An jeder Ampel einmal lächeln: Achtsamkeitsübungen als Selbsterfahrung

Ein erwachsener Mensch atmet etwa 20.000 Mal pro Tag – doch wie oft nehmen wir unseren Atem wirklich bewusst wahr? Meist erst dann, wenn er beeinträchtigt ist. In der psychotherapeutischen Arbeit ist Achtsamkeit eine wertvolle Ressource, um Patient:innen dabei zu unterstützen, zu lernen, ihre Emotionen besser zu regulieren, um Grübelprozesse zu reduzieren und flexiblere Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Zahlreiche Studien belegen, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit haben.

Vor allem der Atem bietet eine einfache, aber kraftvolle Möglichkeit, Achtsamkeit in den Therapieprozess zu integrieren. Er kommt und geht – wie Gedanken, Emotionen, Lebenssituationen. Indem Patient:innen lernen, sich auf den Atem zu fokussieren, können sie den gegenwärtigen Moment bewusster erleben. Ich vergleiche einen Atemzug gerne mit dem Leben: So wie das Leben kommt der Atem, verweilt einen Moment und entschwindet wieder. Die Praxis der Achtsamkeit unterstützt den Übenden/die Übende darin, das Leben auszuschöpfen. Dies bedeutet nicht, den ganzen Tag »irgendwie achtsam« zu sein, sondern die achtsamen Augenblicke bewusst zu wählen und zu Routinen des Alltags werden zu lassen.

Eine kleine Achtsamkeitsübung für Sie als Therapeut:in

Gönnen Sie sich einen Moment der Selbstreflexion: Ich lade Sie ein, das Lesen einen Augenblick zu pausieren und sich Ihrem Atem ganz bewusst zuzuwenden, um Kontakt zu sich selbst aufzunehmen. Bitte begeben Sie sich in eine Haltung, in der Sie die nächsten Momente angenehm verweilen können.

Sagen Sie zu sich selbst »einatmen … ausatmen … einatmen … ausatmen …«

Falls Sie gemerkt haben sollten, dass Ihr Geist abgeschweift ist – herzlichen Glückwunsch – dies war bereits ein Augenblick der Achtsamkeit. Ein Moment der bewussten Entscheidung, sich mit Ihrem Gewahrsein wieder auf den Atem zu konzentrieren. Diese bewusste Erfahrung des Autopiloten bietet im Alltag viele Möglichkeiten der Handlungsfreiheit. Die Kultivierung von Achtsamkeit im Alltag stellt die Basis für Veränderung dar. Die praktischen Erkenntnisse sind unumgänglich, da das abstrakte Konzept nur mit eigenem Erleben erfahrbar wird. Die regelmäßige Praxis des offenen Gewahrseins auf den Augenblick bedeutet, mutig allem den Willkommensteppich für all das auszubreiten, was sich an Geistesqualitäten (Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen) in einem speziellen Moment des Lebens zeigen mag.

Diese kleine Übung veranschaulicht, wie einfach Achtsamkeitspraxis im Alltag angewendet werden kann. Und auch Ihre Patient:innen profitieren davon, wenn auch Sie selbst in Ihrer therapeutischen Haltung achtsam verankert sind. Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis bedeutet, allen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen mit Offenheit zu begegnen – auch den unangenehmen. Es geht nicht darum, alles gutzuheißen, sondern das, was ist, wohlwollend zu registrieren. Das fördert Selbstmitgefühl, Handlungsfreiheit und innere Klarheit.

Fragen Sie sich:

»Wie geht es mir in diesem Moment? Wie geht es mir wirklich in diesem Augenblick meines Lebens?«

Durch diese Reflexion können Sie auch Ihre Patient:innen dabei unterstützen, neue selbstfürsorgliche Handlungsspielräume zu entwickeln.

Versetzen Sie sich selbst auf Basis dieser Erkenntnis in die Lage, neue selbstfürsorgliche Handlungsspielräume zu etablieren. Unter den vielleicht aufgewühlten Wellen des Meeres hindurchtauchen und erfahren, dass es in der Weite des Meeres unterhalb der aufgewühlten Oberfläche eine unendliche Weite und Ruhe zu erleben gilt. Es bedeutet nicht, alles gutzuheißen, was sich zeigen mag, jedoch allem zu gestatten, da zu sein, ohne etwas haben oder nicht haben zu wollen. Die Erkenntnis zu gewinnen, dass uns Menschen alle miteinander verbindet, dass wir Freudvolles und auch Leidvolles in unserem Leben erfahren. Es geht bei der Praxis der Achtsamkeit darum, sich noch besser kennenzulernen, wertschätzende Erfahrungen zuzulassen. Es gibt kein Ziel zu erreichen, da sich das Ziel außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks befindet. Stattdessen geht es darum, sich neugierig allem zuzuwenden. Sich der Herausforderungen, der eigenen Stärken bewusst zu werden, Selbstwirksamkeit willkommen zu heißen und mit diesem Engagement von der Wirkung der praktischen Erfahrungen zu profitieren. Eine Haltung der Dankbarkeit und Wertschätzung zu kultivieren. »Dieses Kultivieren benötigt Zeit und viel Fürsorge. So kultiviert sich der innere Garten in seiner Zeit durch wohlwollendes Gießen.

Ist das leicht? Nein.

Muss das geübt werden? Ja.

Wann kann Achtsamkeit im Alltag umgesetzt werden? Jederzeit!« (Schug, 2025, S.5)

Seien Sie also ein Vorbild für Ihre Patient:innen und üben Sie sich selbst in Achtsamkeit!

Praktische Achtsamkeitsimpulse für Ihre Arbeit mit Patient:innen

Achtsamkeit muss nicht auf streng formelle Meditation beschränkt sein. Kleine Übungen können Patient:innen helfen, mehr Achtsamkeit in den Moment zu bringen. Hier einige Anregungen, die Sie in Ihre therapeutische Arbeit integrieren können:

Jeder Augenblick ist wertvoll

Ermutigen Sie Ihre Patient:innen, bewusst Freude zu kultivieren. Sie könnten gemeinsam reflektieren. Instruieren Sie Ihre Patient:innen, bewusst auf die freudvollen Dinge zu achten, die ihnen in ihrem Alltag wiederfahren.

  • Sie haben ihr Lieblingsgetränk mit allen Sinnen genossen.
  • Sie freuen sich über die Schönheit des Sonnenuntergangs.
  • Sie erfreuen sich an einem Ausflug in die Natur.


Wirkung: Die Patient:innen nehmen bewusst Kontakt zu den freudvollen Dingen in ihrem Leben auf. Sie verändern ihre Wahrnehmung und öffnen sich den kleinen, schönen Momenten des Lebens.

An jeder Ampel einmal lächeln

Alle roten Ampeln, denen Ihre Patient:innen auf ihrem Weg begegnen werden, sind die Hinweisgeber für diese Achtsamkeitsübung:

  • Sobald sie auf dem Weg einer roten Ampel gegenüberstehen, entsteht ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht. Dieses Lächeln darf auch gern unauffällig sein, sodass nur die Patient:innen selbst die Entspannung der eigenen Gesichtsmuskulatur bemerken.
  • Die Endorphin-Ausschüttung, die durch das Lächeln angeregt wird, führt dazu, dass sich die Stimmung verbessert und sich der Stresspegel reduziert.


Wirkung: Die Patient:innen nehmen sich selbst gegenüber eine positive Grundhaltung ein.

Einladung zum Glücklichsein

Üben Sie mit Ihren Patient:innen einen freundlichen und behutsamen Umgang mit sich selbst. Leiten Sie sie an, ihre Haltung zu sich selbst zu verändern, indem sie bewusst auf die strengen Worte »Ich muss …« verzichten, und diese ändern in »Ich darf …« oder »Ich kann …«.

Wirkung: Durch die wohlmeinende Wortwahl werden Selbstabwertungen reduziert und es kann eine Distanz zu den Bewertungen hergestellt werden.

Die kurzen Momente der Achtsamkeit

Schlagen Sie Ihren Patient:innen vor, Alltagsroutineaufgaben zu nutzen, um innerlich zur Ruhe zu kommen. Der Kreativität sind bei der Auswahl der passenden Übungen keine Grenzen gesetzt. Empfehlen Sie, auch hier wieder auf eine tiefe Atmung zu achten. Die Patient:innen sollen mit Ihrer achtsamen Wahrnehmung im Hier und Jetzt bleiben und dem Autopiloten keine Chance geben.

  • Geschirr spülen
  • Wäsche bügeln
  • Staub wischen


Wirkung: Die Konzentrationsfähigkeit nimmt zu. Ihre Patient:innen erhalten sich auch in herausfordernden Situationen eine selbstfürsorgliche Handlungs- und Denkweise.

Ob Achtsamkeit als Selbsterfahrung oder Impulse für die Achtsamkeitsübungen für Ihre Patient:innen – ich hoffe Sie konnten mit diesem Blogbeitrag das Hier und Jetzt aktiver nutzen.

Literatur

Schug, S. (2025). Im Meer des Alltags ankern. Achtsam innehalten und Kraft schöpfen. Weinheim: Beltz.

Die Autorin

Susanne Schug, B.A., ist pädagogische Mitarbeiterin an den Pflegeschulen der UKSH Akademie gGmbH, Campus Lübeck. Zuvor leitete Sie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Zentrum für Integrative Psychiatrie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, viele Jahre als Pflegekoordinatorin die Therapeutenfortbildung zum Thema »Achtsamkeit«. Bei Beltz erschien von ihr 2025 das Selbsthilfebuch »Im Meer des Alltags ankern«.

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