Kind sucht »neue Eltern«: Bindungsarbeit in der Psychotherapie

Kinder, die ein unbefriedigtes Bindungsbedürfnis aufweisen, können dieses Bedürfnis oft auf ihre Therapeut:innen übertragen. Für Kinder- und Jugendlichentherapeut:innen besteht daher die Herausforderung darin, ein Beziehungsangebot zu schaffen, das für die betroffenen Kinder und Jugendlichen hinterfragbar und transparent ist. Ziel ist es, ihnen zu helfen, engere Bindungen wieder aufnehmen zu können, ohne dass die therapeutischen Bezugspersonen zu idealisierten »neuen Eltern« werden. Dies könnte das Bindungsbedürfnis der Kinder weiter verletzen. In diesem Blogbeitrag wird ein Überblick über angemessene Ansätze zum Umgang mit dieser Situation gegeben.

Ein Fallbeispiel

Der viereinhalbjährige Erik ist ein gewitzter, charmanter kleiner Kerl. In seiner Herkunftsfamilie wurde er massiv vernachlässigt. Er lebt nun seit acht Monaten in einem Kinderheim. In der Zwischenzeit wurde in einem Gutachten festgestellt, dass die Eltern vermutlich aufgrund ausgeprägter chronischer Probleme auch dauerhaft nicht erziehungsfähig sein werden. Aufgrund einiger emotionaler Probleme und Verhaltensauffälligkeiten kommt Erik einmal wöchentlich zu einer Behandlungsstunde. Dort blüht er regelrecht auf. Er freut sich auf die Stunden und wirkt richtig glücklich, wenn die Therapeutin ihn aus dem Wartezimmer abholt. Bringt sie ihn wieder zurück, ist er hingegen sehr verschlossen und wirkt traurig. Die Therapeutin, der der kleine Erik auch immer mehr ans Herz wächst, überlegt, ob sie ihn als Pflegekind aufnehmen möchte.

Privates und Berufliches trennen

Viele von uns sind Erziehungsberater oder Kinderpsychotherapeuten geworden, weil wir Kindern in Not helfen wollen. Wir interessieren uns für sie, wir mögen sie, wir fühlen mit ihnen. Vielleicht ist es auch sehr schwierig mitanzusehen, wie »so ein liebenswertes Kind« von den eigenen Eltern vernachlässigt wird, im Heim landet usw. Und sicher kann sich da schnell die Ansicht herausbilden, dass wir eigentlich die »besseren« Eltern wären, genau die Personen, die dieses Kind braucht. In der Supervision konnten wir erleben, dass Kolleginnen und Kollegen in der Arbeit mit traumatisierten, vernachlässigten Kindern die eigene professionelle Distanz zu verlieren drohten. Die eine oder andere Kollegin, selbst kinderlos, aber kinderliebend, äußerte in der Supervision den emotional gut nachvollziehbaren Wunsch, ein bestimmtes Therapiekind z. B. als Pflegekind oder Adoptivkind aufnehmen zu wollen – so zum Beispiel in Eriks Fall. Abgesehen davon, dass dies dem Abstinenz-Gebot der Berufsordnungen der Landespsychotherapeutenkammern widerspricht (vgl. § 6 der Musterberufsordnung der Bundespsychotherapeutenkammer; BPtK, 2014), halten wir dies auch für eine problematische Verquickung professionellen Handelns mit privaten Motiven. (…) Wir gehen davon aus, dass solche Prozesse risikoreich sind, weil sie möglicherweise zu beruflich falschen Entscheidungen und Vorgehensweisen führen können, und empfehlen, einen eigenen Wunsch nach Pflege- oder Adoptivkindern in dem üblichen Rahmen (über die entsprechenden Dienste) anzugehen und beruflich initiierte Kontakte auch auf professioneller Basis zu belassen.

Klarheit beim Beziehungsaufbau und der Stundengestaltung

(…) Die Gefahr, dass ein Kind sich so eng an seine Beraterin bindet, dass es sich eine Eltern-Kind-Beziehung herbeisehnt, wird dann sicherlich geringer sein, wenn die Beraterin ihre Rolle von Beginn an klar kommuniziert und wenn sie auch durch ihr Verhalten stets deutlich macht, dass die besondere therapeutische Beziehung einen festen Rahmen hat. Die verbale Klärung beinhaltet konkrete Aussagen dazu, welchem Zweck die gemeinsamen Termine dienen. So klärt die Beraterin möglicherweise schon zu Beginn des Beratungsprozesses das Kind darüber auf, dass sie hier arbeitet, dass sie mit vielen Kindern zusammen ist, die Probleme haben, und dass es ihre Aufgabe ist, diesen Kindern zu helfen. Je mehr durch klare Strukturen und von Alltagsbeziehungen abweichende Aspekte in der Beratung bzw. Therapie umgesetzt werden, desto weniger wird das Kind verführt sein, die therapeutische Beziehung wie eine Eltern-Kind-Beziehung zu erleben.

Wertschätzende Abgrenzung von weitergehenden Beziehungsangeboten

Wenn Kinder verbal oder nonverbal deutlich machen, dass sie die Grenze der therapeutischen Beziehung überschreiten wollen , etwa indem sie traurig auf das Ende von Therapiestunden reagieren oder indem sie ihren Wunsch nach einer anderen Beziehungsform ausdrücken (»Ich fände das schön, wenn du mein Papa würdest«), so ist dies zunächst einmal kein »Drama«, sondern eine mögliche Folge des besonderen Beziehungsangebots, welches die Kinder in der Therapie erhalten. Andererseits besteht die Gefahr, dass das Kind unter dem Abschluss der Therapie leidet, sofern dieser nicht sorgsam vorbereitet wird. Um unrealistischen Wünschen keinen weiteren Nährboden zu bieten, sollte die Reaktion darauf wertschätzend und klar sein und Anschlussmöglichkeiten für die weitere Arbeit bieten. Je nach Alter des Kindes und den spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Therapie könnte eine Antwort auf den geäußerten Wunsch einer Eltern-Kind-Beziehung zum Beispiel zunächst lauten:

»Du wünschst dir jemanden, der immer mit dir spielt und für dich da ist, ja? Das kann ich gut verstehen, und ich finde es sehr schön, dass dir unser Zusammensein so sehr gefällt, dass du manchmal denkst, mit mir könnte das gehen. Ich freu mich auch immer auf die Stunden mit dir. Mir gefällt zum Beispiel besonders, wenn wir zusammen Memory spielen, da hast du so einen Riesenspaß, dass ich mich immer total mit dir freuen kann.«

Ist die Perspektive für das Kind die Rückkehr in den Haushalt der leiblichen Eltern, so könnte etwa so fortgefahren werden:

»Weißt du, Eltern kann man ja nicht so austauschen. Wir arbeiten ja auch mit deinen Eltern daran, dass sie vieles anders machen, wenn du wieder zu ihnen kommst. Was müsste sich denn bei Mama und Papa ändern, damit du dich dort so richtig wohl fühlen könntest?«

Wenn die Perspektive des Kindes hingegen die Vermittlung in eine Pflegefamilie ist, und das Kind darüber Bescheid weiß (in Kinderheimen lebende Kinder kennen oft viele Beispiele von anderen Kindern, die vom Heim zu »neuen Eltern« umziehen), dann könnte etwa folgendermaßen fortgefahren werden:

»Das geht ja nicht, dass ich das mache, das darf man gar nicht, wenn man hier arbeitet.«

Das hört sich in den Ohren der Erwachsenen möglicherweise nach einer Ausrede an, bei Kindern im Vorschulalter muss aber mit sehr einfachen Begründungen gearbeitet werden, da sie die schwierige Differenzierung zwischen therapeutischer und privater Beziehung kognitiv-abstrakt noch nicht verstehen können. Sodann könnte aber auch hier der Blick auf die Zukunft gelenkt werden:

»Ach sag mal, was würdest du dir denn von deinen zukünftigen Eltern wünschen? Was sollen die denn mit dir machen?«

Netzwerke aufbauen

Kinder mit »Elternwunsch« haben in der Regel nur ein recht desolates Bindungs- und Beziehungsgefüge in der frühen Kindheit aufbauen können. Die Arbeit mit stark bindungsbelasteten oder bindungsgestörten Kindern muss daher nicht nur zum Ziel haben, eine hilfreiche therapeutische oder beraterische Beziehung aufzubauen, sondern auch an den Beziehungen mit dem umgebenden Umfeld zu arbeiten bzw. dabei helfen, neue Bindungsbeziehungen aufzubauen (Gahleitner, 2017a).

Eigene Supervision

Wenn, wie in Eriks Fall, die Beraterin selbst von der Idee eingenommen ist, einen Klienten als Pflege- oder Adoptivkind aufzunehmen, so sollte sie dies unbedingt in der eigenen Supervision thematisieren. Dabei ist zu überlegen, inwiefern dieser eigene Wunsch die weitere Behandlung beeinträchtigen könnte, aber auch, wie sie zukünftig die Nähe-Distanz-Regulation in der Therapie auch mit anderen Kindern besser in den Griff bekommen kann, sodass sie einerseits die Empathie und Zugewandtheit den Klienten gegenüber behält, andererseits davon aber nicht in der Form »überschwemmt« wird, dass sie ein Kind durch privaten Einsatz »retten« will.

Dos

  • Schaffung einer vertrauensvollen, annehmenden, aber auch transparenten und klar strukturierten Beziehung
  • Wertschätzende, aber dennoch klare Abgrenzung von weitergehenden Beziehungsangeboten
  • Aufgreifen des Bindungswunsches des Kindes durch Klärung der weiteren Lebensperspektive in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen aus der Jugendhilfe
  • Klärung eigener privater Wünsche im privaten Rahmen

Don’ts

  • Unrealistische Versprechungen und Angebote machen oder das Kind im Unklaren lassen, wenn es einen über die beraterisch-therapeutischen Grenzen hinausgehenden Bindungswunsch zeigt
  • Private Wünsche in professionellen Beziehungen verwirklichen wollen

Literatur

Gahleitner, S.B. (2017). Das pädagogisch-therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Trauma- und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen (2. Auflage). Köln: Psychiatrie-Verlag.

Leseprobe aus: Borg-Laufs •Gahleitner •Hungerige (2018): Schwierige Situationen in Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz.

 

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