieren zu durchbrechen, um den Klienten nicht zu überfordern.

Dos und Don’ts

Dos

  • In Maßen: Dumm stellen (»Wie Sie das gerade beschrieben haben, das hörte sich ziemlich beeindruckend an, aber ich bin irgendwie nicht so richtig mitgekommen. Das war ziemlich komplex. Können Sie mir das vielleicht auch einfacher beschreiben, zum Beispiel indem Sie mir sagen, wie genau Sie sich bei … gefühlt haben?«)
  • Auf den Körper beziehen (»Wenn Sie nicht sagen können, wie Sie sich gefühlt haben, können Sie denn sagen, wo im Körper Sie es gefühlt haben?«)
  • Achtsamkeitsübungen, Sinneserfahrungen, Leibesübungen

Don’ts

  • Einsteigen in den intellektuellen Machtkampf (»Ich werde dir schon zeigen, wer hier der Schlauere ist. Ich verstehe alles, und egal, wie komplex du es ausdrückst, ich finde garantiert eine noch komplexere und elegantere Paraphrasierung dafür!«)
  • Innerliches Abschalten (»Ich lass ihn einfach reden, irgendwann wird er ja wohl fertig sein.«)

Leseprobe aus: Noyon ∙ Heidenreich: Schwierige Situationen in Therapie und Beratung - 34 Probleme und Lösungsvorschläge. 

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